Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella
im Winter neben unseren Pferden auch die beiden Milchkühe untergebracht, die uns noch geblieben waren. Die Bretterwand hatte zwar fingerbreite Schlitze, durch die der Wind pfiff, dafür war es hier drinnen aber auch nicht völlig dunkel und dank der Tiere immer noch deutlich wärmer als draußen.
Suchend blickte ich mich um. Die vorderen Boxen zur Linken waren mit Werkzeug und Futter für die Tiere gefüllt, in den folgenden standen die Kühe. Die Pferdeboxen rechts waren mit Gegenständen vollgestopft, die auf eine Reparatur warteten. Am anderen Ende war unsere Kutsche geparkt.
Ich entschied mich, für unseren Gast ein Lager im Heuvorrat in einer der Boxen weiter vorne einzurichten. Auf dem Kutschbock fand ich eine alte, schmierige Baumwolldecke. Die roch zwar penetrant nach Pferdeschweiß, würde die Verletzte aber warmhalten.
Die Kleine vom Pferd herunterzuziehen, war bedeutend leichter, als sie hinaufzuschaffen. In einem letzten Kraftakt manövrierte ich sie auf ihr improvisiertes Krankenlager und legte sie auf den Bauch.
Unschlüssig blieb ich in der Stallgasse stehen. Was jetzt? Bis hierhin hatte ich mich darauf konzentriert, das Mädchen aus der mörderischen Kälte in Sicherheit zu bringen. Weiter hatte ich noch nicht geplant. Ich schielte auf die blutigen Flecken, die sich auf dem Rücken ihres Hemds abzeichneten. Meine älteste Schwester Charlotte war diejenige, die sich mit Verbänden auskannte und sich stets geduldig um die kleineren und größeren Blessuren ihrer fünf Geschwister kümmerte. Wie würde sie jetzt vorgehen? Vermutlich erst mal das Problem eingrenzen und herausfinden, wie schwer die Verletzung tatsächlich war. Ich überwand meine Scheu; trat zu dem Mädchen; strich ihr sanft über die Wange. Was ich jetzt tun musste, war bestimmt schmerzhaft für sie. Ich zog mein Jagdmesser und schlitzte ihr Hemd von der Hüfte bis zum Kragen auf. Der verkrustete Stoff klebte an ihrer Wunde. Während ich ihn behutsam wegzupfte, wimmerte das Mädchen, noch immer ohne Bewusstsein. Endlich war es geschafft. Als ich die Fetzen zur Seite schlug, enthüllten sich fünf braunrote Krater, die von ihrer rechten Schulter quer über den Rücken liefen. Darunter leuchteten helle Geschwülste von älteren, längst verheilten Verletzungen. Entsetzt sog ich die Luft ein und unterdrückte die Tränen, die mir in die Augen traten. Ein Indianer weinte nicht.
Dass mancher Sklavenbesitzer die Peitsche gebrauchte, war mir klar. Aber was musste ein Kind verbrechen, um so eine Behandlung zu rechtfertigen? Hastig schlug ich den Stoff über den grausamen Anblick und zog die Decke über die mageren Schultern. Wenn ich die Wunden verband, würde ich bestimmt alles verschlimmern. Ich brauchte Hilfe.
So schlüpfte ich aus dem Stall und überquerte mit langen Schritten den eisigen Vorplatz bis zum Ranchhaus. Vor der Tür zögerte ich und sah hinunter auf das magere Kaninchen, das mich so viele Stunden gekostet hatte. Würde das bisschen Fleisch ausreichen, um Ma zu besänftigen? Wie würde sie reagieren, wenn sie von dem Mädchen erfuhr? Allein der Gedanke daran drehte mir den Magen um.
Ich war vielleicht sechs Jahre alt gewesen, als ich mit schlammiger Kriegsbemalung und einer Feder im Haar ins Haus gekommen war und Ma stolz meinen ersten Eselhasen hingehalten hatte. Er lebte noch, zappelte in meinen Händen und kitzelte mich mit seinem weichen Fell. Eine Ewigkeit hatte ich vor dem Gebüsch auf der Lauer gelegen. Als er aufgetaucht war, hatte ich mich auf ihn gestürzt, noch bevor er den ersten Haken hatte schlagen können. Aber danach hatte ich es nicht übers Herz gebracht, ihm den Hals umzudrehen.
»Was soll das?«, hatte Ma mich angefahren.
»Ich bin ein Mohikaner!«, verkündete ich, immer noch strahlend. »Heute können wir Fleisch in den Eintopf tun!«
»Hab ich dich nicht zum Wasserholen geschickt? Wo ist der Eimer? Hast du wenigstens die Hühner gefüttert?«
Schuldbewusst sanken meine Schultern herab. Die Hühner hatte ich völlig vergessen, nachdem ich mir die Feder ins Haar gesteckt hatte und der Hase vorbeigehoppelt war.
Ma lief rot an vor Wut. Mit einem langen Schritt trat sie auf mich zu und verpasste mir eine Ohrfeige. Vor Schreck ließ ich den Hasen los, der sofort die Flucht ins Freie ergriff. Mit Tränen in den Augen sah ich ihm hinterher.
»Nie kann man sich auf dich verlassen«, raunzte Ma und wandte mir den Rücken zu.
Ihre Worte stachen zu wie ein Skorpion – ohne Vorwarnung und giftig. Sie brannten schlimmer als meine Wange. Unsicher berührte ich die Stelle, an der sie mich getroffen hatte, und starrte Ma an.
In diesem Moment hörte ich Pa in meinem Rücken: »Was hat das Kind denn jetzt wieder angestellt?«
»Es ist zu nichts zu gebrauchen. Wasser holen und Hühner füttern. Was ist daran so schwer? Das kommt nur daher, weil du den Kindern mit deinen Indianergeschichten Flausen in den Kopf setzt.«
Ein kleiner Funke der Rebellion entzündete sich in mir. Dass ich meine Aufgaben vergessen hatte, war allein meine Schuld! »Pa kann nichts dafür! Ich …«
Bevor ich fortfahren konnte, schob mich Pa nach draußen. »Komm, ich helfe dir mit den Wassereimern. Besser wir ärgern deine Mutter heute nicht mehr.« Verschwörerisch zwinkerte er mir zu. So leise, dass Ma uns nicht hören konnte, flüsterte er: »Wenn du brav bist, erzähle ich dir als Belohnung die Geschichte, wie wir zwei Schwestern auf einem Hausboot gegen einen ganzen Stamm Mingos verteidigt haben!«
Am Abend hatten wir Kinder noch lange wachgelegen und gelauscht, wie unsere Eltern sich unten in der Stube anschrien. Seit wir nach Texas gezogen waren, kam das immer häufiger vor. Ma nannte Pa einen Träumer und er warf ihr vor, dass sie nicht an ihn glauben würde.
»Erzähl den Kindern wenigstens keinen solchen Blödsinn mehr!«, keifte Ma. »Du hast Nicky heute gesehen! Läuft herum wie ein dreckiger Indianer!«
Meine Geschwister starrten mich vorwurfsvoll an und ich kroch tiefer unter meine Decke. Es polterte fürchterlich, dann wurde die Tür zugeschlagen und es war ruhig.
»Du bist schuld«, zischte mir meine Zwillingsschwester Mary ins Ohr und drehte sich weg.
Als die Atemzüge meiner Geschwister ruhig wurden, lag ich immer noch hellwach auf meiner Pritsche. Ab jetzt würde ich alles tun, was Ma mir auftrug, schwor ich mir. Nie wieder wollte ich der Grund für einen Streit zwischen meinen Eltern sein. Ich würde Ma gegenüber genauso gehorsam sein wie Uncas gegenüber seinem Vater Chingachgook.
Doch egal, was ich seitdem versucht hatte, für Ma war ich eine Enttäuschung geblieben. Seit ich ihr über den Kopf gewachsen war, schlug sie mich nicht mehr oft, aber ihre kalten Blicke trafen mich ebenso hart.
Und heute hatte ich ein neues Ärgernis angeschleppt. Aber besser, ich erzählte ihr jetzt von dem Mädchen, bevor meine Familie es zufällig herausfand. Beherzt stieß ich die schwere Holztür auf und trat ein.
Mit einem Blick hatte ich den Wohnraum überblickt. Fünf Blondschöpfe, die sich so sehr von meinen eigenen rabenschwarzen Haaren unterschieden, waren über ihre jeweilige Tätigkeit gebeugt. Früher hatte ich mir oft erträumt, dass ich gar nicht wirklich das Kind meiner Eltern war. Vielleicht war ich in einem Binsenkörbchen am Ufer des Mississippis angespült worden? Hatte ich in Wirklichkeit indianische Ahnen? Aber welcher Indianer hatte Locken, blaue Augen und Sommersprossen? Letztlich hatte ich mich damit abgefunden. Ich gehörte in diese Familie.
Mein Vater saß in seinem Schaukelstuhl am offenen Kamin und schnitzte unbeholfen am neuen Stiel für unsere Axt. Wahrscheinlich hatte er wieder zu viel getrunken. Früher hatte er wunderschöne Spielzeuge aus Holz für uns Kinder gemacht. Dabei hatte er uns Geschichten aus seiner Jugend erzählt. Er war von zu Hause weggelaufen und Fallensteller bei den großen Seen geworden. Eine Zeit lang hatte er sogar unter den Indianern gelebt und mit dem Trapper Lederstrumpf und seinen indianischen Freunden Uncas und Chingachgook aufregende Abenteuer erlebt. James, Andrew, Mary und ich hatten das Gehörte immer nachgespielt und weitergesponnen. Meistens hatte Andrew Mary entführt und James und ich hatten sie dann vor grausamen Qualen am Marterpfahl gerettet. Charlotte waren unsere Spiele immer zu wild gewesen und Ben war damals noch zu klein. Später, als Ma ihn mit uns hatte ziehen lassen, durfte er manchmal als Jagdhund mitlaufen.
Seit seinem Unfall vor sechs Jahren hatte Vater selten ein freundliches Wort – oder überhaupt ein Wort – für uns übrig. Dass er mit seinem verkrüppelten Bein auf kein Pferd mehr steigen