Nicht alle sehen gleich aus. Monica Maier

Nicht alle sehen gleich aus - Monica Maier


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ihn liebevoll und etwas neidisch an.

      „Wie lange haben sie gestern geflogen?“, fragte er anteilnehmend.

      Sie erwiderte: „Bis um 1 Uhr, da habe ich immer noch was gehört und muss dann irgendwann eingeschlafen sein. Es nervt mich! Ab 23 Uhr ist doch eigentlich Nachtflugverbot, oder? Die da oben machen wirklich, was sie wollen.“

      Karim setzte sich neben sie, schmierte seinen Toast und meinte: „Jetzt reg dich nicht immer so auf, dann müssen wir eben eine neue Wohnung suchen!“

      Annikas Laune war wegen der Immobilienblase und -misere in der Hauptstadt schon länger unten und sie erinnerte ihn daran, wie schwer es geworden wäre, in Berlin bezahlbaren Wohnraum zu finden. Dann beendete sie die Unterhaltung mit den Worten: „Ich muss gleich los, es gibt übrigens nicht mehr viel im Kühlschrank, falls du zufällig einkaufen gehen willst?!“

      Sie bejahte, stand auf, warf ihre langen dunkelbraunen Haare nach hinten, zog sich im Schlafzimmer einen roten Rock und einen weißen Pullover an und packte ihre Tasche mit den nötigen Unterrichtsbüchern zusammen. Denn sie mochte farbige Kleidung, vor allem im Herbst und dann in der Winterzeit, wenn fast alle auf Dunkel und Schwarz zu setzen schienen. Heute ging sie zurück in ihren Deutschkurs bei einem der großen Berliner Bildungsträger. Während ihres zehntägigen Urlaubs war sie von einer Kollegin vertreten worden. Deren E-Mail zur Übergabe war schon am Freitag eingetroffen. Annika wusste, welchen Stoff sie durchgenommen hatte, aber sehr vorbereitet für den Unterricht war sie wegen der Rückreise heute nicht. Das fand sie ausnahmsweise in Ordnung. Noch ein Kuss für Karim und ein Blick in den marokkanischen Spiegel im Flur an der Wand. Dann fiel die Wohnungstür hinter Annika ins Schloss.

      Kaum im Treppenhaus tönte ihr ein „Jutn Morjen ohne Sorjen, wie war der Urlaub?“ entgegen. Ihre gleichaltrige Nachbarin Susanne aus demselben Stockwerk gegenüber, die während ihrer Abwesenheit ihre Blumen gegossen hatte sowie für das Leeren des Briefkastens zuständig gewesen war, kam mit Brötchen vom Bäcker die Stufen hoch.

      „Ah, hallo, guten Morgen! Es war toll, super Wetter. Nochmal vielen Dank für deine Hilfe!“, antwortete Annika in Eile. Sie war spät dran, denn um 8:30 Uhr, also in genau einer Stunde, ging der Kurs schon los und sie musste die Öffentlichen Verkehrsmittel nehmen. „Ich habe heute schlecht geschlafen, sorry, kann noch nicht so wach denken, aber danke, dass du die Post und die Blumen gemacht hast“, sagte sie.

      „Hoffentlich nich der Fluglärm?“, fragte Susanne, was Annika sofort bejahte.

      „Die da oben machen echt, was sie wollen. So eine Vetternwirtschaft! Ick hab ja jesehn, dass du ooch den gleichen Brief bekommen hast. Der Senat will wieder jejen Tegel unterschreiben lassen und is doch klar, dass nix dabei rumkommt. Bringt doch allet nüscht!“, redete sich Susanne in ihrem Brandenburger Akzent in Rage, während Annika dazu nickte und hinzufügte: „Nicht in diesem Jahrzehnt. Ich muss leider los!“

      „Lass uns auf n Kaffee treffen die Tage und dann quatschen, okay?“, schlug Susanne vor.

      „Machen wir“, meinte Annika und lief schon die Treppe runter.

      Diese und vielleicht noch eine Generation dauerte es bestimmt noch, bis Deutschland zu einem einheitlichen Nationalgefühl die hundertprozentige Chance haben würde, dachte sie. Zu viele negative Energien wegen der schlecht gelaufenen Wende und der momentanen neoliberalen EU-Politik, die Richtlinien vorgab, schwirrten herum und verbreiteten Rechtspopulismus und Leiden. Die Leute wollten ihr eigenes Ding machen und nicht nur gesagt bekommen, wo es lang ging. Dass die DDR 1989 finanziell am Ende war, wurde oft vergessen. Die Atmosphäre im Land sei nach 2015 – und davor schon 2008 zur Finanzkrise – ob West oder Ost den Bach und die Panke hinuntergegangen, meinte Susanne immer. Die Jammerer gegen die Regierung von heute seien dieselben oder dieselbe Sorte Mensch, die damals in der DDR schon gejammert hätten. Ohne etwas dagegen zu unternehmen, sagte sich Annika dann immer, wenn sie sich sahen. Die, die damals den Mund aufgemacht und Widerstand gewagt hatten, kamen in den Knast, erhielten Repressalien aller Art und wurden psychisch fertig gemacht. Glück hatte der, dessen Ausreiseantrag angenommen wurde und dessen Familie nicht darunter leiden musste. Aber gab es so was überhaupt, musste sie sich fragen.

      Es war Annika stets wichtig, in die Hausgemeinschaft, in die sie vor drei Jahren aus dem arabisch-türkischen und früheren Gastarbeiterstadtbezirk Kreuzberg wegen einer besseren Wohnung gezogen waren, integriert zu sein. Als Wessi kam sie gut mit ihrem ostdeutsch geprägten Haus und Kiez klar. In Pankow gab es jedenfalls gefühlt so gut wie keine Gastarbeitersozialisierung, der Stadtteil war soziokulturell anders geprägt, aber Karim hatte wegen seines offenen Charakters und seiner freundlichen Art zum Glück keinerlei Probleme der Akzeptanz, sie waren ja immerhin in einer Hauptstadt. Die Leute im Haus hielten, ob jung oder alt, gegen das Millionengrab des seit Jahren nicht fertiggestellten Flughafens BER im Süden Berlins zusammen. Vereint gegen den Flughafengrößenwahn, die Vetternwirtschaft und die Seilschaften der teils dürftigen Berliner Rechtsprechung. Die Brandschutzanlage funktionierte 2011 noch nicht, und man hätte zur geplanten Eröffnung damals Hunderte von Security-Leuten einstellen müssen, um die Türen im Falle eines Brandes zukünftig per Hand aufzumachen. Auch im Architektenbüro hatte man das Datum platzen lassen und nicht für den Eröffnungstermin unterzeichnet. Der damalige Bürgermeister hatte alle Verantwortlichen kurzentschlossen gefeuert, wodurch er sie nicht mehr für den Schaden belangen konnte. Was denken die sich eigentlich, schwirrte der Deutschdozentin auf ihrem Weg zur Arbeit weiter durch den Kopf. Nichts? Wenn sie das gewusst hätte, dass der Fluglärm erstmal bleibt, wäre sie wirklich nicht hierhergezogen.

      Disharmonischer Umgangston

      Annika drückte unten an der Haustür angekommen die Klinke herunter und trat flott auf die befahrene Straße. Dass schon wieder ein Billigflieger über ihr in einer der angesagtesten europäischen Partyhauptstädte hinwegdüste, zeigte ihr erneut, wie gut das neben den Start-up-Unternehmen mit größte Geschäftsmodell der an Industrie armen Stadt, nämlich der Tourismus, um diese frühe Uhrzeit funktionierte. Sie schüttelte den Kopf. Auch die, die nur ein Party- und vielleicht Drogenwochenende in Berlin verbringen wollten, waren erfahrungsgemäß darunter. Klar, Drogen gab es überall, aber der Senat tat Annikas Meinung nach nicht genug dagegen. Leider hatte die Stadtentwicklung rein gar nichts davon, ganz im Gegenteil: Nach dem Zudröhnen kam die Katastrophe in Kopf und ganzem Körper.

      Vor dem U-Bahn-Eingang standen schon ein paar Betrunkene. Das war vor ein paar Monaten noch nicht so, woher die Obdachlosen wohl auf einmal alle kamen? Manchmal hätte sie gerne das Ordnungsamt angerufen, aber das in den Medien vielbeschworene Prekariat gehörte zu Großstädten einfach dazu. Sie ignorierte die Leute einfach und betrat den U-Bahnhof. Bis vor Kurzem war sie fast selbst noch ein Teil desselben gewesen, wenn auch auf andere Art als diese Alkoholleichen hier. Begriffe waren oft sehr dehnbar, dachte sie sich in typischer Deutschlehrerinmanier.

      Nach einigen Minuten verschwand Annika in ihrem öffentlichen Verkehrsmittel unterirdisch durch den Prenzlauer Berg. Der Wechsel von einer teils älteren Bewohnerstruktur im Norden Pankows zur hipperen und jüngeren in dem direkt nach der Wende gentrifizierten südlicheren Prenzlauer Berg war deutlich festzustellen. Der kam ihr manchmal sogar etwas künstlich vor. Die ältere Bevölkerung war in den 90ern von dort ins nördlichere Berlin vertrieben worden, weil sie sich die Mieten plötzlich nicht mehr leisten konnte. Durch Urlaub und Ortswechsel sah man die Dinge wieder klar und realistisch, dachte Annika, die sich gerade sehr erholt fühlte.

      Wer dem Trott des Berliner Nahverkehrs entfliehen wollte, der den Osten, Westen, Süden und Norden vereinte, fuhr Sommer wie Winter lieber auf dem Rad oder im Auto zur Arbeit. Ihr war der Weg zum Bildungsträger etwas zu weit. Aggressiver Verkehr, Ausfälle der Berliner Verkehrsbetriebe oder der Deutschen Bahn gehörten zum Alltag, was den Umgangston in der Stadt zurzeit oft verschärfte. Deutschland war nicht mehr, was es vor Privatisierungen der Bahn und Krankenhäuser, dem Euro und auch der Finanz- und Flüchtlingskrise einmal gewesen war. Die Leute in der Hauptstadt schienen im Moment gereizter als früher. Die Globalisierung stresste bekanntlich auch und das Smartphone ja ebenso. Wenn die betagtere Liga der Politiker nicht schnell genug mitkam, ein digitaler oder analoger Fehler wie auch ein wenig visionärer Misstritt nach dem anderen passierte,


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