Nicht alle sehen gleich aus. Monica Maier
und Nachbarn waren für heute eingeladen.
„Heute will ich lieber mal im Meer schwimmen und etwas wellenreiten. Machen wir das?“, meinte sie zu Karim, der sofort einverstanden war. Somit konnte Annika hier von Arbeit und Großstadt Berlin nach und nach abschalten und die Seele richtig baumeln lassen. Sie hatte vor, ihren restlichen Urlaub in der Sonne wirklich zu genießen, zehn Tage gingen ja erfahrungsgemäß vorbei wie im Fluge.
Als sie auf dem Surfbrett im Wasser lag und gegen die weißen Schaumkronen der niedrigen Wellen anpaddelte um raus auf eine größere aufzuschwimmen, musste sie wieder an das Schlauchboot und den Malier denken. Das schockierende Erlebnis hatte sie eigentlich recht gut verarbeitet, nicht zuletzt, weil sie auch von den Verwandten so gut aufgefangen worden war. Sie verdrängte die Erinnerung und wendete schnell das Board, um zu versuchen, die nächste hohe Welle zu nehmen. Es klappte, sie stand zumindest fast 20 Sekunden, bevor sie wieder ins atlantikkalte Wasser fiel. Das reichte ihr als ewiger Anfängerin schon.
„Wahrscheinlich gut so, dass Mamadou sich nicht mehr gemeldet hat“, sagte sie später am Strand zu Karim. „Ich lösche jetzt seine Nummer aus dem Handy!“ Sie wollte sich keine Scherereien einhandeln.
„Ich hätte mir die gar nicht erst notiert!“, meinte er. Sein stolzes Volk der Imazighen, was „freies Volk“ bedeutete, hatte das Berberische als Muttersprache, genau gesagt, den Dialekt Tamazight. Er wäre nie auf so ein Boot nach Europa gestiegen. Um 700 wurde seine Heimat Marokko von den Arabern überfallen, die Imazighen wehrten sich damals wie auch im Laufe der Zeit immer wieder gegen diese Eindringlinge, die Islamisierung und deren Sprache. Über Jahrhunderte hinweg ging das dann nicht mehr und das Arabische wurde dann doch irgendwann Amtssprache. Jedes Kind konnte es neben einer der fünf Berbersprachen verstehen. Es gab nämlich noch ein paar weitere Dialekte, je nachdem ob man sich im Norden, in der Mitte oder im Süden des Landes aufhält. Ob die Bezeichnung „Berber“ vom römischen abwertenden „Barbarus“ oder arabischen „al-barbar“ abstammte, war nicht hundertprozentig klar. Man bevorzugte es, mit Imazighen im Plural und Amazigh im Singular angesprochen zu werden und hatte in der zeichenhaften Schrift ein eigenes Symbol dafür.
Annika hatte viel im Internet und bei Karim nachrecherchiert und dabei herausgefunden, dass vor gar nicht allzu langer Zeit im 21. Jahrhundert König und Regierung der Monarchie das marokkanische Tamazight als Amtssprache eingeführt hatten. Französisch wurde in der ehemaligen Kolonie sowieso in der Schule unterrichtet. Karims Vorfahren waren Ureinwohner dieser indigenen Ethnie Marokkos, Algeriens, Malis, Libyens, Tunesiens und teilweise auch Ägyptens, wobei die ihr Angehörigen inzwischen natürlich in die ganze Welt emigriert und verheiratet waren. Da die kinderreiche Generation in seinem Alter oder auch jünger nicht genug Arbeit oder Bildungschancen für einen jeden mitbekommen hatte, betrieben junge Leute normalerweise Familienplanung und Verhütung. Viele Eltern sahen und die Sprösslinge fühlten, wie schwierig oder sogar unmöglich es war, in diesem Land neben einer Ausbildung auch eine gut bezahlte Arbeit sowie eine Absicherung für Krankheit und Alter zu besitzen. Als Kellner verdiente Karim damals an die 1500 Dirham, also ungefähr 150 Euro im Monat. Da musste man im Elternhaus wohnen bleiben, der soziale Aufstieg gestaltete sich schwierig oder erwies sich als einfach nicht machbar. Das gab die Organisation des dortigen Arbeitsmarktes und die momentane Überbevölkerung einfach nicht her. Sicher war einiges davon auch von den Regierenden so gewollt, denn Abkommen zur Grenzsicherung mit europäischen hohen Zahlungen verbunden gab es ja schon. Ob da Korruption im Spiel war? Sicher auch, von kontrolltechnisch leider unbeobachteten Geldflüssen im jeweiligen Land ganz zu schweigen. Es bräuchte mehr Personal, wie es aussah.
„Tanger, danger!“, meinte Yassine zu Annika, als sie am frühen Abend in der Altstadt gemeinsam spazieren gingen, um sich dann noch in ein Café zu setzen. Das war sein marokkanisches Wortspiel, das sie manchmal zu hören bekam.
„Wenn einem zu Tanger ‚Gefahr’ einfällt, was sagt man dann zu Agadir, du Scherzkeks?“, fragte seine inzwischen von der Sonne geröstete braungebrannte Schwiegertochter, deren Schulfranzösisch durch die Marokkoaufenthalte besser geworden war und die in Deutschlehrermanier, wie er bemerkt hatte, immer gerne mit der Sprache spielte.
„Agadir, rien à dire!“, meinte er und auch Karim musste lachen, weil es eben zu der Stadt am Atlantik „nichts dazu zu sagen“ gab. Sie war sehr touristisch und musste nach einem Erdbeben 1960 neu aufgebaut werden, hatte also keine wirklich bemerkenswerte Altstadt wie das berühmte Marrakesch. Nur wer sein Land liebte, wie die beiden Männer, konnte über es lachen und Sprüche klopfen. Sie stand gerade auf dem Schlauch, da fiel ihr nichts Passendes aus Deutschland dazu ein. Zu Casablanca, der größten Stadt Marokkos, kam Yassine „weiße Stadt“ in den Sinn, das klang spanisch. Dort fand sich auf den Straßen dieses mehr arabischen als berberischen Melting Pots der Kulturen alles, sogar manchmal ein Minirock, dachte Annika, denn sie war schon dort. Es gab auf alle Fälle einen Unterschied zwischen Dorf und Städten, wo sich Tradition und Moderne eher die Hand reichten. In kleinen Orten gestaltete sich die Freiheit für die Mädchen schwieriger, vielleicht auch, weil die Leute mehr auf das Gerede der Nachbarn gaben und der Vater leichter ein scharfes Auge auf sie haben konnte? Wenn diese Orte touristisch waren, gaben sich die Leute definitiv offener, weil sie sowieso Übung mit Durchreisenden hatten und an sie gewöhnt waren. Schon immer gab es Bewegung im Land. Auch hier in Tanger, so nahe an Spanien und Europa. Sie blickte auf ihre beiden Nichten, die an dem großen Esstisch dazugekommen waren und jetzt mit einem Avocado Milchshake dasaßen. Annika hing gerade lieber ihren Gedanken nach, als sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Vor der Ehe wollte man sich als junge Frau ausprobieren und musste das manchmal vor den Eltern verheimlichen, falls die nicht so liberal eingestellt waren. Mädchen dabei besonders vor dem strengen Vater, der seine Tochter vor den so gesehenen bösen Männern schützen wollte und den Abnabelungsprozess erst zulassen musste. Je liberaler und weltoffener die Familie, desto moderner und freier konnte sich der Geist der neuen Generation entfalten. Die Berber respektierten ihre Frauen, die im Haus das Sagen hatten. Die Prostitution der Mädchen und Jungs vor allem in den Städten blühte jedoch, weil es eben sonst so wenige oder schlechtbezahlte Jobs gab, sogar Studentinnen gingen ihr in den Bars großer Hotels nach. Aber dazu gehörten Shama und Aisha ja nicht. Annika verstand das Land erst, seit sie auch mit den Frauen hier persönlich zu tun hatte und ihnen näherkam. Wer die Frauen nicht kannte, kapierte ein Land nicht. Aisha musste ihre Gedanken gespürt haben, sie blickte sie an und ein unschuldiges Lächeln huschte über ihr schönes Gesicht.
Berlin im Anflug
Mit Karim saß sie am Sonntag darauf wieder im Flugzeug nach Berlin. Seine Augen überflogen die arabischen Schlagzeilen der Wochenendausgabe einer Tageszeitung eine Sitzreihe vor sich: „Ist das Königreich Marokko korrupt?“, „Ist der König schwul?“, „Ein Helikopter mit Gold im Sudan entdeckt. Gold aus Marokko?“ waren die Themen, die das Geschehen dominierten. Annika döste vor sich hin und blickte ab und zu aus dem Fenster. „Deutschland will wieder mehr Geld in Marokko investieren, deutsche Unternehmer sollen nachhaltig tätig werden“, übersetzte Karim eine weitere Schlagzeile in der Sitzreihe vor sich aus dem Arabischen ins Deutsche und unterbrach ihre Gedanken.
„Geht das als Entwicklungshilfe durch oder ist das reine Geschäftemacherei?“, meinte sie zu ihm. Sie würde Geld nie ohne nachhaltige und gut organisierte Kontrolle in die nordafrikanischen, aber ebenso die südlicheren Länder des Kontinents pumpen. Ihre Meinung kannte er. Das würde bedeuten, dass man genügend Diplomaten und begleitende kontrollierende Bürokratie in Zusammenarbeit mit der Politik vor Ort bräuchte, um sich um die kluge Geldverteilung zu kümmern und Korruption zu unterbinden. Dies war aber nicht unbedingt der Fall. Sie schaute auf ein paar Wolken draußen. Wenn die oben es nicht gebacken kriegten, konnte man nichts anderes als das erwarten, dass diese Leute in einer Mischung aus Verzweiflung, Überlebenstrieb und krimineller verrückter Energie zu dem getrieben wurden, was sie auf dem Meer vor kurzem gerade erlebt hatten. Warum interviewte eigentlich keine deutsche Talkshow einmal Jungs wie diese, die sie da so unverhofft getroffen hatten? Oder den marokkanischen König? Immer die gleichen Gesichter in den deutschen intellektuelleren Fernsehshows.
„Das ist doch immer dasselbe!“, erwiderte Karim. „Wie viele Steuergelder versanden in der Bestechung, wie viele bewirken etwas? Ich hätte