DEBORA. T.D. Amrein
bekam etwas zu fassen, das sich wie ein Besenstiel anfühlte. Er hob es auf, um es genauer zu betrachten.
Das Ding war nicht ganz rund, am oberen Ende war eine deutliche Verdickung zu erkennen. Matthias ließ es entsetzt fallen, als er das "Ding" erkannte. Ein Oberschenkelknochen. Vermutlich war es der einzige Knochen, den er sicher einem Menschen zuordnen konnte. Und ausgerechnet den musste er erwischen, ging ihn durch den Kopf, als er schon wieder draußen war.
Margarethe machte große Augen, als sie ihn sitzen sah. „Wie siehst du den aus, hat es dich verschüttet?“, wollte sie wissen.
Das einzig Erkennbare in seinem Gesicht waren die Augen, der Rest war gleichmäßig schwarz. Immerhin konnte sie deshalb nicht sehen, wie blass er war.
Er schüttelte den Kopf. „Ich war da drin, deshalb.“
„Das wasche ich nicht mehr, das kannst du gleich wegschmeißen!“, schnaubte sie, „und komm ja nicht so in die Wohnung, sonst kannst du etwas erleben!“
Sie machte auf dem Absatz kehrt, laut schimpfend ging sie zurück ins Haus.
Matthias war noch nicht klar, was er tun sollte. Das Loch einfach mit Brettern verschließen, wäre vermutlich das Beste. Aber die Sache würde ihm niemals Ruhe lassen. Vielleicht waren die Knochen schon hunderte Jahre alt, dann wäre es nicht so schlimm.
Schnell verwarf er den Gedanken wieder, die Regale hatten nicht so ausgesehen, als ob sie aus der Steinzeit stammten.
Eine offizielle Grabkammer konnte es auch nicht sein, dann hätte man davon gewusst. Er musste die Polizei verständigen und Margarethe davon erzählen. Dass sie keine Gräber mochte, das wusste er.
Wie sie damit fertig werden würde, dass sie nur wenige Meter von einer Leiche entfernt, jahrelang gewohnt und geschlafen hatte, das würde sich bald zeigen, dachte er.
Brav zog er sich bis auf die Unterhose aus, bevor er die Wohnung betrat. Sie ging ihm sofort aus dem Weg, jedoch sein eigener Anblick im Badezimmerspiegel ließ ihn für einen Moment die Sache vergessen. Frisch geduscht und einigermaßen gefasst schlenderte er zu ihr in die Küche.
Als sie sich schnell aus dem Raum stehlen wollte, packte er sie an den Handgelenken. „Schluss mit dem Theater! Ich muss mit dir reden.“
„Ach ja, über was denn?“, wollte sie wissen.
„Da draußen“, wies er mit der Hand in die Richtung, „habe ich einen alten Keller entdeckt.“
Jetzt hörte sie schon aufmerksamer zu.
„Das ist aber noch nicht alles.“ Sanft schob er sie auf einen Küchenstuhl. „Ich habe einen Knochen gefunden.“
„Einen Knochen“, wiederholte sie.
„Ja, aber nicht irgendeinen, einen Oberschenkelknochen. Da drin liegt eine Leiche!“
Sie brauchte einige Sekunden, um zu verstehen. „Bist du sicher?“, presste sie schließlich hervor.
„Ich fürchte ja“, gab er zurück.
„Dann musst du die Polizei rufen!“
„Ja, gleich, ich wollte es nur dir zuerst sagen.“
„Entschuldige wegen der Wäsche! Ich hatte schon schlechte Laune, das war aber nicht wegen dir. Karin hat vorher ins Bad gekotzt, ich war gerade fertig mit dem Putzen.“
„Schon in Ordnung, mach dir keine Sorgen.“
Matthias hatte schon ein Kabel gezogen und seinen Halogenscheinwerfer installiert, bis zwei Beamte eintrafen, die von Margarethe zur Baustelle geführt wurden.
Der Knochen war deutlich zu erkennen und wenn man wusste, wonach man suchte, konnte man auch den Rest des Skelettes im Staub erkennen.
„Ja, das sind eindeutig menschliche Knochen“, bestätigte der Jüngere der beiden, der als Erster auf die Leiter gestiegen war. „Die dürften allerdings schon eine ganze Weile daliegen“, fügte er noch an.
„Mindestens seit 1948“, bestätigte Matthias, „in diesem Jahr hat mein Vater das Haus gekauft.“
„Der Keller war nicht bekannt?“, fragte der ältere Beamte.
Matthias schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht!“
Der Beamte wandte sich an seinen Kollegen. „Was meinst du, es ist Wochenende? Auf ein oder zwei Tage mehr kommt es jetzt auch nicht mehr an.“
„Denke ich auch. Außerdem ist die Fundstelle gut geschützt. Sie lassen einfach bis Montag niemanden an die Stelle, Herr Brändle. Und am besten behalten Sie das Ganze für sich!“
Matthias nickte.
„Wer weiß bis jetzt davon?“, fragte der Ältere nach.
„Nur ich und meine Frau“, erwiderte Matthias.
„Haben Sie Kinder?“
„Ja.“
„Die haben noch nichts mitbekommen?“
„Nein, aber wenn sie den Streifenwagen gesehen haben, werden sie und die Nachbarn natürlich Fragen stellen“, antwortete Matthias.
„Sagen Sie einfach, wir suchen nach einem angefahrenen Reh“, antwortete der Beamte. „Das fällt nicht auf.“
„Wenn Sie meinen.“
„Am Montag kommen dann allerdings schon eine ganze Menge Leute, nur dass Sie sich darüber klar sind, Herr Brändle.“
„Am Montag muss ich arbeiten“, antwortete er.
„Zumindest am Morgen sollten Sie anwesend sein, sonst riskieren Sie, dass man Sie abholt“, mahnte der Beamte.
Matthias gab sich geschlagen. „Gut, ich bleibe hier.“
„Und verändern Sie bitte nichts mehr!“
„Ich habe versprochen, die Leiter bis Sonntag zurückzubringen“, wand sich Matthias.
„Das ist möglicherweise gar nicht schlecht“, sagte der jüngere Beamte. „Dann kommt auch keiner auf die Idee,
draufzusteigen. Am besten bringen Sie sie heute noch.“
Matthias versprach es, die Beamten verabschiedeten sich, dann war Margarethe auch schon mit dem Abendessen fertig.
Als Matthias später mit der Leiter auf der Schulter die Straße hinabging, waren auffallend viele Nachbarn in den Gärten oder auf ihren Balkonen, die ihn beobachteten. Bald sprach ihn die Erste an. „Was hat denn die Polizei bei Ihnen gemacht?“, wollte sie wissen.
Matthias erklärte, wie geheißen, dass sie nach einem geflohenen, angefahrenen Reh suchten.
Das Interesse verflog sehr schnell, schon nach kurzem Getuschel war fast niemand mehr zu sehen.
Nur einer der Nachbarn, er war nicht draußen gewesen, stützte nachdenklich den Kopf in die Hände. Jetzt war es wohl so weit. Der Tag, vor dem er sich seit bald fünfzig Jahren fürchtete, war heute gekommen.
***
Kommissar Krüger gönnte sich an diesem Freitag etwas früher Feierabend, um seine Partnerin, Elisabeth Graßel von der Arbeit abzuholen. Zu Fuß. Er liebte es mit ihr Hand in Hand durch Freiburg zu schlendern.
Etwas mehr als ein Jahr wohnten sie jetzt zusammen. Sie hatte seine Vorstellung von Frauen völlig verändert, ließ sich nicht einordnen und verlangte ihm viel ab. Trotzdem war Krüger noch nie so glücklich in einer Beziehung gewesen. Egal, was sie wollte, sie war es ihm wert.
Meistens bat er sie unterwegs in ein Café, denn dort hatte er ihre ganze Aufmerksamkeit. Zu Hause blieb sie kaum länger als ein paar Minuten sitzen, immer war noch etwas zu tun, dass sie nicht lassen konnte.
Vor der Stadtbibliothek, wo sie arbeitete, wartete er geduldig, bis sie erschien.
Zusammen mit einer Kollegin eifrig im Gespräch trat sie