Breathe. Elena MacKenzie
in einem Zweikampf töten. Nicht hinterrücks ermorden. Nur er und ich, so wie es unsere Gesetze sind. Aber er hat mir die Chance dazu verweigert. Auch weil mir das Recht dazu fehlt, ihn herauszufordern.
Also muss er den Schmerz über seinen Verrat an unserer Familie, den ich empfinde, auf eine andere Weise erfahren. Ich will, dass er leidet. Ich will, dass er innerlich zerbricht. Ich will ihn fühlen lassen, was ich fühle, jetzt wo ich nichts mehr habe. Nicht einmal mehr den Clan. Und töten ist alles, was ich kenne, was ich je gelernt habe. Also ist das der einzige Weg, ihm klarzumachen, dass er einen Fehler begangen hat. Der einzige Weg, um ihm zu zeigen, dass er nicht tun kann, was er getan hat.
Ich gehe um den Wagen herum zur Fahrertür, reiße sie auf und richte meine Waffe auf sie. »Aussteigen«, sage ich hart, packe mit der freien Hand ihren Arm und reiße sie aus dem Auto. Ich ignoriere ihre weit aufgerissenen Augen und zerre sie in das Scheinwerferlicht, dann stoße ich sie auf ihre Knie und richte die Waffe wieder auf sie. Meine Hände zittern. Meine Knie zittern. Mein Herz rast. Adrenalin peitscht durch meine Venen. Einen Menschen zu töten, löst die unterschiedlichsten Emotionen in mir aus. Beim ersten Mal habe ich gezittert, geheult und mich mehrmals davor und danach übergeben. Beim nächsten Mal hat sich mein Körper, jeder Muskel, jede Zelle angefühlt, als wäre ein Truck über mich hinweggerollt. Beim dritten Mal habe ich gar nichts gefühlt. Und jetzt? Jetzt brennt unbändige Wut auf mich, sie und ihren Vater in mir. Nein, ich will das hier nicht tun. Aber ich muss. Ich muss alles tun, um Sherwood dazu zu bringen, sich auf mich zu konzentrieren. Damit er keine Sekunde mehr an Sam denkt. Sherwood muss mich jagen.
Sie kniet vor mir, ihr Blick verfinstert sich, wird regelrecht hart und zornig. Sie wirkt, als hätte sie weniger Angst als ich in diesem Augenblick. Und das macht mich fertig.
»Schieß schon«, sagt sie herausfordernd, ihr Blick glüht vor Wut. Ich wusste, sie würde nicht flehen. In dem Punkt hat sie mich nicht enttäuscht. Aber diesen Mut, diese Stärke hätte ich nicht erwartet. Als wäre sie eine von uns. Was sie nicht ist. Weil es unmöglich ist.
Ich stehe da, die Waffe auf ihren Kopf gerichtet. Sie kniet, das Kinn stolz vorgereckt, blickt sie zu mir auf. In ihrem Blick nichts weiter als eisige Härte. Als würde sie das hier jeden Tag erleben und es könnte sie nicht mehr überraschen. Ich konzentriere mich auf das Blut auf dem Körper meiner Mutter und krame jede Einzelheit aus meinem Gedächtnis hervor: Ihre toten Augen, ihre zerrissene Kleidung. Ich rufe mir den Geruch von Blut und Erbrochenem zurück ins Gedächtnis und die Gefühle, die mich überwältigt haben, als ich sie so gefunden habe. Ihr Oberkörper war aufgerissen, ihre Gedärme herausgerissen, ihr Blick noch immer entsetzt. Ich konzentriere mich auf meine Wut und meinen Hass, den Schmerz, und versuche nicht, Ravens Gesicht zu sehen, sondern seins, auf das ich ziele.
»Worauf wartest du?«, schreit sie mich an. »Ich werde nicht betteln, vergiss es.« Sie spuckt mir vor die Füße.
Ihr Mut erschüttert mich. Und er nimmt mir die Luft zum Atmen. Zerreißt meine Wut regelrecht. Meine Hände zittern. Eigentlich tun sie das nie.
Mein Blick fällt auf das Grim Wolves Color auf der Innenseite meines Unterarms. Ich war einmal stolz, ein Teil des Clubs zu sein. Sherwood hat es zu einer großen Ehre gemacht, Mitglied in seinem MC zu sein. Und ich hatte mir nach drei Jahren als Vollstrecker seiner Urteile diese Ehre verdient. Ich hatte für ihn Abtrünnige gejagt und die getötet, die sich dem Clan und seinen Regeln nicht unterwerfen wollten. In den Augen der Abtrünnigen bin ich das größere Monster. Ein Verräter. Aber ich habe diese Aufgabe nie hinterfragt. Jeder Befehl meines Präsidenten war ein Befehl, dem ich gefolgt bin. So wurde ich ausgebildet.
Ich stelle mir vor, wie es sich anfühlen wird, Sherwood ein Foto von ihrer Leiche zu schicken. Aber diese Vorstellung fühlt sich nicht so an, wie ich erwartet hätte. Nicht, als könnte ich besser atmen, wenn ich sie erst getötet habe. Jetzt bin ich derjenige, der zweifelt. Und das alles wegen ihr. Ich wünschte, ich hätte sie sofort getötet, als ich sie zum ersten Mal in der Bar gesehen habe. Spätestens, als mir klar wurde, dass ihre Mutter nicht mehr auftauchen wird. Stattdessen habe ich zugelassen, dass sie mich ablenkt. Mich zögern lässt und sogar die Dunkelheit in mir anspricht.
Sie schnaubt abfällig, als ich die Waffe sinken lasse und steht auf. Ich stecke die Waffe weg, sie kommt auf mich zu und donnert mir eine recht beeindruckende Faust gegen mein Kinn. »War das jetzt ein Witz?«, will sie wissen und stapft an mir vorbei zum Auto. »Du kannst mich mal, ich fahr ohne dich weiter.«
»War es nicht«, sage ich und hole die Glock wieder hervor. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tue. Warum ich es mir anders überlegt habe. Ich weiß nur, ich kann sie nicht gehen lassen. Ich trete nah hinter sie, bevor sie einsteigen kann, und drücke ihren Körper mit meinem gegen den Pick-up. Der Lauf meiner Glock drückt gegen ihre Schläfe. Ich atme tief ihren süßen Geruch nach Frau ein. Was tut sie mit mir? Wieso kann ich sie nicht töten, obwohl ich nichts mehr will als das? Ich will meine Rache. Ihr Blut für das meiner Mutter. Ich will, dass Sherwood mich durch das ganze Land jagt, damit Will Zeit hat, Sam zu verstecken, wo Sherwood ihn niemals zwischen die Finger bekommen wird. Ich vergrabe meine Nase in ihrem Haar und treffe eine Entscheidung, die ich wahrscheinlich noch bereuen werde. Aber jede verdammte Zelle in meinem Körper verlangt danach, sie nah bei mir zu behalten. Ich muss sie gar nicht töten, um zu bekommen, was ich will. Sie muss nur bei mir bleiben. »Ich werde dich nicht töten, aber ich lasse dich auch nicht entkommen.«
»Fick dich«, flüstert sie mit zitternder Stimme abfällig.
»Fick dich«, stoße ich hervor. Meine Stimme zittert, aber nicht aus Angst, sondern vor Wut. Ich bin wütend auf ihn und wütend auf mich. »Was soll der Mist? Warum tust du das?«, fordere ich zu wissen und bin mir bewusst, dass ich ihn nur noch mehr provoziere, aber es ist mir egal, was sollte ich sonst tun? Wie sollte ich ihm sonst zeigen, dass nichts, was er tut, mich dazu bringen wird, ihn um mein Leben anzuflehen? Diese Genugtuung werde ich ihm nicht geben.
Sein heißer Atem trifft auf meine Wange, eine Hand liegt an meiner Kehle und mit der anderen drückt er seine Waffe gegen meine Schläfe. Sein Körper lehnt schwer gegen meinen. So nahe, dass ich sogar das heftige Trommeln seines Herzens spüren kann. Meins schlägt mindestens genauso schnell. Durch meinen Körper schießt Adrenalin. Ein beängstigendes und zugleich berauschendes Gefühl. Ich muss wahnsinnig sein, aber den dunklen Teil in mir spricht alles an dieser Situation an. »Steig in das Auto und rutsch rüber auf den Beifahrersitz«, knurrt er mich an. Er drückt den Lauf der Waffe noch fester gegen meine Schläfe, als wolle er mir damit verdeutlichen, wie ernst es ihm ist.
»Hast du mich nicht verstanden?«, fauche ich ihn an. Meine Hände liegen flach auf der Autotür. Wenn ich könnte, würde ich sie jetzt gern wie Krallen in das harte Material treiben, um meiner Wut irgendwie Ausdruck zu verleihen. »Ich habe ›Fick dich‹ gesagt.«
Er lacht düster hinter mir, löst seine Hand von meiner Kehle und tritt von mir weg. Seine freie Hand packt meinen Oberarm und zerrt mich von der geschlossenen Tür weg. »Aufmachen und einsteigen. Jetzt!«, brüllt er mich an. »Tu es, bevor ich die Geduld verliere, Kleine.«
Ich drehe mich zu ihm um und spucke ihm ins Gesicht, aber er zuckt nicht einmal mit der Wimper, stattdessen lacht er noch lauter. Sein Lachen scheint von überall um uns herum von den Bäumen zu hallen. »Bring es einfach hinter dich«, sage ich und kann nicht verbergen, dass meine Stimme meine Hoffnungslosigkeit widerspiegelt. Er steht vor mir, zwischen seinen Brauen hat sich eine Furche gebildet, so zornig ist er. Seine breiten Schultern heben und senken sich unter harten Atemzügen. Ich habe das Gefühl, er kämpft um jeden Funken Kontrolle, den er finden kann. Er senkt sogar seinen Blick und schließt für mehrere tiefe Atemzüge die Augen. Und doch kann ich ihm ins Gesicht blicken, weil er so viel größer ist als ich. Ich reiche ihm gerade einmal bis zur Brust. Ich bin ihm körperlich unterlegen. Was kann ich also tun?
Ich lege meine Hände an den Bund meiner Jeans und öffne den Knopf. Ich hebe trotzig meinen Blick und schlucke schwer, als Hitze sich durch meinen Körper frisst. Eigentlich wollte ich ihn mit dieser Geste provozieren, stattdessen erregt mich die Vorstellung, er könnte es wirklich tun. Mir die Kleidung vom Leib reißen