DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner
später auch schon wieder vorbei. Ich neigte daher zu der Annahme, ich hätte es mir nur eingebildet, weil ich so verzweifelt auf eine Reaktion auf eine dieser Informationen gehofft hatte. »Andras«, wiederholte ich daher noch einmal laut und deutlich, als wollte ich den Geschmack des Namens wie die Blume eines kostbaren Weins auf der Zunge spüren. Und da, kaum dass ich es tatsächlich zu hoffen gewagt hatte, bemerkte ich erneut die leichte Erschütterung innerhalb meines Gedächtnisses, die ebenso schnell wieder verging.
Dr. Jantzen hatte mich schweigend und aufmerksam beobachtet. Seinem geschulten Therapeutenblick entging natürlich nicht, dass ich in irgendeiner Weise auf den Namen meines Bruders reagierte. »Hat der Name Ihres Bruders ein Gefühl oder eine Reaktion ausgelöst?«
Ich nickte. »Ein ganz schwaches … Echo, könnte man sagen«, antwortete ich, unfähig, meine Empfindungen in adäquate Worte zu kleiden. »Aber so schwach und flüchtig, dass ich mir noch nicht hundertprozentig sicher sein kann. Was können Sie mir sonst noch sagen?«
Dr. Jantzen hob in einer Geste des Bedauerns die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Es tut mir aufrichtig leid, Frau Dorn, aber das waren alle persönlichen Daten, die in Ihrer Akte enthalten sind. Aber ich bin mir sicher, dass wir …«
Weiter kam der Arzt nicht, denn in diesem Augenblick wurde von draußen zaghaft gegen die Tür geklopft. Dr. Jantzen gab Gabriel mit einem Kopfnicken zu verstehen, die Tür zu öffnen. Den Pfleger, der sich die ganze Zeit über unauffällig im Hintergrund gehalten hatte, hatte ich schon ganz vergessen gehabt, so fixiert war ich während unserer Unterredung auf den Arzt gewesen.
Ich drehte den Oberkörper, da ich mit dem Rücken zur Tür saß, und beobachtete, wie Gabriel die Tür öffnete. Auf dem Flur stand eine junge Schwester in einem weißen Kittel, lächelte angespannt und rieb sich nervös die Hände, als hätte sie kalte Finger. Als sie den Therapeuten sah, stieß sie hastig hervor: »Entschuldigen Sie, Dr. Jantzen, aber ein Herr von der Kriminalpolizei will unbedingt mit der … äh, der Patientin sprechen. Er lässt sich nicht abweisen und behauptet sogar, er hätte einen richterlichen Beschluss, der es ihm erlaubt …«
Sie verstummte abrupt mitten im Satz und riss die Augen auf, als sie nicht sehr rücksichtsvoll zur Seite gedrängt wurde. Ein wesentlich älterer Mann in dunklem Anzug nahm augenblicklich ihre Position ein und gab ihr energisch Befehle, als hätte er das Kommando übernommen: »Sie können jetzt gehen, Schwester. Ab hier übernehme ich!«
Die sichtlich überrumpelte Schwester warf einen um Rat ersuchenden Blick auf Dr. Jantzen. Sie zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, dass sie nicht bemerkt hatte, wie der Mann ihr hierher gefolgt war, und sie nichts dafürkonnte. Dr. Jantzen nickte ihr beruhigend zu, worauf sie sich auf dem Absatz umdrehte und mit großen Schritten wegmarschierte.
Nun hielt nur noch Gabriels riesenhafte, kräftige Gestalt, die den Türrahmen locker ausfüllen konnte, wenn er sich direkt hineinstellte, den dunkel gekleideten Mann davon ab, den Raum zu betreten. Im Ernstfall wäre der Pfleger ein unüberwindliches Hindernis gewesen, da war ich mir sicher. Dieser Ansicht schien auch der Besucher zu sein, denn er erschien nun doch ein bisschen verunsichert und musterte den Hünen, der vor ihm aufragte, mit misstrauischer Miene.
»Gabriel, bitten Sie den Herrn von der Polizei herein«, wies Dr. Jantzen den Pfleger schließlich an und entschärfte damit schlagartig die spannungsgeladene Situation an der Tür.
Kapitel 6
Nachdem Gabriel – höchst widerstrebend, wie mir schien – zur Seite getreten war und den Durchgang freigegeben hatte, kam der Neuankömmling unverzüglich hereinmarschiert. Er schritt energisch, und ohne mich eines einzigen Blickes zu würdigen, an mir vorbei zur rechten Längsseite des langen Konferenztisches, um sich dort einen Platz zu suchen.
Dr. Jantzen hatte sich indessen von seinem Platz vor dem Fenster erhoben und kam dem Kriminalbeamten ebenso ernsthaft entgegen. Die beiden Männer wirkten auf mich in diesem Moment wie zwei Revolverhelden, die im Begriff waren, ein Duell darüber auszufechten, wer in diesem Raum das Sagen hatte. Dr. Jantzen machte keinen besonders freundlichen Eindruck, als er schließlich auf den anderen Mann traf, bevor dieser Platz nehmen konnte, sondern schien im Gegenteil in angriffslustiger Stimmung zu sein. Dies mochte weniger daran liegen, dass der Fremde einfach der Schwester gefolgt und dadurch hier hereingeplatzt war, ohne vorher die Zustimmung des Arztes einzuholen, sondern eher in der Art begründet sein, wie der Neuankömmling versucht hatte, das Kommando zu übernehmen. Wahrscheinlich sah der gute Doktor seine Autorität als Facharzt und Stationsleiter in Gefahr und wollte die Verhältnisse nun wieder gerade rücken, indem er den Mann in seine Schranken verwies.
»Ich hoffe, Sie sind tatsächlich in der Lage, mir den richterlichen Beschluss zu zeigen, von dem Schwester Hannah sprach«, fuhr der Arzt den älteren Mann an. »Wie Sie sich vermutlich denken können, bin ich über diesen Überraschungsbesuch alles andere als erfreut. Ich bin nämlich der Meinung, dass es für die Heilbehandlung meiner Patientin in dieser Phase nicht besonders förderlich ist, wenn sie sich auch noch mit den Ermittlungen der Polizeibehörden auseinandersetzen muss. Ich ging eigentlich davon aus, dass wir diesen Punkt dem Polizeipräsidium gegenüber klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hätten.«
Sein Gegenüber hatte während Dr. Jantzens aufgebrachten Worten in aller Ruhe ein Schriftstück aus der Aktentasche geholt, die er in der linken Hand getragen und nun auf der Platte des Tisches abgestellt hatte, und dieses umständlich auseinandergefaltet. Nachdem die Tirade verstummt war, überreichte der Besucher dem Arzt das Papier, ohne seinen starren Gesichtsausdruck dabei im Geringsten zu verändern.
»Das ist der richterliche Beschluss, der es mir erlaubt, die Zeugin Dorn unverzüglich zu befragen. Und zwar sowohl ohne Ihre Einwilligung als auch gegebenenfalls – das heißt, sofern es mir erforderlich erscheinen sollte – ohne Ihre Anwesenheit, Dr. Jantzen! Wenn Sie also Wert darauf legen, während der Zeugenbefragung dabei zu sein, sollten Sie einen anderen, deutlich weniger aggressiven Ton anschlagen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden, Herr Doktor!«
Der Arzt wollte Einwände erheben, doch der Polizist ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Sparen Sie sich Ihre Ausführungen für einen späteren Zeitpunkt, Dr. Jantzen. Lesen Sie lieber sorgfältig den Gerichtsbeschluss und akzeptieren Sie endlich, dass mein Vorgehen rechtmäßig ist. Denn falls ich noch ein weiteres Wort des Widerspruchs von Ihnen höre, werde ich Sie unverzüglich des Raumes verweisen!«
Der Arzt gehorchte widerwillig und las stattdessen, nachdem er dem Polizeibeamten einen zornigen Blick geschenkt hatte, konzentriert den Beschluss in seinen Händen. Ich konnte ihm ansehen, dass er zumindest in Gedanken mit den Zähnen knirschte, als er ihn schließlich zurückgab. Allem Anschein nach hatte alles seine Richtigkeit, zumindest vor dem Gesetz, und die Behauptungen des Kriminalbeamten entsprachen der Wahrheit. Dr. Jantzen musste das wohl oder übel akzeptieren, konnte es aber dennoch nicht bleiben lassen, seiner Meinung darüber Ausdruck zu verleihen. »Für den Moment scheinen Sie tatsächlich am längeren Hebel zu sitzen, aber ich kann Ihnen schon jetzt versprechen, dass ich mich diesbezüglich an Ihre Vorgesetzten wenden und dort Ihr unfreundliches Verhalten deutlich zur Sprache bringen werde. Ich kann es nämlich nicht zulassen, dass der Therapieverlauf durch weitere derartige Querschläge Ihrerseits in Gefahr gebracht wird. Das Wohl meiner Patienten steht für mich im Vordergrund, und Ihre Ermittlungen interessieren mich dabei nicht im Geringsten. Im Übrigen wäre es wohl angebracht, dass Sie sich zuallererst einmal vorstellen und legitimieren.«
»Selbstverständlich«, beeilte sich der Beamte zu versichern, den sein eigenes Versäumnis in Verlegenheit und aus dem Konzept gebracht zu haben schien. Und dem Doktor hatte es nach seiner ersten Niederlage in diesem Machtkampf wenigstens einen kleinen Punktgewinn beschert.
»Kriminalhauptkommissar Klaus Gehrmann«, stellte sich der Polizist vor und zeigte dem Arzt sowohl seinen Dienstausweis in einem Lederetui als auch seine glänzende, goldene Dienstmarke, die er hastig aus der Innentasche seiner Anzugjacke geholt hatte. Den Gerichtsbeschluss hatte er zuvor wieder in seine Aktentasche gesteckt.
Dr. Jantzen studierte alles besonders sorgfältig. Dann nickte er mit einem verdrießlichen Ausdruck auf dem Gesicht, da ihm nichts anderes übrig blieb, als die Legitimation seines Gegenübers zu akzeptieren. Einen