DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner

DAS BUCH ANDRAS I - Eberhard Weidner


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Ich konnte ihm deutlich ansehen, dass er lieber erfahren hätte, was zuvor in meinem Kopf vorgegangen war und mich so beschäftigt hatte, dass ich den Inhalt seiner Worte nicht verstanden hatte. Schließlich war es ein wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit, den Patienten durch therapeutische Gespräche gewissermaßen in die Köpfe zu blicken und dort das Unterste zuoberst zu wenden.

      »Eine psychische Traumatisierung kann zu Gefühlen von Leid und Angst, aber auch zu schwerwiegenden psychischen Störungen führen. Zu einem Psychotrauma kommt es in der Regel, wenn ein Ereignis die psychischen Belastungsgrenzen eines Menschen übersteigt und nicht entsprechend verarbeitet werden kann, vor allem extreme Gewalt, Krieg, Folter, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, Unfälle, Katastrophen oder Krankheiten.«

      Ich hörte äußerst aufmerksam zu. Dr. Jantzen gab meiner ohnehin schon munteren Fantasie durch seine Erläuterung reichlich neue Nahrung.

      »Schon die bloße Gegenwart am Schauplatz eines Unfalls oder einer Gewalttat als Augenzeuge kann auf manche Menschen traumatisierend wirken. Ein von Menschen verursachtes Trauma wirkt sich dabei in der Regel schlimmer aus als ein Trauma, das eher zufällige, dem menschlichen Einfluss entzogene Ursachen hat, wie beispielsweise eine Naturkatastrophe oder ein Unfall. Folgen eines traumatischen Erlebnisses können – wie in Ihrem Fall der Erinnerungsverlust – dissoziative Zustände sein. Es kann aber auch zu unverhältnismäßig heftigen Reaktionen kommen wie zum Beispiel Panikattacken, Angst- oder Zwangserkrankungen, selbstverletzendes Verhalten oder immer wiederkehrende Albträume. Es kann auch passieren, dass die Patienten ganz plötzlich von Erinnerungen überfallen werden – man spricht dann von sogenannten Flashbacks –, die oft in Gestalt einzelner Bilder, Gefühle oder auch Gerüche ins Bewusstsein treten. Gefühle und Angstreaktionen können aber auch durch bestimmte innere oder äußere Einflüsse, in der Regel durch einen an das Trauma selbst erinnernden Faktor, einen sogenannten Trigger, ausgelöst werden.«

      »Und warum erzählen Sie mir dann nichts über dieses Trauma, wenn es der Dreh- und Angelpunkt meines Zustands ist?« Ich konnte mich nun doch nicht länger bremsen und brachte Dr. Jantzens Reizthema erneut zur Sprache. Ich wollte endlich erfahren, was mit mir passiert war und mir nicht nur all meine persönlichen Erinnerungen, sondern gewissermaßen mein Leben gestohlen hatte. Ich hoffte, damit sowohl der quälenden Ungewissheit als auch den furchtbaren Schreckensbildern, die mein Verstand mir zeigte, ein Ende setzen zu können.

      Der Arzt seufzte in einer Art und Weise, als hätte er mit einer derartigen Reaktion gerechnet und wunderte sich insgeheim, warum ich so lang dafür gebraucht hatte. Geistesabwesend kraulte er seinen Bart, während er nach den richtigen Worten suchte. Anscheinend griff er nicht einfach in seine große Kiste voller therapeutischer Standardantworten, die wohl jeder »Psychodoktor« parat hat, sondern bemühte sich um eine individuelle Erklärung.

      »Frau Dorn«, begann er schließlich ernst und eindringlich und ließ endlich von seinen Barthaaren ab. »Die Traumatherapie gehört zu meinen speziellen Fachgebieten. Neben dem theoretischen Grundlagenwissen kann ich mittlerweile auch große praktische Erfahrung darin vorweisen. Sie können mir also durchaus Glauben schenken, wenn ich behaupte, dass eine Konfrontation mit dem traumatischen Ereignis, vor allem in einem so frühen Stadium, durch den bereits erwähnten Triggereffekt eine Retraumatisierung bewirken kann.«

      Ich nickte. Wenn psychologische Gründe dafür sprachen, dieses Thema vorerst auszuklammern, dann musste ich mich eben damit abfinden. »Ich verstehe. Aber können Sie mir wenigstens etwas über meine Vergangenheit oder über mich erzählen? Ich weiß schließlich überhaupt nichts darüber. Bisher habe ich lediglich meinen Namen erfahren. Aber nicht einmal der erscheint mir auch nur ansatzweise vertraut und hat nichts, weder weitere Erinnerungen noch eine sogenannte Retraumatisierung ausgelöst. Hätte denn nicht bereits die Nennung meines Namens, der schließlich auch zu den persönlichen Erinnerungen gehörte, die mir unmittelbar nach meinem Erwachen fehlten, so ein Trigger sein können?«

      Der Arzt nickte und musste dann einräumen: »Im Prinzip haben Sie natürlich recht. Unter Umständen hätte bereits die Erinnerung an Ihren Namen einen Triggereffekt auslösen können. Aber eine einzelne, aus dem Zusammenhang gelöste Erinnerung, auch wenn es sich um etwas so Grundlegendes wie Ihren eigenen Namen handelt, unterscheidet sich natürlich grundlegend von dem vollständigen traumatisierenden Erlebnis, das die Amnesie ausgelöst hat. Grundsätzlich war die Gefahr einer Retraumatisierung daher äußerst gering. Außerdem müssen wir Sie schließlich irgendwie ansprechen können. Und wie sollte das gehen, wenn wir Ihren richtigen Namen nicht nennen könnten?« Er überlegte einen Moment und schlug mir dann Folgendes vor: »Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen zumindest ein paar Daten und Fakten zu Ihrer Vergangenheit nennen, die in Ihrer Akte enthalten sind. Es sind nicht sehr viele, wie ich vorausschicken muss, aber mehr ist uns leider auch nicht bekannt.«

      »Ich wäre Ihnen für jede noch so kleine Information sehr dankbar.« Ich war erleichtert, wenigstens ein paar meiner verlorenen Erinnerungen wieder wie Puzzlestücke in die Lücken einfügen zu können, die sie in meinem Gedächtnis hinterlassen hatten. Und vielleicht würden Sie ja eine Lawine in meinem Verstand auslösen und die übrigen verschütteten Erinnerungen freilegen.

      Dr. Jantzen blätterte durch die Seiten der Akte bis zum Anfang und überflog dann das erste Blatt, bei dem es sich – wenn die Patientenakte der Logik für derartige Schriftenbündel folgte – um ein Aufnahmeformular handeln musste, das vermutlich die wesentlichen Daten zu meiner Person enthielt.

      »Ihr Name lautet – aber das wissen Sie ja bereits – Sandra Dorn«, begann der Arzt mit der einzigen Information, die ich bereits hatte, und fuhr dann langsam und methodisch fort, die spärlichen Daten vorzutragen. Bei jedem neuen Hinweis musterte er mich prüfend, ob dadurch in meinen Erinnerungen etwas ausgelöst wurde oder sogar die befürchtete Retraumatisierung eintrat. Möglicherweise hatte er Angst, ich könnte in den Zustand zurückversetzt werden, in dem ich mich bei meiner Einlieferung befunden hatte. »Geboren am 21. Juni 1996.« Dr. Jantzen runzelte für den Bruchteil eines Augenblicks die Stirn, als ob er angestrengt überlegte, dann blickte er auf und sah mich überrascht an. »Dann können Sie ja in drei Tagen Ihren neunzehnten Geburtstag feiern.«

      Ich nickte bestätigend, war über diese Tatsache aber nicht ganz so aus dem Häuschen wie mein Gegenüber, denn nach ausgelassenem Feiern war mir im Augenblick weniger zumute. Die Tatsache meines demnächst bevorstehenden Geburtstags beinhaltete in meiner derzeitigen Gemütslage allenfalls zwei grundlegende Informationen, nämlich den Tag meiner Geburt und das heutige Datum. Sie waren mir aber derzeit nicht so wichtig, sondern stellten nur Mosaiksteinchen im Gesamtbild meiner Erinnerungen dar, von denen der größte Teil noch immer fehlte.

      Dr. Jantzen stellte rasch fest, dass ich seine Begeisterung nicht teilte, räusperte sich verlegen und richtete den Blick wieder auf seine Unterlagen, um die übrigen Angaben vorzulesen: »Sie sind Studentin. Ihre Eltern heißen Martin und Elvira Dorn. Sie wohnen hier in München im Stadtteil Nymphenburg …«

      Er nannte auch die genaue Anschrift, die mir jedoch nichts sagte. München kannte ich natürlich, ebenso den Stadtteil Nymphenburg, in dem sich meines Wissens ein bekanntes prunkvolles Schloss gleichen Namens, weitläufige Grünanlagen und zahlreiche Villen befanden. Ansonsten beschränkten sich meine Kenntnisse über diese Stadt jedoch auf allgemeine Informationen, die vermutlich auch viele Menschen wussten, die nicht hier lebten, und daher nicht unbedingt darauf schließen ließen, dass ich tatsächlich hier lebte und studierte. Selbst wenn all meine persönlichen Erinnerungen an meine Heimatstadt verschwunden waren, hätte ich eigentlich dennoch zahlreichere und konkretere Einzelheiten über sie wissen müssen. Auch die Namen meiner Eltern lösten weder Erinnerungen noch tiefere Empfindungen in mir aus. Ich hatte das Gefühl, dass es sich einfach nur um die Namen irgendwelcher Personen handelte, ohne dass ich eine besondere persönliche Beziehung zu ihnen feststellen konnte.

      Dr. Jantzen registrierte meine Reaktionen oder, besser gesagt, das Fehlen jeglicher Reaktion auf seine Worte und fuhr fort: »Unter nahen Angehörigen ist hier noch eine weitere Person angegeben. Jemand namens Andras. Ich nehme an, das ist Ihr Bruder.«

      Der Name klang für mich im ersten Augenblick ebenso fremd wie die meiner Eltern. Dennoch löste er, als der Arzt ihn aussprach, in den Tiefen meines Verstandes ein schwaches,


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