DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner

DAS BUCH ANDRAS I - Eberhard Weidner


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an die Nacht, in der Sie bei uns eingeliefert wurden?«

      Der Tonfall des Arztes hatte sich bei dieser Frage zwar nur unmerklich verändert, doch ich registrierte es wie ein hochempfindliches Thermometer, das sogar die kleinste Temperaturschwankung wahrnehmen kann. Diese Veränderung in der Tonlage teilte mir unterschwellig mit, dass Dr. Jantzen die Antwort auf diese Frage besonders wichtig zu sein schien, und zwar, wie ich meinte, nicht allein unter therapeutischen Gesichtspunkten, sondern auch aus einem anderen, mir im Augenblick allerdings noch unbekannten Grund. Dieses Mal musste ich nicht erst nachdenken, sondern wusste die Antwort darauf sofort: »Ich kann mich an absolut gar nichts erinnern, was in jener Nacht und davor passiert ist. Aber vielleicht können Sie mir mehr darüber sagen. Möglicherweise enthält meine Krankenakte nähere Informationen darüber.«

      Ich glaubte fast zu sehen, wie Dr. Jantzen vor mir zurückwich. Zumindest gedanklich, denn körperlich bewegte er sich keinen einzigen Millimeter. Es war, als würde plötzlich eine dunkle Wolke über ihm schweben und einen Schatten auf sein Gesicht werfen. Aus irgendeinem Grund verschloss er sich meinem Versuch, von ihm Informationen über die Geschehnisse unmittelbar vor meiner Einlieferung in diese Anstalt zu erhalten, und ließ gewissermaßen die geistigen Jalousien herunter.

      »Aus therapeutischen Gesichtspunkten ist es weder förderlich noch vollkommen ungefährlich, diese Thematik bereits in einem so frühen Stadium zu besprechen. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt darüber reden«, sagte der Arzt bestimmt und studierte – wie um jede weitere Diskussion über dieses anscheinend heikle Thema zu unterbinden – demonstrativ seine Gesprächsnotizen.

      Mir wurde klar, dass Dr. Jantzen damit die Befragung abgeschlossen und vorerst alle wesentlichen Informationen für eine erste Diagnose gesammelt hatte. Ich ließ es daher vorerst bleiben, weiter auf dem Thema herumzureiten, das der Arzt partout nicht mit mir besprechen wollte. Stattdessen schwieg ich und wartete gespannt auf sein fachärztliches Urteil. Dabei interessierten mich weniger die medizinischen Details seiner Ausführungen, sondern vor allem die entscheidende Frage, ob und wie die Erinnerungslücke geschlossen oder die fehlenden Erinnerungen wiederhergestellt werden konnten.

      Was immer Dr. Jantzen mir gleich mitteilen würde, würde den Verlauf meines gesamten weiteren Lebens bestimmen. Ich spürte, wie meine innere Anspannung kontinuierlich zunahm. Meine Kehle fühlte sich wieder staubtrocken und kratzig an. Rasch trank ich einen großen Schluck Wasser. Meine Hand zitterte dabei stark, sodass ich, nachdem ich das Glas wieder auf den Tisch gestellt hatte, schnell die Hände in meinem Schoß verbarg und ineinander verschränkte, um sie halbwegs ruhig zu halten.

      Schließlich, als ich das Warten kaum noch ertragen konnte, weil meine Aufregung fast zu groß geworden war, um sie weiterhin unter Kontrolle zu halten, legte Dr. Jantzen seine Notizen zur Seite. Er sah mich mit ernstem Blick an und begann mit gerunzelter Stirn zu sprechen: »Frau Dorn, als vorläufige, erste Beurteilung kann ich Ihnen zum augenblicklichen Zeitpunkt Folgendes mitteilen: Bei dem von Ihnen geschilderten vorherrschenden Störungsbild handelt es sich meiner Meinung nach um eine dissoziative Amnesie. Das ist eine plötzlich auftretende Unfähigkeit, sich an Aspekte seiner persönlichen Lebensgeschichte zu erinnern, wobei dieses Unvermögen in Ihrem Fall Ihr gesamtes bisheriges Leben zu umfassen scheint. Die sogenannte dissoziative Amnesie geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz, also beispielsweise eine Droge oder ein Medikament, oder eines neurologischen oder anderen medizinischen Krankheitsfaktors, zum Beispiel aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas, zurück, sondern wird meist durch ein zurückliegendes traumatisches oder besonders belastendes Erlebnis ausgelöst. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von psychogener Amnesie, also eine Art von Verdrängung. Bei Ihrer Einlieferung wurden zwar große Mengen einer ganzen Reihe halluzinogener Substanzen in Ihrem Blut festgestellt, meiner Meinung nach wurde der Gedächtnisverlust allerdings nicht durch eine Substanzintoxikation, also einen sogenannten Blackout, hervorgerufen. Gegen diese Ursache spricht nämlich eindeutig, dass Ihr Kurzzeitgedächtnis nicht gleichermaßen gestört ist.«

      »Ist diese … dissoziative Amnesie heilbar?«

      »Eine dissoziative Amnesie ist für gewöhnlich reversibel. Da die Gedächtnisstörung in Ihrem Fall nicht auf eine organische Ursache, also eine tatsächliche Verletzung des Gehirns, zurückzuführen ist, besteht somit eine sehr große Chance auf eine komplette Wiederentdeckung oder Wiederherstellung der betroffenen Erinnerungen. Die Gedächtnisstörung kann dabei durchaus kurzlebig sein und spontan abklingen, insbesondere können die Erinnerungen in Situationen, die eine starke Ähnlichkeit mit den unterdrückten Erlebnissen haben, plötzlich wieder auftauchen, oft auch nur bruchstückhaft, was nicht selten zu Verwirrung und enormen Ängsten führt. Normalerweise ist eine dissoziative Amnesie aber – vor allem in einem schwerwiegenden Fall wie Ihrem – langwierig und erfordert eine mehrjährige intensive Therapie.«

      »Und wie sieht diese Therapie aus?«

      »Ohne schon jetzt allzu sehr ins Detail zu gehen, kann ich Ihnen zumindest die vorrangigen Ziele der stationären Psychotherapie nennen. Sie gliedert sich in einzelne Phasen aus Einzel- und Gruppentherapie. Die primären Ziele der Behandlung bestehen im Wesentlichen darin, dem dissoziativen Menschen beizubringen, mit der Belastung umzugehen, und die tieferliegenden Ursachen der Amnesie zu behandeln. Diese Ziele werden gleichzeitig behandelt. Oft wird dabei auch Hypnose benutzt, um bei der Erinnerung zu helfen und das durchlebte Trauma zu überwinden. Patienten mit dissoziativer Amnesie zeigen häufig eine hohe Hypnotisierbarkeit.«

      »Sie sprachen von einem traumatischen Erlebnis als Auslöser«, kam ich zu einem wesentlichen Punkt seiner Ausführungen zurück, der mich besonders interessierte. »Was genau meinen Sie damit? Und welcher Auslöser ist für meine Amnesie verantwortlich?«

      »Auch darüber werden wir im Rahmen der Therapie zu gegebener Zeit sprechen, Frau Dorn«, beschied er mich und bestätigte damit meine Vermutung, dass das traumatische Erlebnis und die Ereignisse der Nacht, in der ich eingeliefert worden war, eng zusammenhängen mussten.

      »Muss ich neben dem Verlust meiner Erinnerungen unter Umständen noch mit anderen Folgen dieses Traumas rechnen?«, verlieh ich einer Befürchtung Ausdruck, die durch Dr. Jantzens Erläuterungen meines Zustandes plötzlich in mir Gestalt angenommen hatte. Gleichzeitig fragte ich mich aber auch, warum der Arzt das in meinen Augen wichtige Thema des Traumas so beharrlich ausklammerte. Denn gerade wenn ein wichtiges Ziel der Therapie die Behandlung der Ursache der Amnesie war, konnte es in meinen Augen doch nicht schaden, diesen Punkt so früh wie möglich zu erörtern. Warum bis zum offiziellen Beginn der Psychotherapie damit warten? Andererseits mochte der Arzt nachvollziehbare Gründe für sein Verhalten haben. Vielleicht war die Ursache für meinen Erinnerungsverlust so furchtbar, dass er mich behutsam darauf vorbereiten wollte. Bei diesem erschreckenden Gedanken, der mir plötzlich gekommen war, krampfte sich unwillkürlich mein Herz zusammen und schien sogar ein oder zwei Schläge auszusetzen. Mehrere Schreckensszenarien nahmen in meinem Kopf Gestalt an und quälten mich. Vielleicht, so dachte ich, war ich Mutter eines kleinen Kindes und hatte dieses durch eine schreckliche Gewalttat verloren? Oder war ich etwa die einzige Überlebende eines katastrophalen Unglücks, das Hunderte das Leben gekostet hatte?

      Zum Glück vertrieb Dr. Jantzens beruhigende Stimme die Schreckensbilder aus meinem Bewusstsein, die sich auflösten wie Morgennebel unter den Strahlen der Sonne. Allerdings hatte ich in meiner Gedankenverlorenheit den Inhalt seiner Antwort nicht mitbekommen.

      »Entschuldigen Sie, aber was sagten Sie?«

      »Ich sprach gerade über weitere mögliche Symptome einer psychischen Traumatisierung. Aber Sie schienen mit Ihren Gedanken ganz woanders gewesen zu sein. Alles in Ordnung?«

      »Ja, sicher. Mir geht es gut.«

      Der Arzt schwieg und sah mich erwartungsvoll an, um mir Gelegenheit zu geben, ihm eine Erklärung für mein Verhalten zu liefern. Doch ich erzählte ihm vorerst noch nichts von den furchtbaren Schreckensvisionen, die meine lebhafte Fantasie aufgrund der Ungewissheit über das traumatische Erlebnis in mir hervorgerufen hatte. Wenn er Geheimnisse vor mir hatte, dann war es nur recht und billig, dass ich ebenfalls das eine oder andere für mich behielt.

      »Könnten Sie die möglichen Symptome einer psychischen Traumatisierung, von denen Sie zuvor sprachen, bitte noch


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