DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner

DAS BUCH ANDRAS I - Eberhard Weidner


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zur Seite steht?«

      Kriminalhauptkommissar Gehrmann schüttelte den Kopf, während er Ausweis und Dienstmarke wieder verschwinden ließ. »Ich kann Ihnen versichern, dass die Hinzuziehung eines Verteidigers nicht erforderlich sein wird. Frau Dorn wird von mir lediglich als Zeugin angehört. Aus diesem Grund ist es auch nicht notwendig, sie über ihre Rechte zu belehren. Sie können gerne hierbleiben, sofern Sie sich entsprechend zu benehmen wissen, und sich davon überzeugen, dass ich nichts unternehmen werde, was Frau Dorn Schaden zufügen könnte.«

      Dr. Jantzen sparte sich eine Antwort darauf, nickte stattdessen nur und warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Womöglich ging ihm durch den Kopf, dass der Kriminalbeamte überhaupt nicht ermessen konnte, welchen Schaden er durch eine unbedachte Äußerung in meinem vorgeschädigten Verstand anrichten konnte. Allerdings fehlten ihm im Augenblick die Mittel, dem Polizisten wirksam Paroli bieten zu können.

      Dr. Jantzens Blick in meine Richtung war die erste Aufmerksamkeit, die mir geschenkt wurde, seit der Polizeibeamte so überraschend aufgetaucht war. Während der verbalen Auseinandersetzung des Arztes und des Hauptkommissars war das Interesse aller Anwesenden nur auf die beiden Männer und ihr Kräftemessen gerichtet gewesen. Dr. Jantzen hatte dabei zwar für den Moment den Kürzeren gezogen, war aber bestimmt nicht bereit, kampflos das Feld zu räumen und mich mit dem anderen Mann allein zu lassen.

      Er nahm das Heft, das er kurzzeitig verloren hatte, wieder dadurch in die Hand, dass er von seinem Recht als Stationsleiter und Hausherr Gebrauch machte und dem Kriminalbeamten einen Platz zuwies, der möglichst weit von mir entfernt war. Gehrmann akzeptierte dies auch ohne weitere Diskussion. Ihm musste ebenso wie uns allen klar sein, dass er den Machtkampf fürs Erste für sich entschieden hatte und nun hier die Spielregeln bestimmte. Aus diesem Grund konnte er dem Arzt diesen kleinen Triumph großmütig zugestehen.

      Dr. Jantzen holte die Krankenakte und seine Notizen von seinem Platz und setzte sich näher zu mir, sodass er wie ein menschlicher Puffer zwischen mir und dem Polizisten dienen konnte.

      Ich selbst war mir zunächst noch unsicher, was ich von diesem überraschenden Auftauchen des Beamten und der ganzen Situation halten sollte. Zunächst hatte mir sein Erscheinen einen Schreck versetzt, denn es hatte die Horrorszenarien, die meine Fantasie wie am Fließband produzierte, mit neuer, erschreckender Nahrung versorgt. Eine Zeitlang hatte ich sogar befürchtet, der Mann wäre gekommen, um mich zu verhaften und ins Gefängnis zu stecken. Dann hatte ich das Wortduell zwischen dem Arzt und dem Polizisten – bei dem es schließlich um mich ging – gespannt, aber auch mit zwiespältigen Gefühlen verfolgt. Denn einerseits erhoffte ich mir durch eine Befragung durch den Kriminalbeamten neue Informationen und Erkenntnisse, die mir Dr. Jantzen bisher nicht hatte sagen können oder wollen. Auf der anderen Seite fürchtete ich gleichzeitig aber auch das Gespräch mit dem Beamten, als könnten dabei Tatsachen oder Wahrheiten ans Tageslicht kommen, die mir letztendlich schaden würden. Lediglich die Zusicherung des Mannes, dass ich nur als Zeugin angehört werden sollte, überzeugte mich schlussendlich davon, dass mir durch den Polizisten im Moment nichts Schlimmes drohte und ich durch eine Unterhaltung mit ihm unter Umständen mehr gewinnen als verlieren konnte. Aus diesem Grund fieberte ich dem Beginn der Befragung sogar ein bisschen entgegen.

      Dr. Jantzen schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das ich so verstand, dass er aufpassen und mir im Notfall beistehen würde. Auch das trug wahrscheinlich zu meiner Beruhigung bei. Außerdem vermeinte ich, Gabriels beruhigende Präsenz schräg hinter mir beinahe körperlich spüren zu können, was mir zusätzlich Kraft schenkte. Und dann ging es auch schon los.

      Kapitel 7

      »Schönen guten Tag, Frau Dorn«, begrüßte mich Kriminalhauptkommissar Gehrmann, als wäre ich erst in diesem Moment zu ihnen gestoßen, und sah mir dabei zum ersten Mal überhaupt direkt ins Gesicht. Er lächelte jedoch nicht und zeigte mit Ausnahme seiner versöhnlichen Worte auch sonst keine Spur von Freundlichkeit, sondern behielt seinen bisherigen unbeteiligten, fast schon leblosen Gesichtsausdruck bei. Lediglich seine schiefergrauen Augen erwachten in diesem Moment zum Leben und funkelten mich, wie ich meinte, mit einem zornigen, ja geradezu hasserfüllten Aufblitzen an. Doch er wandte zu schnell den Blick wieder ab und richtete ihn stattdessen auf das dicke Aktenbündel, das er aus seiner Aktentasche geholt und vor sich auf die Tischplatte gelegt hatte, als dass ich mir sicher sein konnte, ob ich mir die Wut oder den Hass in seinem Blick nicht nur eingebildet hatte. Warum sollte er mir auch derartige negative Gefühle entgegenbringen? Schließlich kannten wir uns nicht – zumindest nahm ich das an. Außerdem war er nur ein Kriminalbeamter, der beruflich mit meinem Fall zu tun hatte und nicht selbst betroffen war. Andernfalls wäre ihm dieser Fall auch nicht zugeteilt worden. Wobei ich mir natürlich in erster Linie die Frage stellte, warum die Kripo überhaupt Ermittlungen anstellte. Aber das würde ich wohl alsbald erfahren.

      Ich ersparte mir eine Erwiderung seines Grußes und wartete stumm ab, dass er fortfahren würde. Eine kleine, wenn auch kindische Solidaritätsgeste gegenüber Dr. Jantzen.

      In meinen Augen wirkte der Kommissar beinahe schon zu alt für den aktiven Polizeidienst und stand möglicherweise kurz vor der Pensionierung. Er besaß einen extrem kurz geschnittenen, strahlend weißen Haarkranz, der wie die Tonsur eines Mönchs ein kreisrundes, glänzendes und mit zahlreichen Leberflecken gesprenkeltes Fleckchen Kopfhaut umrahmte. Darüber hinaus hatte er einen schmalen, sehr knochig wirkenden Körperbau und an die Krallen eines Raubvogels erinnernde faltige Hände mit langen, schmalen Fingern. Zu dem insgesamt bereits sehr vogelartigen Eindruck passte seine Nase, die wie der Schnabel eines Geiers hervorstand, sein Gesicht dominierte und ihm zusammen mit den kalt wirkenden grauen Augen das Aussehen eines grimmigen Scharfrichters oder Inquisitors verlieh.

      Mein Mut, den ich zum größten Teil der tröstlichen Gegenwart von Gabriel und Dr. Jantzen verdankte, verließ mich bei dieser ungewollten Assoziation dann doch beinahe, und so senkte ich rasch den Blick und richtete ihn auf meine Hände, die ich wieder in meinen Schoß gelegt hatte und nervös aneinanderrieb, als wären sie eiskalt und müssten durch Reibungsenergie aufgewärmt werden. Doch eigentlich war das Gegenteil der Fall. Allmählich wurde es mir unangenehm warm, und ich spürte, dass mir erneut der Schweiß ausbrach. Gern hätte ich in diesem Moment etwas getrunken, doch das Glas vor mir war mittlerweile leer. Ich hätte natürlich Gabriel bitten können, mir noch etwas frisches Wasser zu bringen, doch es war mir lieber, seine beruhigende Gegenwart in meiner unmittelbaren Nähe zu wissen. Ich kannte den Pfleger zwar kaum und das auch erst seit kurzer Zeit, hatte aber schon begonnen, ihm mein Vertrauen zu schenken. Von allen Anwesenden in diesem Raum, so glaubte ich, hatte Gabriel noch am ehesten mein Wohl im Auge. Allerdings würde auch er nichts gegen einen richterlichen Beschluss oder ein anderes amtliches Schriftstück ausrichten können.

      »Frau Dorn«, sprach mich der Kriminalbeamte nach einer kurzen Pause erneut an, worauf ich unwillkürlich den Blick hob. Gehrmann sah jedoch weiterhin in seine Akte, als hätte er dort die wesentlichen Stichpunkte seiner Ausführungen skizziert und benötigte diese als Gedächtnisstütze.

      Vielleicht will er dadurch, dass er den Blick von mir abgewandt hält, aber auch vermeiden, dass ich in seinen Augen seine wahren Gefühle erkennen kann, durchzuckte mich ein überraschender Gedanke. Schließlich konnte ich schon einmal den Hass in seinen Augen sehen. Aber war ich mir da überhaupt sicher? Rasch verwarf ich diesen absurden Einfall wieder, bevor er in meinem Verstand Wurzeln schlagen und wachsen konnte, so unwahrscheinlich erschien er mir.

      »Mir ist natürlich vollauf bewusst«, fuhr Hauptkommissar Gehrmann fort, »dass Sie durch die zurückliegenden Ereignisse vermutlich noch immer unter Schock stehen. Und da Sie, wie man mir mitteilte, erst vor wenigen Stunden wieder zu Bewusstsein kamen, hatten Sie vermutlich auch noch keine Zeit, die Vorfälle gedanklich zu verarbeiten und die Zusammenhänge vollständig zu begreifen. Auch wenn mich Dr. Jantzen für gefühllos und diese Befragung für reine Schikane und eine Gefahr für den Therapieerfolg halten mag, so kann ich Ihnen versichern, dass sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt absolut notwendig ist. Ich versuche zwar, sie so behutsam und schonend wie möglich durchzuführen. Aber angesichts der unabänderlichen Tatsache, dass seit den Morden bereits annähernd fünf Tage verstrichen sind, ohne dass die ermittelnden Behörden in der Lage waren, die einzige bekannte Augenzeugin zu befragen, ist ein weiteres Zuwarten in


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