DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner
hier in einem hochgradig verwirrten Zustand eingeliefert worden war. Und im Gegenzug würde ich ihm alles erzählen, woran ich mich erinnerte, vorausgesetzt natürlich, sein Bericht wirkte tatsächlich wie ein Trigger auf mein Gedächtnis und löste die Freisetzung weiterer, eigener Erinnerungen an diese Geschehnisse aus. Denn irgendwo mussten meine fehlenden Erinnerungen ja stecken. Sie konnten schließlich nicht vollkommen spurlos aus meinem Verstand gelöscht worden sein wie die Daten auf einer Diskette, auch wenn das saugende schwarze Loch, das ihre Stelle eingenommen hatte, etwas Derartiges vermuten ließ. In diesem Moment fiel mir ein, dass das englische Wort Trigger auf Deutsch auch Abzugshahn bedeutete. Hoffentlich war das kein böses Omen, und die nächsten Worte des Kriminalbeamten wirkten auf mein Bewusstsein nicht wie der Abzug einer Schusswaffe und richteten nicht ebenso verheerende Schäden an wie eine Pistolenkugel, die mir aus nächster Nähe in den Kopf geschossen wurde.
Hauptkommissar Gehrmann hatte seine eisgrauen Augen wieder auf den Inhalt seines Aktenordners gerichtet. Scheinbar war er noch immer nicht in der Lage, mir über einen längeren Zeitraum hinweg in die Augen zu sehen, denn er las nicht etwa aus der Akte, sondern erzählte mit eigenen Worten, was er mir über die Ereignisse jener verhängnisvollen Nacht mitteilen konnte.
Kapitel 8
»In den frühen Morgenstunden des 14. Juni, am letzten Sonntag also, um ca. 0:45 Uhr«, begann der Polizeibeamte in nüchternen Worten zu erzählen, »gingen bei der Polizeiinspektion 42 in Neuhausen, zuständig für den Stadtbezirk 9 ›Neuhausen-Nymphenburg‹, mehrere Notrufe aus dem benachbarten Stadtteil Nymphenburg ein. Es handelte sich um mehrere Anwohner eines exklusiven Villenviertels in Gern, die meldeten, dass aus einem der Häuser in ihrer Nachbarschaft schreckliche Schreie und lautes Gebrüll zu hören seien. Als nur wenige Minuten später zwei alarmierte Funkstreifenbesatzungen nahezu gleichzeitig am Einsatzort eintrafen, herrschte dort allerdings wieder nächtliche Ruhe. Das Haus, aus dem der Lärm gekommen sein sollte, wirkte verlassen. Einige Nachbarn gaben jedoch später zu Protokoll, dass unmittelbar vor dem Eintreffen der Einsatzkräfte mehrere Personen fluchtartig das Haus verlassen hätten und in dunklen Fahrzeugen, die vor dem Haus geparkt gewesen waren, mit überhöhter Geschwindigkeit davongefahren seien. An die Fahrzeugmarken oder Kennzeichen konnte sich aber leider niemand erinnern.
Da die Villa unverschlossen vorgefunden wurde und die Haustür weit offen stand, betraten die uniformierten Kollegen das Haus, um nach den Bewohnern, einem Ehepaar namens Dorn, zu sehen. Sie durchsuchten das ganze, nicht gerade kleine Gebäude vom Dach- bis zum Untergeschoss, konnten aber zunächst niemanden finden. Erst im Keller wurden sie schließlich fündig. In einem Raum, der aufgrund der vorgefundenen Situation und Ausstattung allem Anschein nach zur Durchführung eines Rituals, unter Umständen einer sogenannten schwarzen Messe, genutzt worden war, lagen zwei Leichname. Bei den Toten handelte es sich, wie sich später herausstellte, um die Bewohner des Hauses, Martin und Elvira Dorn. Sie trugen schwarze Gewänder, die an die Kutten von Mönchen erinnerten, was darauf schließen lässt, dass sie ebenfalls an dem Ritual in ihrem Haus teilgenommen hatten, und waren durch zahlreiche, äußerst brutale Messerstiche getötet worden.
Auf einem schwarzen Altarstein im Zentrum des Raumes wurde darüber hinaus eine erhebliche Menge Blut gefunden, das sich jedoch keinem der beiden Leichname zuordnen ließ. Da Sie selbst, Frau Dorn, körperlich unversehrt waren, kann es sich somit nur um das Blut einer vierten, bislang noch unbekannten Person handeln. Wir gehen daher davon aus, dass es von Ihrem Bruder Andras Dorn stammt, dessen Kleidung und Ausweispapiere in der Nähe des Tatorts gefunden wurden. Ein Vergleich mit einer Probe Ihres Blutes sowie ein DNA-Test, um diesen Punkt endgültig abzuklären, stehen noch aus und werden demnächst durchgeführt, sofern Sie Ihr Einverständnis zu einer Blutentnahme und einer Speichelprobe erklären.
Nachdem die Streifenbeamten vor Ort die Leichen gefunden hatten, informierten sie unverzüglich den Kriminaldauerdienst. Das ist der Bereitschaftsdienst der Kriminalpolizei, der als Bindeglied zwischen den Streifenbesatzungen vor Ort und den Fachkommissariaten dient. Da im Keller des Hauses Kleidung und Ausweise von Ihnen und Ihrem Bruder gefunden wurden, wurde sofort die nähere Umgebung der Villa abgesucht. Diese Maßnahme blieb aber vorerst ohne Erfolg.
Erst mehr als drei Stunden nach Eingang des Notrufs wurden Sie von einer Streife auf dem Westfriedhof aufgegriffen, nachdem ein vorbeikommender Autofahrer die Polizei benachrichtigt und hysterisch gemeldet hatte, der Geist einer nackten, blutüberströmten Frau würde zwischen den Gräbern des Friedhofs herumspuken. Wie sich herausstellte, waren Sie tatsächlich nackt und mit Blut bespritzt. Es handelte sich jedoch nicht um Ihr eigenes Blut, da Sie, wie bereits erwähnt, zumindest körperlich unversehrt waren, sondern war mit dem Blut auf dem Altarstein identisch. In Ihrer linken Hand hielten Sie zudem eine Art Ritualdolch mit schwarzem Griff und blutverschmierter Klinge.
Sie ließen sich von den Beamten widerstandslos das Messer abnehmen, eine Decke überstreifen und in den Streifenwagen bringen. Nachdem durch den zuständigen Ermittlungsrichter rasch entschieden wurde, dass Sie aufgrund Ihres bedenklichen psychischen Zustands in das Privatsanatorium Dr. Straub gebracht werden sollten, fuhren die Kollegen mit Ihnen an diesen Ort. Erst nach Ihrer Einlieferung begannen Sie damit, zu toben und ein höchst aggressives Verhalten an den Tag zu legen. Daraufhin wurden Sie mit Beruhigungsmitteln behandelt und waren während der letzten Tage leider nicht ansprechbar, was jegliche Möglichkeit einer Befragung ausschloss.
Das sind im Wesentlichen die Fakten, die in den Ermittlungsakten enthalten sind und die ich Ihnen daher nennen kann.«
Nachdem der Kriminalbeamte seinen Bericht abgeschlossen hatte, herrschte für mehrere Sekunden nahezu atemlose Stille im Raum. Alles, was ich hören konnte, waren mein eigener Herzschlag und das Rauschen des Blutes in meinen Adern.
Dr. Jantzen hatte mich die ganze Zeit über sehr aufmerksam beobachtet und sich gelegentlich Notizen gemacht. Der Hauptkommissar hatte hingegen nahezu ständig nach unten auf die Ermittlungsakte gestarrt und mir nur ab und zu einen kurzen Blick zugeworfen, als hätte er zwischendurch immer wieder überprüfen wollen, ob ich auf seine Worte in irgendeiner äußerlich erkennbaren Form reagierte.
Meine Reaktion auf die Schilderung des Polizisten enttäuschte mich selbst jedoch am allermeisten, denn es gab keine.
Im Grunde war ich auf nahezu alles, was meiner Ansicht nach geschehen konnte, gefasst gewesen. Dass möglicherweise eine Flut meiner wiedergewonnenen Erinnerungen mein Bewusstsein unter sich begraben würde. Dass nur einzelne, selektive Erinnerungen an die Geschehnisse dieser Nacht, ausgelöst durch die Worte des Kriminalbeamten, an der Oberfläche meines Verstandes auftauchen würden wie Gasblasen in einem Sumpf. Oder auch, dass das schwarze Loch in meinem Gedächtnis einfach verschwinden würde, als hätte es nie existiert, und all meine verlorenen Erinnerungen an seiner Stelle wieder auftauchen würden, jetzt und zukünftig jederzeit problemlos von mir abrufbar.
Für all diese erhofften Alternativen und sogar noch einige mehr, die ich mir gar nicht so genau ausgemalt hatte, war ich innerlich gewappnet gewesen. Mein ganzer Körper hatte sich zu Beginn des Berichts verkrampft, sodass es wehgetan hatte, und sämtliche Muskeln hatten sich vor Anspannung gestrafft, bis sogar die Hände in meinem Schoß nahezu unlösbar ineinander verkrallt gewesen waren. Doch allmählich, mit jedem weiteren Satz des Hauptkommissars, hatte ich mich wieder entspannt. Und die Verkrampfung war allmählich aus meiner Muskulatur gewichen, als jegliche psychische Reaktion auf seine Worte ausgeblieben und mir immer bewusster geworden war, dass auch keine solche erfolgen würde. Stattdessen hatte sich nach und nach in meinem Innern eine entsetzliche Leere ausgebreitet, verursacht durch die maßlose Enttäuschung über diesen erneuten Misserfolg.
Das lag nicht nur daran, dass die Worte des Kriminalbeamten keine eigenen Erinnerungen in meinem Bewusstsein zutage gefördert hatten, wie ich insgeheim natürlich gehofft hatte, sondern auch daran, dass sie mich nicht einmal sonderlich berührt hatten. Es kam mir die ganze Zeit eher so vor, als würde der Polizist über das Leben mir vollkommen fremder Menschen sprechen, gewissermaßen eine Märchenerzählung mit fiktionalen Charakteren. Weder die Erwähnung der Leichen meiner Eltern noch die Tatsache, dass mein Bruder ebenfalls viel Blut am Tatort verloren haben musste, schienen mir viel zu bedeuten oder auch nur nahezugehen. Ich kam mir deshalb vor wie ein Monster oder Psychopath, der überhaupt nicht in der Lage ist, Gefühle für die