Kirche im freien Fall. Cristina Fabry

Kirche im freien Fall - Cristina Fabry


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in Berlin geblieben. Das mit der Kunstgeschichte hatte ihr gefallen, vielleicht sollte sie noch ein Aufbaustudium dranhängen und Sozialpädagogik mit Kunst kombinieren, da gab es sicher interessantere Jobs, als in irgendeinem Jugendzentrum, Kindergarten oder verstaubten, städtischen Behördensumpf.

      Der Sommer an der Freibadkasse war der längste und langweiligste, den sie je erlebt hatte. Sie sehnte sich nach der pulsierenden Metropole, den inspirierenden Kontakten. Stattdessen blickte sie täglich stundenlang in tumbe Gesichter, die in Einwortsätzen ihrem Begehr nach Eintritt Ausdruck verliehen und sie erwiderte dies gleichermaßen mit „Drei Fünfzig“ oder „Eins Fünfzig“ - je nach Tarif. Warum musste Geldverdienen als Studentin immer so anregungsarm gestaltet sein? Auf einer Party erzählte ihre Kommilitonin Kerstin: „Ich plane selbst ein Seminar anzubieten für die Begleitung im Grundstudium. Die Profs kriegen das ja nicht auf die Reihe, sind zu sehr mit ihren Hobbys beschäftigt, 'Lust und Leid des Tangos', Ferienhausrenovierung in Griechenland und 'schade, dass Beton nicht brennt'. Ich habe schon mit Günther telefoniert, der meinte, ich sollte mir noch einen Co-Moderator holen und dann könnten wir das als Tutorenjob machen, weil das ja ein Auftrag der Hochschule ist, dem die Profs nicht ausreichend nachkommen.“

      „Wie?“, fragte Carolin nun hellwach und im Beuterausch, „Wir könnten Geld verdienen mit Studienbegleitung? Was muss man denn da machen?“

      „Das gleiche, was bei uns gelaufen ist. Einführung, Studientipps, Praktikumsvor- und Nachbereitung und ich finde, wir könnten die Leute auch bei der ersten Hausarbeit unterstützen und sie auf die erste Fachprüfung vorbereiten.“

      „Wollen wir das nicht zusammen machen?“, fragte Carolin mit betont warmer Stimme, anbiedernd, wie es ihre Art war, wenn sie etwas erreichen wollte. Kerstin war nur B-Ware und zwar in jeglicher Hinsicht. Sie würde alles einstielen und Carolin könnte sich ins gemachte Nest setzen, glänzen, Praxispunkte sammeln und nebenbei noch Geld verdienen.

      Sie sah Kerstin deutlich an, dass ihr diese Wendung nicht behagte. Sicher hatte sie geplant, die Co-Moderation Thomas anzubieten, auf den war sie schon lange scharf, der sah ja auch gut aus und war sehr unterhaltsam. Aber Carolin wollte endlich mal auf interessante Weise Geld verdienen und mit ihrer offensiven Art hatte sie bisher noch die meisten ihrer Ziele erreicht.

      Am Ende hatte Kerstin eingewilligt, schließlich hatte sie kein Ass im Ärmel, hätte sie eben taktisch klüger vorgehen müssen.

      Carolin hatte in der Folge eine tolle Zeit. Sie hatte im Hauptstudium ein interessantes Projekt für sich ausgewählt, arbeitete mit psychisch Kranken und besuchte das Begleitseminar bei einer beeindruckenden Dozentin. Das Geld als Tutorin war leicht verdient, Günther, der Dekan des Fachbereichs wurde auf sie aufmerksam und bot ihr, weil sie die Studierenden so kompetent und gezielt auf ihre Prüfungen vorbereitet hatte, einen weiteren Tutorenjob an. Sie musste nur aufpassen, dass sie es gut machte, denn sie hatte natürlich verschwiegen, dass es vor allem Kerstin gewesen war, die die dazu erforderlichen didaktischen Schritte ausgearbeitet hatte. Kerstin hatte einfach nicht das Zeug zur angemessenen Selbstinszenierung im richtigen Moment und außerdem hatte Carolin die schmalere Taille und die blaueren Augen. Und Thomas war sie auch schon näher gekommen...

      7. Das Sozialpädagogik-Studium schloss Kerstin in der Regelstudienzeit ab. Mit Carolin war sie fertig, die hatte die ganzen Lorbeeren eingeheimst und Kerstin dastehen lassen wie eine Trittbrettfahrerin. Das würde ihr eine Lehre sein, künftig würde sie sich solche Frauen vom Leib halten, denn eigentlich hatte sie Carolins parasitäres Wesen von Anfang an durchschaut, hatte aber dem eigenen Gefühl noch nicht ganz getraut, wollte frei von Vorurteilen sein und hatte auch zu wenig Erfahrung darin, Menschen, die sich aufdrängten, auf Abstand zu halten. Das würde sich ändern.

      Das Anerkennungsjahr brachte sie mehr hinter sich, als dass es ein wertvolles Lernfeld gewesen wäre, aber dann fand sie eine interessante Teilzeitstelle und begann ein Zweitstudium der Diplompädagogik mit dem Fernziel einer Hochschul-Karriere. Sie war endlich angekommen in ihrem Leben und alles entwickelte sich planmäßig. Aus einer Laune heraus begann sie einen Italienisch-Kurs und verliebte sich prompt in den Lehrer. Nein hier lag keine Neigung zu Mentor-Schützling-Beziehungen vor, Gennaro war in ihrem Alter, hatte zunächst Kunstgeschichte in Pisa, dann ein Semester in Berlin studiert und war bei Kunsterziehung in Bielefeld gelandet, wo er sich sein Studium nun mit Sprachkursen finanzierte. Die gesammelte Weiblichkeit des Kurses betete ihn an und Kerstin fand sich damit ab, dass es auch bei ihr wohl bei dieser Anbetung bleiben würde. Umso erstaunter war sie, als Gennaro sie schon nach dem dritten Treffen fragte, ob sie nicht einen Kaffee mit ihm trinken wollte. Natürlich war es nichts weiter als ein unschuldiges Schwätzchen in der Caféteria, aber sie hatte Mühe, seinen Ausführungen zu folgen und nicht in seinen warmen, dunklen Augen zu versinken. Als ein anderes Kursmitglied beim nächsten Mal vorschlug, man könne ja mal zusammen italienisch kochen, bot sie direkt ihre Wohnung als Veranstaltungsort an und lud auch Gennaro dazu ein.

      Es wurde ein denkwürdiger Abend mit matschiger Pasta, Tomatensauce mit Holzkohle-Aroma, Magen-übersäuerndem Rotwein und sehr viel fröhlichem Gelächter.

      So lange hatte Kerstin darauf gewartet, dass es in ihrem Leben endlich gut würde – beruflich wie privat. Immer hatten andere sich vorgedrängelt, ihr die Chancen vergällt, sie ignoriert, beiseitegeschoben, abgewertet. Und sie hatte auch oft nicht so recht gewusst, wohin mit sich, war auf der Suche nach ihrem Platz gewesen und hatte beharrlich gewartet auf eine Gelegenheit, ein Zeichen, eine Erkenntnis, eine glückliche Wendung. Sie war geduldig geblieben, oft traurig, manchmal verzweifelt, aber demütig, denn ihr war bewusst, dass sie andere Menschen nicht für ihr Unglück verantwortlich machen konnte. Sie würde selbst herausfinden müssen, wie sie ans Ziel gelangte. Und jetzt war es zum Greifen nah. Das Warten hatte sich gelohnt.

      8. In der Mitte des Semesters bekam der Italienischkurs einige Neuzugänge, das heißt, er wurde mit dem zweiten Kurs zusammengelegt, nachdem der erste Andrang nachgelassen hatte und die Lust-und-Laune-Studierenden das Interesse an der staatlich finanzierten Urlaubsvorbereitung verloren hatten. Außerdem hatte die Leiterin des zweiten Anfänger-Kurses überraschend einen interessanten Job in einer anderen Stadt bekommen und hatte die Brocken hingeschmissen.

      Nun war es ziemlich voll im Seminarraum und Kerstin traute ihren Augen nicht, als sie ein bekanntes Gesicht unter den Neuzugängen ausmachte: die unerträgliche, blasierte, dumm-fromme Carla aus ihrer Heimatgemeinde. Ja, Kerstin hatte gehört, dass sie in Bielefeld Biologie studierte, aber sie musste doch längst fertig sein, schließlich war sie zwei Jahre älter als Kerstin und Kerstin hatte ihr Studium auch schon vor fast zwei Jahren abgeschlossen. Obwohl sie vor Neugier nahezu platzte, was genau Carla

      an der Uni zu suchen hatte, bemühte sie sich, sie zu ignorieren und vorzugeben, sie nicht wiederzuerkennen, so sehr ekelte sie sich vor der ehemaligen Rivalin, die sie noch immer in ihrer senfgelben Strickjacke vor sich sah, mit dem überheblichen Gesichtsausdruck und dem einschläfernden Redefluss.

      Doch am Ende der Veranstaltung, als Carla bemerkt hatte, dass Kerstin einen besonderen Draht zu dem reizvollen Lehrer hatte, beschloss sie, sich zu einem ersten Schritt herabzulassen. Sie ging auf die ungeliebte, alte Bekannte zu und sagte in einem Ton, der auf wundersame Weise ein freundliches Einschmeicheln mit einem herabwürdigenden Befremden verband: „Hallo Kerstin. Was machst du denn hier?“

      „Ach – Carla“, erwiderte Kerstin Überraschung heuchelnd. „Ich habe dich gar nicht erkannt. Ich mache hier das gleiche wie du: einen Sprachkurs.“

      „Ja klar.“, antwortete Carla in der gewohnten Redeweise der großen Schwester, die für immer und ewig, der jüngeren ein paar Schritte voraus ist.

      „Ich meine natürlich, was du hier an der Uni machst.“

      „Ach so. Ich studiere Diplompädagogik.“

      „Da musst du sicher auch bald fertig sein, oder?“

      „Nee, das ist mein Zweitstudium, ich habe gerade angefangen. Und du?“

      „Ich promoviere gerade.“

      „Ach, interessant. Und worüber?“

      „Ach das ist so fachspezifisch,


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