Kirche im freien Fall. Cristina Fabry
Was machst Du denn hier? Wieso bist du nicht im Himmel?
Grete: Hab' mich freiwillig gemeldet. Dass ich so einen wie dich auf die Welt gebracht und großgezogen habe, werde ich mir nie verzeihen. Außerdem kann man dich ja nicht eine Minute allein lassen. Am Ende machst du noch Terror in der Hölle, als wenn es hier nicht schon ohne dich schlimm genug wäre.
Tobi: Wieso Terror? Ich hab' aufgeräumt. Neun auf einen Streich. Das soll mir mal
einer nachmachen.
Grete: Lieber nicht. Und zählen kannst du auch nicht.
Tobi: Wieso?
Grete: Weil es elf Menschen waren. Schließlich hast du erst mich und dann
dich selbst erledigt.
Tobi: Das musste ich tun. Ich musste dich schützen.
Grete: Mich schützen?! Wovor denn?
Tobi: Vor dem linken Mob, der dir die Schuld gegeben hätte.
Grete: Ich hätte nichts zu befürchten gehabt, wenn du dich nicht so feige aus dem
Staub gemacht hättest.
Tobi: Ich bin nicht feige!
Grete: Bist du wohl. Schon immer gewesen. Hattest nie den Mut, dich dem Leben zu stellen. Immer war alles zu schwierig. Keine Ausbildung hast du zu Ende gebracht, keine Frau gefunden, der du gefallen hast, hast noch mit über vierzig Jahren an meinem Rockzipfel gehangen...
Tobi: Ohne mich wärst du doch nicht klargekommen!
Grete: Wäre ich bestens! Du hast mir nur Arbeit gemacht. Kochen musste ich für dich, deine stinkenden Klamotten waschen, deine miefige Hundehütte wenigstens ab und zu mal saugen und überall feucht durchwischen, damit mein Haus nicht von Parasiten heimgesucht wurde. Beizutragen hattest du gar nichts, nicht einmal die klassischen Männerjobs wie Dachrinne reinigen, Auto reparieren, Terrassenplatten auswechseln oder wenigstens Rasen mähen. Das konnte ich alles besser als du.
Tobi: Ich war eben beschäftigt.
Grete: Ja, mit stundenlangem Surfen im Internet, beim Spiele zocken und bei tagelangen Kommentarschlachten mit lauter Dumpfbacken, die genauso blöd sind wie du.
Tobi: Du hast doch überhaupt keine Ahnung!
Grete: Nee, stimmt, wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, dann hätte ich rechtzeitig
etwas unternommen. Dummerweise war ich nur genervt, wo ich hätte besorgt sein müssen. Wenigstens hast du dich selbst aus der Welt geschafft. Es wäre nur rücksichtsvoller gewesen, wenn du niemanden mitgenommen hättest. Ist dir eigentlich schon einmal aufgefallen, dass von den Muslimen, die du getötet hast, nicht ein einziger hier in der Hölle gelandet ist?
Tobi: Die haben bestimmt ihre eigene Hölle.
Grete: Sicher. Wäre ja eine Zumutung, wenn sie auch noch die Ewigkeit mit dir
verbringen müssten.
Tobi: Wieso Ewigkeit? Ich werde sowieso bald wieder geboren, als größter Kanzler
aller Zeiten! Und dann bringe ich mein Werk zu Ende. Dann werden die alle ausgelöscht, die bösen und minderwertigen Völker!
Grete: Als Grökaz? Träum weiter! Wenn du wiedergeboren wirst, dann höchstens
als Kakerlake. Wenn du Glück hast.
Tobi: Und wenn ich kein Glück habe?
Grete: Als Eisbär.
Alles Wurst
Seltsame Fortbildung. Es war nicht einmal klar, ob die Kollegen, mit denen sie duschen ging, überhaupt Kollegen waren. Seltsames Bad, hatte irgendwie Wohnzimmeratmosphäre, mit Stoff-Vorhängen an einer Seite und drei Duschköpfen in der Mitte des Raums unter der Decke. Sie hatte auch einen Moment gezögert. Jetzt wirklich duschen? Konnte sie das bringen mit diesen beiden Kerlen? Der eine ein alter Sack, der andere in ihrem Alter aber auch nicht attraktiv, aber egal, sie würden schon nicht gewalttätig und falls sie sich etwas einbildeten, konnte sie sie sicher wieder auf den Teppich holen. Also zog sie sich aus. So standen sie zu dritt, dicht beieinander, wie rauchende Teenager im uneinsehbaren Teil des Schulhofs. Sie überlegte noch kurz, ob sie sich wirklich die Haare waschen sollte, hatte sie doch gerade gestern gemacht, war noch nicht nötig, aber ach, frische, duftige Haare waren ja auch ganz schön. Und die Typen waren auch mehr miteinander beschäftigt, kein Grund zur Sorge, obwohl sie da so ein unterschwelliges Mal-gucken-ob-da-nicht-doch-was-geht spürte, aber das ließ sich ja, wie gesagt, abwenden. Dann flutschte ihr die Seife aus den Händen, schlitterte blitzschnell über die Fliesen, sodass sie nicht einmal auszumachen vermochte, wohin. Verdammt, muss ich mich jetzt nach der Seife bücken, so nackt wie ich bin? Blödes Klischee. Kurz und halbherzig halfen ihr die Typen bei der Suche, gaben aber schnell auf und waren wieder mit ihren Männerthemen beschäftigt, irgendetwas schrecklich Relevantes, was sie gar nicht interessierte. Sie suchte weiter nach der Seife, hinter der Kommode, unterm Waschbecken, hinter dem Vorhang, unauffindbar.
Trübes Licht fiel durch das kleine Fenster, es war warm unter der Decke, aber auch einsam. Sie sehnte sich nach liebkosenden Händen, war aber zu träge, um nach nebenan zu gehen, wo sie sich hätte holen können, was sie begehrte. Alles viel zu anstrengend. Sie griff nach dem Nachschlagewerk auf ihrem Nachttisch, las mit zusammengekniffenen Augen – die Lesebrille steckte noch in der Handtasche – Dusche, Seife, Nacktheit, unbekannter Mann...sie fühlte sich also schuldig, wollte sich davon befreien, schaffte es aber nicht. Welche Schuld konnte das sein? Nachlässigkeit bei der Reduktion des ökologischen Fußabdrucks? Außereheliche erotische Phantasien? Die kleinen Vertrauensbrüche, wenn sie sich im angeregten Gespräch verplapperte? Dass sie nicht all ihren mittelständischen Reichtum den Ärmsten der Armen überließ? Oder waren es die Gewaltphantasien, die sie zunehmend heimsuchten?
Als Kind hatte ihr noch die Vorstellung eines effektiven Kinnhakens gereicht, um boshafte Gesellen aus dem Weg zu räumen. Als Teenager träumte sie von der eigenen maschinengewehrsalvenartigen, wortgewaltigen Schlagfertigkeit, mit der sie ihre Gegner schachmatt setzen wollte. In den Zwanzigern erschrak sie zum ersten Mal heftig über sich selbst, als sie sich bei der Vorstellung ertappte, einen renitenten Jugendlichen so lange vor die Wand zu klatschen, bis das Blut spritzte. Aus der Nummer war sie herausgekommen, indem sie mit ihrem Chef darüber redete, eine Idee davon bekam, dass das Objekt ihres Hasses ein elendes Opfer seiner Verhältnisse war und so hatte sie sich ihm mit systematischer Pädagogik zugewandt, war durch die Schale seiner Abwehr zu seiner verletzten Seele durchgedrungen und hatte sich um Heilung bemüht, tatsächlich mit Erfolg. Aus dem Enfant terrible mit der Schwerverbrecherprognose war ein erfolgreicher, bürgerlicher Unternehmer geworden, mit reizender Gattin und ehrenwerter Presse. Seitdem hatte sie sich bei jedem garstigen Jungspund immer dieses Geschichte vor Augen geführt und sich in Empathie geübt, sich auch vom Scheitern nicht entmutigen lassen, denn sie scheiterte ja nicht jedes Mal.
In den Dreißigern hatte das Gewaltpotential dann noch einmal angezogen. Da hatte sie nach der Lektüre eines Emma-Artikels über die Lage der Frauen in Afghanistan den glühenden Wunsch verspürt, sich bewaffnet mit einer Kalaschnikow in dieses Land zu begeben und die ganzen Frauenverächter wegzublasen, rattattattattatt umgemäht, bestraft, vernichtet. Sie wusste natürlich, dass sie dazu nicht in der Lage war, ebenso wenig wie zum Kinnhaken Verteilen oder zum Mundtotlabern mit flotten Sprüchen. Außerdem wusste sie auch, dass ein solches Vorgehen kein einziges Problem löste. Nicht einmal ein Tyrannenmord würde die Welt verbessern. Nicht Trump, Erdogan, Putin, Kim Jong Un, Johnson, Orban usw. waren das Problem. Das Problem waren die Leute, die diesen Brüllaffen ihre Stimme gaben, die ihre Macht legitimierten, die kein Erbarmen hatten mit denen, die darunter zu leiden hatten. Und wo war da ihre Schuld? Sie hatte die Neofaschisten in ihrem Land nicht gewählt, nicht einmal ihre Steigbügelhalter.
Der Türklopfer riss sie aus ihren Gedanken. Wer konnte das sein? Der Postbote benutzte immer die Klingel, der Schornsteinfeger auch. Sie schälte sich aus dem warmen Bett, schlüpfte in den weißen Bademantel, band ihn ordentlich zu und fuhr sich mit den Fingern durch die von der Nacht zerwühlten