Kirche im freien Fall. Cristina Fabry

Kirche im freien Fall - Cristina Fabry


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das mache ich nur zur Ablenkung, damit ich nicht zur Fachidiotin mutiere. Und du?“

      „Ich weiß noch nicht, was ich damit mache. Vielleicht wandere ich mal aus. Vielleicht freue ich mich aber auch nur, dass ich im Urlaub problemlos mein Essen bestellen kann.“

      In diesem Stil setzten sie ihr Gespräch fort und es war nicht zu übersehen, dass sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten, Kerstin zog es zu Gennaro, der dummerweise heute mit Stefan in Richtung Caféteria abzog, aber sie war zu unhöflich, um Carla zu erklären, dass sie nun keine Zeit mehr habe.

      Kerstin verstand nicht warum das passierte, aber Carla heftete sich an ihre Fersen, wollte sich dauernd mit ihr verabreden, setzte sich im Sprachkurs neben sie und tauchte auch bei jedem noch so überschaubaren, privaten Kurstreffen auf. Allmählich schlich sich der Verdacht ein, dass sie es auf Gennaro abgesehen hatte und Kerstin als Trittbrett benutzte, vielleicht Gennaro auch nur erobern wollte, damit Kerstin ihn nicht bekam.

      Während der vorlesungsfreien Zeit beruhigte sich die Situation. Kerstin absolvierte einen Ferienkurs in den Marken, einer kleinen, intimen Schule in Belforte All'Isauro, wo sie auch Gennaros Familie auf dessen Drängen einen Besuch abstattete und sie hätte Carla einfach vergessen, hätte sie im neuen Semester nicht wieder schmierig grinsend neben ihr Platz genommen. In diesem Halbjahr bot sich ein Hallenbadbesuch nach dem Sprachkurs an, Kerstin musste dringend etwas für ihre Fitness tun und Schwimmen war ihre bevorzugte Sportart – gleich nach Radfahren, Spazierengehen und Sofadümpeln.

      Carla fand, regelmäßiges Schwimmen täte ihr auch mal wieder gut und hängte sich auch hier an Kerstin, was dieser nun wirklich ein Rätsel war. Carla erklärte, es fördere den gesunden Muskelaufbau, wenn man vor dem Schwimmen flüssiges Protein zu sich nehme, beispielsweise einen Trinkjoghurt. Sie bot Kerstin ebenfalls einen an und weil die zu höflich war, abzulehnen, wurde es bald zur Gewohnheit. Nach dem Schwimmen lud sie Carla dann zum Kaffee ein – widerwillig, aber unfähig, sich aus dieser einengenden Pseudofreundschaft zu lösen.

      Weihnachten stand vor der Tür und damit auch der letzte Hallenbadbesuch in diesem Jahr. Im Januar würde sie eine Ausrede finden, das Schwimmtraining vorerst ruhen zu lassen. Sie träumte davon, Weihnachten bei Gennaros Familie in Belforte zu verbringen, aber so weit waren sie noch nicht. Vielleicht wären sie auch nie so weit, wer wusste das schon.

      Das Uni-Bad war erstaunlich leer, außer Carla und Kerstin pflügte nur eine ehrgeizige Schwimmerin durchs Becken, die schon bald ihr Programm absolviert hatte und nur noch die Schwimmaufsicht war im Raum. Kerstin war besonders erschöpft, das lag wohl an der Vorweihnachtszeit, was sie sah, verlor an Schärfe und als Carla plötzlich schrie, untertauchte, wieder auftauchte, schrie, wieder untertauchte, nahm sie dieses Schauspiel nur wie durch einen Schleier wahr. Die Schwimmaufsicht sprang ins Becken um die junge Frau mit dem Wadenkrampf zu retten, wie gut, dachte Kerstin, dann ist ja alles in Ordnung und als das Wasser in ihre Lungen strömte, wunderte sie sich über das eigenartige Gefühl; danach wunderte sie sich über gar nichts mehr.

      Als Kommissar Keller den Obduktionsbericht las, schüttelte er mit dem Kopf. Wie konnte eine erwachsene Frau mit abgeschlossenem Studium, Job und weitergehender Perspektive nur so bescheuert sein und im Drogenvollrausch schwimmen gehen? Vermutlich hatte sie geplant, auf derartig spektakuläre Weise ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ihre Begleitung war ebenfalls entsetzt, hatte erklärt, dass sie sich schon sehr lange kannten und sie ihr eine solche Handlung niemals zugetraut hätte, dass sie aber schon seit längerem äußerst verzweifelt gewesen sei und oft davon gesprochen habe, dass es sich bei ihrem Leben um eine Sackgasse handele. Dass sie sich tatsächlich mit Suizidgedanken trug, war ihr aber nicht klar gewesen, dann hätte sie sich um Hilfe bemüht.

      Kerstins Akte wurde geschlossen. Und Carla konnte sie nun endlich auch schließen und neu durchstarten.

      Blutige Erben

      Es war ein gewaltiger Zug. Sie trugen ihn an einen Pfahl gebunden durch die Straßen, eine aufgewühlte Menschenmenge um ihn herum, wie bei einer sizilianischen Karfreitags-Prozession. Oder hing er an einem Kreuz? Sie konnte es nicht einmal sagen. Sein Rücken war gerade und in einer Kurve hatte sie kurz einen Blick auf sein Gesicht erhaschen können: starr und hölzern, wie bei einer Puppe.

      Sie wollte in Kontakt treten und in seine sehenden Augen blicken, die sie erkannten, aber das wollten alle anderen auch, sie sah nur von weitem seinen Rücken. Sie kämpfte sich weiter nach vorne, entschlossen, mit der Energie einer Verzweifelten. Ihr stockte der Atem: Seine Haut war fast schwarz, nicht dunkel pigmentiert, sondern so, als wäre sie verbrannt – oder verrottet.

      Sie stellte sich seinen Trägern in den Weg und blickte hoch in sein Gesicht, doch sie sah nichts als Leere darin. Sein Kopf kippte vornüber, ein Sterbender am Kreuz, ein Gekreuzigter, ein Gestorbener.

      Die Menge schob sie zur Seite und trug ihn weiter. Sie fiel, stand wieder auf, rannte hinter ihm her. Sie musste ihn berühren, wenn sie ihn nur einmal kurz anfassen könnte, dann würde er wieder atmen, zurückkehren.

      Sie schaffte es, legte ihre Hände auf seinen festen, geraden Rücken. Aber er war schwarz, seltsam hart und kalt. Nicht eiskalt wie eine erstarrte Leiche, aber kalt genug, um zu spüren, dass das Leben aus ihm gewichen war. Sie weinte, schrie, heulte, rief seinen Namen. Er wurde fortgetragen.

      Was für ein Scheißtraum. Sie träumte nie von Hannes, da gab es nichts zu verdrängen, das sich im Schlaf Bahn brechen musste. Und jetzt so ein gruseliger Schwachsinn. Hannes als Gekreuzigter und sie selbst als Maria Magdalena. Dabei wollte ihn niemand kreuzigen, er opferte sich nicht, er ging nur einfach fort, würde munter weiter leben.

      Und er ließ auch kein Chaos zurück, hatte allen, die seine Aufgaben übernehmen sollten, seine Unterstützung zukommen lassen. Trotzdem würde er eine große Lücke hinterlassen, riesige Fußstapfen, in denen niemand sicher und zielgenau gehen konnte so wie er. Aber so war das mit den Heilsbringern, Supermenschen, Nächstenliebemultiplikatoren: sie hatten viel zu geben, trösteten, heilten, retteten, bauten auf, machten es allen schön und hinterließen Stabilität, Orientierung, liebe Erinnerungen, Stärkung, Wärme, Licht und jede Menge Schmerz und Traurigkeit, wenn sie ihr Wirkungsfeld verließen. Ihre Nachfolger hatten es schwer, aber sie teilten es unter sich auf.

      Und dann brach doch das Chaos aus. Obwohl längst abgesprochen war, dass Larissa sein wichtigstes Ressort übernehmen sollte, kam plötzlich Konrad aus der Deckung der chronisch desinteressierten Tatenlosigkeit und brachte einen anderen Kandidaten ins Spiel. Er würde Till ansprechen und sie ahnte, wie er dazu kam. Mit Larissa hatte Konrad Stress, und außerdem beherrschte sie sein Arbeitsgebiet besser als er. Das wurmte ihn.

      Der karrieregeile Till würde nicht einen Moment zögern, die Chance ergreifen, die Ressortleitung übernehmen, wenn man ihn ließ. Und man würde ihn lassen, denn er war ein Meister der Selbstinszenierung, der es verstand, sich zu verkaufen. Die Arbeit hinter den Kulissen überließ er gern den anderen. Er würde sie alle instrumentalisieren, um seine Projekte umzusetzen und sich damit ein dickes Brett für den nächsten Karrieresprung zu sichern.

      Larissa dagegen tat, was getan werden musste, hielt den Mitarbeitenden den Rücken frei, hielt sich selbst im Hintergrund, stärkte, unterstützte beratend, gab Impulse, äußerte Bedenken. Etwa so, wie Hannes es auch gehalten hatte.

      Nach dem Chaos saß sie vor diesem schmucklosen Schreibtisch und fragte sich, ab welchem Punkt es falsch gelaufen war. Wäre sie etwas schneller gewesen, hätte es nur einen Toten gegeben und sie wäre womöglich davon gekommen. Egal, welchen von beiden sie sich zuerst vorgeknöpft hätte, es hätte das Ableben des anderen überflüssig gemacht, nur rechtzeitig hätte sie handeln müssen. Hatte sie aber nicht.

      Um zu verhindern, dass Konrad sein Anliegen überhaupt an Till herantrug, hatte sie ihm nach Feierabend aufgelauert – er parkte seinen Wagen gern in einer dunklen Ecke – und blitzschnell seine Beinschlagader mit einem sehr scharfen Küchenmesser durchtrennt. Als er zusammensackend nach dem Warum fragte, erklärte sie: „Du hättest uns Till vor die Nase gesetzt. Das muss ich verhindern.


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