Lotta und ich. Nicole Kunkel
hat, dass das, woran ich litt, nicht normal war. Endlich! Leider hatte zu diesem Zeitpunkt die Endometriose schon Organe zerstört. Meine Gebärmutter war nicht mehr zu retten, die Eierstöcke verklebt. Mein Bauchfell war komplett vernarbt und musste raus. Im Gegensatz zu meinem Uterus wächst das aber glücklicherweise nach. Nur ein Kind wird niemals mehr in mir wachsen, ob ich das will oder nicht. Wenigstens wusste ich nach den ganzen Jahren endlich, was mich mit diesen abartigen Schmerzen peinigte.
Die ganze Odyssee mit zahlreichen schmerzhaften Untersuchungen und Operationen hat jedoch Spuren hinterlassen.
›Re-Traumatisierung‹ nennen es die Fachleute. Der Krater meiner alten Wunden von den traumatischen Kindheitserlebnissen wurde nicht nur wieder aufgerissen, sondern mit Benzin übergossen und angezündet. Und auf einmal ist heute selbst simples Blutabnehmen für mich ein Höllentrip. Mein Bewusstsein macht, was es will. Entweder spaltet es sich komplett ab oder es schaltet in den Kleinkindmodus. Ich kann nichts mehr steuern und breche von jetzt auf gleich schreiend in Tränen aus.
Kurz gesagt: Fast zwanzig Jahre Therapie und harte Aufarbeitung, die mir bis dahin einen einigermaßen stabilen Alltag ermöglicht hatten, sind wie weggewischt und meine Trauma-bedingten Symptome schlimmer denn je.
Hier sitze ich, fühle mich immer noch oft wie ein hoffnungsloser Fall und on top steht die Diagnose Endometriose. Bis heute gibt es kein Heilmittel. Also heißt es, damit leben zu lernen, irgendwie. Die Krankheit ist weit verbreitet, aber man sieht sie den Betroffenen äußerlich meist genauso wenig an wie psychische Leiden. Das bringt uns wieder an den Ausgangspunkt zurück und zu der Frage:
»Wozu braucht denn eine äußerlich kerngesunde junge Frau einen Assistenzhund und was ist das überhaupt?«
Oft stoße ich im Alltag auf Unverständnis und beinahe unüberwindbare Hürden. Ob in Supermarkt oder Arztpraxis. Sprüche wie den Folgenden höre ich leider immer wieder: »Stopp mal! Hier dürfen Hunde nicht rein! Können Sie denn nicht lesen? Was denken Sie sich denn eigentlich dabei?«
Ja, was denke ich mir eigentlich? Immer brauche ich eine Extrawurst. Wer bin ich, dass ich mir sowas herausnehme? Ich bin die, die dafür kämpft, ein einigermaßen selbstständiges und vor allem selbstbestimmtes Leben zu führen, ohne mich ständig dafür erklären und rechtfertigen zu müssen. Ich habe es satt, an meine Wohnung gefesselt zu sein. Auch ich möchte und muss einmal raus vor die Tür. Zumindest will ich es versuchen können, und zwar jeden Tag aufs Neue. Muss ich meine Hilflosigkeit für jedermann nach außen hin sichtbar machen? Muss ich dafür mehrmals täglich fremden Menschen auf die Nase binden, dass ich für die ganz alltäglichen Dinge Hilfe benötige, weil ich das allein nicht schaffe? Muss ich jedem erklären, dass es eben nicht dasselbe ist, wenn mir fremde Menschen helfen, anstatt ein speziell dafür ausgebildeter Hund, den ich kenne und dem ich vertraue, wenn ich mal wieder die Orientierung verliere oder eine Panikattacke bekomme?
NEIN! Muss ich nicht, kann ich nicht und will ich nicht.
Mehr Aufklärung ist wichtig. Ich möchte Mut machen, damit sich mehr Menschen trauen, aus ihren Gefängnissen auszubrechen und ins Leben zu springen. Dafür sollte sich niemand rechtfertigen müssen. Erst recht nicht für die Hilfsmittel, die dafür nötig sind, damit ein Mensch den Sprung wagen kann.
Das ist einer der Hauptgründe, weshalb ich dieses Buch schreibe, und ich finde es super, dass ihr Interesse an der Thematik habt und wissen wollt, was alles so dahintersteckt.
Ich hoffe, dass ich euch einen guten Einblick verschaffen kann.
Ich weiß noch, wie viele Fragen und Zweifel ich zu Beginn hatte. Viele davon habe ich mich kaum getraut zu stellen.
Meine Unsicherheit war grenzenlos und wurde immer stärker, je mehr ich gegoogelt und nach Antworten gesucht habe.
Ich möchte hier vermitteln, was es bedeutet, einen Assistenzhund zu haben – mit allen Konsequenzen, allen Vor- und Nachteilen.
Ich möchte aufklären, wie wichtig Verständnis und Unterstützung für Betroffene sind.
Lotta und ich erzählen euch von den Stolpersteinen und Herausforderungen, die sich aufgetan haben und die wir tagtäglich überwinden. Wir erzählen auch von den Dingen, die wir besser mal vorher gewusst hätten, damit uns eine Menge Ärger und Leid erspart geblieben wäre.
Eine besondere Stellung in diesem Buch hat der Hund, dieses treue Wesen, das in der Lage ist, so viel für den Menschen zu tun und zu verändern.
Mir ist es ein großes Anliegen, hervorzuheben, dass der Hund kein Roboter ist, kein Mittel zum Zweck, kein Dienstleister, der 24/7 wie einprogrammiert funktioniert und ansonsten ausgetauscht wird. Der Hund ist weder Rollstuhl noch Krücke. Er ist ein fühlendes Wesen, das an der Seite seines Menschen im Stande ist, Wunder zu vollbringen.
Mit diesem Buch möchte ich für Interessierte und Betroffene etwas mehr Klarheit und Verständnis in Assistenzhund-Mythen bringen, wobei die Betroffenen mir aus persönlichen Gründen besonders am Herzen liegen, müssen sie doch viel zu oft für Verständnis und Hilfe kämpfen und diese suchen wie den Heiligen Gral.
In diesem Sinne wünsche ich euch viel Freude beim Lesen und hoffe, dass ihr nicht nur Antworten auf offene Fragen, sondern auch Mut, Kraft und Hoffnung im Buch findet.
Nicole Kunkel – Koblenz, im Juli 2021
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Bauchgeflüster
Lotta – Sommer 2019
Kuschelig ist es hier drin. Wohlig warm, aber so langsam wird es eng. Ich kann mich gar nicht strecken und ständig tritt mich irgendwer. Wie viele sind eigentlich mit mir hier drin? Bestimmt 'ne ganze Fußballmannschaft. Leute, macht mal ein bisschen Platz, ja?
Mal fühlen. Eins, zwei, drei. Menno! Was für ein Gewusel. Haltet doch mal still. So kann ich gar nicht zählen. Nochmal von vorne. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Ja! Sechs Köpfe mit meinem und eins, zwei, drei, …, 24! Sage und schreibe 24 Beine, wenn ich mich nicht vertan habe. Kein Wunder, dass ich ständig eins davon im Magen oder am Kopf habe …
Ich halte also fest:
Wir sind insgesamt sechs süße Schokowelpen. Labradore, genauer gesagt. Und das noch dazu in einer perfekten Mischung. Haargenau drei Mädels und drei Jungs sind wir. Meine Brüder haben etwas weniger Braun abbekommen. Sie sind heller als wir Mädchen. Unser Fell hat die Farbe von Zartbitterschokolade und ist fast schon schwarz, während die Jungs aussehen, als hätten sie nur kurz in Latte Macchiato gebadet. Aber, dass ihr mir jetzt nicht auf blöde Ideen kommt, von wegen Schokolade und Kaffee. Beides ist für uns Hunde hochgiftig. Lasst bitte niemals Süßes, Chips, Nüsse oder so Zeug herumliegen, denn wir Labradore stellen in Sachen Futtervernichtung alle Hunde in den Schatten. Wir sind wahre Fressmaschinen und saugen in Millisekunden alles auf, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Dabei sind wir nicht wählerisch. Selbst vor Plastik, Glas und ähnlich gefährlichen Dingen schrecken wir nicht zurück. Und solche Sachen haben in einem Hundemagen rein gar nichts zu suchen. Die bringen uns schneller in lebensgefährliche Situationen, als ihr »Aus« sagen könnt. Passt also immer gut auf. Denn wie heißt es so schön? Ordnung ist das halbe Leben, vor allem, wenn ein neugieriges und gefräßiges Hundebaby bei euch herumspringt.
Aber, wo war ich stehen geblieben? Genau! Bei meinen Geschwistern und mir. Noch sind wir im Bauch von Mama Emma. Unser Papa ist der beeindruckende Balu. Ein stattlicher Kerl ist das, aber unsere Mama ist auch nicht von schlechten Eltern. Ihre Mutter Lilli, also meine Oma, ist nämlich eine waschechte Assistenzhündin. Ich habe keinen Schimmer, was das genau ist. Auf jeden Fall habe ich schon mitbekommen, dass es etwas ganz Besonderes ist, das nicht jeder Hund werden