Lotta und ich. Nicole Kunkel

Lotta und ich - Nicole Kunkel


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tue ich sie auch noch. Vor den Menschen, die ihr oft Angst machen. Da wäre ich ihre Rückendeckung. Ich schirme sie ab oder verbelle einen aufdringlichen Menschen, wenn es sein muss. Ich führe sie aus Menschenmengen an einen ruhigeren, sicheren Ort, wenn sie Angst bekommt oder die Orientierung verliert.

      Wenn ich Tina richtig verstanden habe, dann schafft Nicole es gar nicht mehr allein raus. Könnt ihr euch das vorstellen?

      Gar nicht mehr vor die Tür zu gehen? Das ist doch furchtbar.

      Mit mir könnte sie das aber wieder lernen. Das sind alles wichtige und spannende Aufgaben und ich will diesen Beruf unbedingt machen. Hoffentlich klappt es! Ich lerne, so gut ich kann. Ich weiß schon ganz viel über diese Trauma-Sache. Jeder Mensch braucht unterschiedliche Aufgaben von einem Assistenzhund. So individuell, wie wir Hunde sind, sind eben auch Menschen und so geht jeder anders mit schlimmen Erfahrungen um. Die Symptome sind vielfältig und doch werden sie alle unter dem Begriff PTBS zusammengefasst. PTBS steht für Posttraumatische- Belastungsstörung. Die haben Menschen, wenn ihnen was ganz Schreckliches zugestoßen ist. Zum Beispiel, wenn sie eine schwere Krankheit bekommen, die sie belastet oder wenn ihnen jemand anderes wehgetan hat und sie sich nicht wehren konnten.

      Das kann in der Kindheit passiert sein oder später.

      Viele Soldaten haben das zum Beispiel, wenn sie aus dem Krieg wieder nach Hause kommen.

      Was genau Krieg ist, weiß ich nicht, aber es muss etwas Schlimmes sein, weil es mit Kämpfen und Tod zu tun hat. Auf jeden Fall sind da immer, wenn Menschen davon reden, unangenehme Gefühle dabei. Hass, Wut und Verzweiflung habe ich schon gespürt. Es ist gar nicht so leicht, weil alles so heftig in den Menschen durcheinanderwirbelt. Bei Nicole habe ich das auch bemerkt.

      Ob in ihr drin Krieg herrscht? Das muss ich unbedingt herausfinden.

      Sie braucht einen PTBS-Assistenzhund. Ihr sind nämlich schlimme Sachen zugestoßen. Bestimmt hat sie deshalb auch solche Probleme mit dem Vertrauen in Menschen. Ja, sie kämpft innerlich mit extremen Gefühlen. Ihre Angst, die Unsicherheit und wie verloren und verletzt sie ist, habe ich sogar durch Mamas Bauch gespürt. Jetzt weiß ich schon ein wenig, wieso sie so fühlt, und ich will ihr unbedingt helfen. Ich spüre, dass ich das kann. Hoffentlich sieht das die Chefin auch. Sie kennt sich ja auf dem Gebiet gut aus. Wäre doch gelacht, wenn ihr das nicht direkt ins Auge springt, sobald ich hier endlich rauskomme und sie mich sieht. Ich bringe die Eigenschaften für einen solchen Job mit. Das ist schon mal sicher, oder? Und ich strenge mich an, noch so viel wie möglich zu erfahren, damit ich bestens vorbereitet bin.

      Das muss klappen. Drückt mir die Pfoten!

       4

      

      

      

       Hoffnung und Zweifel

      

      

      

       Nicole

      

      Eine weitere schlimme Nacht liegt hinter mir. Die Sonne lugt zaghaft durch dicke, schwere Wolken hindurch. Die Übelkeit und Panikwellen haben etwas nachgelassen. Tee und der Zwieback sind im Magen geblieben. Chris und ich haben einen kleinen Vorrat eingekauft, damit immer etwas davon da ist.

      Der Darm grummelt und krampft zwar noch missmutig vor sich hin, aber immerhin hat mich die Toilette jetzt über eine Stunde nicht mehr gesehen.

      Alles tut weh, am schlimmsten Unterleib und Kopf.

      Es ist, als würde eine grausame, unsichtbare Kraft an jedem Zentimeter meines Körpers so lange herumzerren, bis ich endlich zerreiße. Als Sahnehäubchen obendrauf treibt mich dieses abartige Brennen in Blase und Becken in den Wahnsinn. Ich kann nicht sitzen. Liegen ist genauso unerträglich. Also rutsche ich von einer Pobacke auf die andere, während ich meinen Kräutertee trinke. Ich stehe immer wieder auf und wandere ziellos durch die Wohnung, als könnte ich den Schmerzen und unangenehmen Bildern von früheren Erinnerungen entkommen, die auf mich einströmen wie ein Blitzlichtgewitter.

      Den Traum vom eigenen Hund, träume ich schon seit Kindertagen. Schon immer wünschte ich mir einen treuen Begleiter, der an meiner Seite ist, dem ich vertrauen kann, der mich aufrichtig liebt, ohne Bedingungen und Forderungen zu stellen. Dem ich das auch glauben kann. Gibt es so etwas?

      Ein Hund, der mir all das schenkt und mir dazu noch hilft, die Hürden meines Lebens zu überwinden?

      Darf ich mir das wünschen?

      Im Moment ist das Ganze so unrealistisch wie Weihnachten im Juli.

      Die Angst, dass ich wieder einer Wunschvorstellung hinterherjage, die niemals in Erfüllung gehen kann, verdunkelt jeden kleinen Funken Hoffnung. Zu oft bin ich bei meinen Versuchen gescheitert, etwas zum Besseren zu verändern.

      Will ich zu viel? Ich möchte doch nur ein normales Leben führen. Darf ich das erwarten? Habe ich die Kraft, gegen noch mehr hartnäckige Windmühlen zu kämpfen? Steht mir solch ein Hund überhaupt zu? Wie finanziere ich das Ganze auf lange Sicht? Stiftungen und Fonds sind nicht auf Dauer dafür da und die Krankenkasse übernimmt erst gar keine Kosten. Gesetzlich sind sie nur für die Finanzierung von Blindenführhunden verpflichtet und selbst das müssen sich die meisten hart erkämpfen, da der ›Medizinische Dienst der Krankenversicherungen‹ oft der Meinung ist, ein Blindenstock hätte denselben Nutzen.

      Hoffnung und Verzweiflung spielen Tauziehen in meinem Kopf.

      »Das klappt eh nicht. Wird bestimmt genauso abgelehnt wie alles andere«, sagt meine innere Stimme, der ich mit jedem Tag mehr Glauben schenke. Aber immer, wenn ich im Internet auf Beiträge über Assistenzhunde stoße und sehe, wie sie Menschen mit PTBS helfen, kommen mir die Tränen. Dann flammt die Hoffnung neu auf, dass mir ein Hund den Alltag auf diese Weise erleichtern könnte. Aber bin ich den Belastungen, die durch Haltung und Ausbildung dieses Hundes neu hinzukommen, gewachsen?

      Vom ganzen im Kreis drehen wird mir schwindelig. Ich fühle mich unsagbar müde.

      Wie soll das werden, wenn ich mich zusätzlich noch um einen Hund kümmern muss? Ich bin doch null belastbar. Solche Tage wie heute sind die Regel bei mir. Was mache ich dann mit dem Hund?

      Wer geht Gassi? Wer sorgt für Auslastung und Beschäftigung, wenn ich nicht vom Klo komme oder mich vor Schmerzen kaum bewegen kann? Chris hat mir zwar Hilfe versprochen, aber er ist durch seine Vollzeitstelle als Fahrer die meiste Zeit des Tages gar nicht zu Hause.

      »Mach dir nicht immer so einen Kopf. Das kriegen wir schon hin«, hat er gesagt. Er sieht das alles nicht so eng und ist der Meinung, dass ich generell zu viel und zu oft zweifle.

      Das stimmt zwar, aber es geht hier nicht um die Anschaffung eines neuen Computers. Es geht um ein Lebewesen. Das tauscht man nicht mal eben wieder um oder gibt es zurück, wenn es dann doch nicht funktioniert. Nein. Das Ganze muss schon vorher gut durchdacht sein.

      Was ist, wenn ich wieder ins Krankenhaus muss oder von jetzt auf gleich zur Krisenintervention in eine Klinik?

      Wer versorgt dann den Hund? Chris kann ihn nicht mit auf die Arbeit nehmen und einen Welpen acht bis zehn Stunden zu Hause allein lassen geht auf keinen Fall.

      Ein gutes soziales Netzwerk zur Unterstützung wäre hier mehr als sinnvoll, aber wo soll ich das jetzt auf die Schnelle hernehmen? Ich habe nur Chris. Er und die Katzen sind meine Familie.

      Die Online-Kontakte auf den Social-Media- Plattformen können mich mit dem Hund zu Hause nicht unterstützen und die paar Freunde, die ich habe, wohnen entweder zu weit weg oder kämpfen selbst mit ihrem Alltag.

      Sabrina, die Hunde-Trainerin, zu der ich


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