Lotta und ich. Nicole Kunkel

Lotta und ich - Nicole Kunkel


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Familie so ein besonderer Typ von Hund. Mit Glück ist aber manchmal eine oder einer dabei, der mit diesen speziellen Charakterzügen ausgestattet und damit für diese Karrierelaufbahn geeignet ist. Dabei kommt es gar nicht auf die Rasse an. Auch Mischlinge können das im Blut haben. Ist das nicht voll spannend? Soll ich euch mal was verraten? Ich will sowas machen. Menschen helfen – das ist eine gute Sache. Ich wünsche mir, dass ich so eine Assistenzhündin werden kann. Das wäre stark. Hach, ich bin so aufgeregt. Die anderen hier sind das auch alle. Wir werden sehnsüchtig erwartet. Erst gestern war eine junge Frau bei uns zu Besuch, die hat Mama über ihren Bauch gestreichelt. Sie wünscht sich einen Assistenzhund. Nicole heißt sie. Auch, wenn das jetzt verrückt klingt, ich habe ihre Berührung und ihre Hoffnung gespürt. Noch dazu war sie meganervös. Warum auch immer, hat sie Sorge, dass Tina, unsere Züchterin und die Chefin hier, ihr keinen Hund gibt. So ein Unsinn. Unsere Chefin fragt sie nur so aus, um zu schauen, was für einen Charakter der Welpe haben muss, wer zu ihr am besten passen wird, und was er oder sie später alles bei ihr leisten soll. Klar will sie Nicole abchecken, ob sie sich der Verantwortung bewusst ist und ein Welpe bei ihr gut aufgehoben ist. Das macht sie bei allen, die einen Welpen aus unserer Zucht adoptieren wollen. Schließlich will sie nur unser Bestes. Wir sollen in gute Hände kommen. Warum Nicole denkt, dass ihre Hände nicht gut genug sind für einen von uns, und warum sie diese komische innere Überzeugung hat, dass ihr kein Hund zusteht, verstehe ich nicht. Verrückt, oder? Warum hat sie solche Gedanken? Warum denkt ihr Menschen immer so viele und komplizierte Dinge? Keine Ahnung, wo das bei Nicole herkommt. Jeder hat doch einen treuen Wegbegleiter verdient. Warum auch nicht? Auf jeden Fall geht mir Nicole durch und durch. Ich glaube, ich kann ihr helfen. Hoffentlich, oh hoffentlich bin ich die Richtige.

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       Und täglich grüßt der ganz normale Ausnahmezustand

       Nicole – Sommer 2019

      Gleich geht die Sonne auf und ich habe keine Minute geschlafen. Die Nacht hat sich wie Kaugummi gezogen. Jede Sekunde davon eine einzige Qual. Ich habe aufgegeben, die Panikattacken zu zählen, die sich, wie fast immer, nahtlos aneinanderreihen, als ob sie sich wie grausame Nachtwächter zum Tor der Hölle gegenseitig ablösen.

      Ich stürze ins Bad, wo der Eimer schon vor der Toilette bereitsteht. Rechtzeitig schaffe ich es, die gewohnt, verhasste Position einzunehmen, in der ich verkrampft auf der Kloschüssel hocke, den Eimer umarme und das Gefühl habe, meine kompletten Eingeweide herauszuwürgen, die nicht untenrum in die Keramik platschen. Einige Strähnen rutschten mir bei der Aktion in die bittersaure Gallensuppe. Wie Slimer von den Ghostbusters kleben sie dort, weil ich es wieder einmal nicht rechtzeitig geschafft habe, meine Mähne zu bändigen.

       Duschen. Ich muss duschen, dringend.

      Ich ignoriere bewusst mein Spiegelbild. Dieses zitternde Elend, das mehr einem ES oder einem gruseligen Zombie ähnelt als einer Frau, möchte ich jetzt nicht sehen, auf gar keinen Fall. Ich muss mich beruhigen. Atme. Nicole, atme. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Einatmen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Ausatmen. Nein, du musst jetzt nicht schon wieder kotzen. Atme und denk an was Schönes und riech auf gar keinen Fall an deinen Haaren!

      Ich schleppe mich unter die Dusche und versuche ein- und auszuatmen, ohne dass mir dabei der säuerliche Geruch meiner besudelten Strähnen in die Nase weht.

      Das viel zu heiße Wasser läuft an mir herunter. Ich werde das aber erst später an den roten Flecken auf der Haut bemerken.

      Mein Körpergefühl hat sich schon lange ins Nirwana verabschiedet, falls ich es überhaupt jemals besessen habe.

      Ich kämpfe gegen die Übelkeit, die in meinem Bauch zu einer weiteren Runde ruft: »Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Auf geht der Spaß.«

      Eine neue Riesenwelle der Panik rollt in mir an. Zu blöd, dass Erbrechen sowie die Angst davor seit meiner frühesten Kindheit Trigger sind, die die ganze Panikkugel erst lostreten. Was für ein beschissener Kreislauf.

      Ich greife mir ein Handtuch und hechte aus der Dusche zum Klo. Triefendnass rutsche ich mehr, als dass ich sitze mit dem Eimer im Arm auf dem Toilettensitz hin und her. Es fühlt sich an, als würde meine gesamte Speiseröhre in Flammen stehen, während ich Benzin hochwürge, das den Brand in Schach hält.

      Es muss ein sehr einladendes Feuer in mir sein, denn nun stoßen auch noch Blase und Unterleib in die lustige Runde am Lagerfeuer dazu.

      Sie krampfen und brennen alle zusammen um die Wette, als gäbe es kein Morgen mehr. Ich sterbe, denke ich und mir fällt die äußerst aufbauende Bemerkung meines letzten Psychiaters wieder ein:

      »An einer Panikattacke ist noch keiner gestorben.«

      Stimmt. Ich lebe noch, aber eine gruselige Sehnsucht nach dem Tod, nach einer Erlösung, danach, dass das alles endlich aufhört, wabert in meinem Kopf wie erstickender Rauch.

      Ich kann nicht mehr. Alles um mich herum dreht sich und vor lauter Tränen und Schweiß sehe ich nur verschwommen. Trotzdem erkenne ich sowohl das alte als auch das hellrote, frische Blut in der Kloschüssel, als ich das kurze Abebben der Würge- und Schmerzflut nutze und mich aufrappele.

      »Sehr wahrscheinlich hat die Endometriose Ihren Darm befallen«, schießen mir die letzten Worte meines Frauenarztes in den Kopf, bei dem ich schon wieder viel zu lange nicht mehr zur Kontrolle war. Aber die Darmspiegelung hatte doch nichts Besorgniserregendes zu Tage gebracht.

      »Das heißt gar nichts«, hatte mein Arzt gesagt. »Die Wucherungen können von außen am Darm liegen. Das sieht man dann nicht in der Koloskopie. Genau das ist das Heimtückische an dieser Erkrankung.« Natürlich lässt sich dieser Verdacht nur in einer weiteren Operation ergründen, bei der sie dann direkt in einem Abwasch die neuen Herde mit samt betroffenem Gewebe – in diesem Fall Darmstücke – entfernen. Schlimmstenfalls würde ich mit einem künstlichen Darmausgang aufwachen. »Nein, daran will ich nicht denken!« Ich drücke die Spülung.

      Da ist sicher wegen der ganzen Anstrengung und Würgerei nur ein Äderchen geplatzt, beruhige ich mich. Jeder Gedanke in die andere Richtung würde wieder eine weitere Panikattacke folgen lassen. Ich schaffe es ja nicht einmal mehr zu meinem einfühlsamen Gynäkologen, nach dem ich so lange gesucht habe. Wie soll ich da eine weitere Operation überstehen?

      Außerdem kommen diese blöden Wucherungen ohnehin kurz darauf wieder. Wozu das alles?

      Ich schiebe diese Gedanken in meinem Kopf so weit nach hinten, wie ich kann, und schleiche in die Küche.

      Inzwischen ist es sieben Uhr und mein Magen hat sich so weit beruhigt, dass ich es mit einem Tee versuchen will.

      Vielleicht mildert der die schlimmsten Krämpfe und das erdrückende Schwindelgefühl etwas ab.

      Ich warte darauf, dass das Wasser kocht. Ein Schmerz, der mir den Atem raubt, schießt durch meinen Unterleib, gefolgt von einem Flashback-Gewitter in meinem Kopf aus längst vergangenen Bildern, die schlimmer sind als jeder Horrorfilm.

      Es ist vorbei. Dir passiert nichts. Du bist hier in Sicherheit. Atme, Nicole, atme. Das geht vorbei, wiederhole ich in meinem Kopf das Mantra, das ich in der Traumatherapie gelernt habe und das mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Aber es hat keinen Zweck. Unnötig mich zu fragen, warum. Mein Mund wird immer trockener, ich zittere, als ob Starkstrom durch meinen Körper jagt


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