Lotta und ich. Nicole Kunkel

Lotta und ich - Nicole Kunkel


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Ich brauche Hilfe. Verzweiflung lähmt jeden anderen Gedanken. Ich stolpere durch die Wohnung. Vor und zurück. Hin und her. Wie ein Tiger im Käfig, der nach einer Fluchtmöglichkeit sucht. Doch es gibt keine. Inzwischen meldet sich eines der Kinder in meinem Kopf und übernimmt die Kontrolle. Ich bin im Kleinkindmodus, schluchze, weine und hätte ich nicht so eine Angst vor fremden Menschen, würde ich jetzt mit hundertprozentiger Sicherheit runter zur Nachbarin rennen, um sie anzuflehen »Bitte mach, dass das aufhört. Bitte hilf mir!« Nichts wünsche ich mir mehr als eine tröstende Umarmung, jemanden, der mich einfach nur festhält und mein verrücktes Nervensystem beruhigt. Dabei weiß der erwachsene und erfahrene Teil in mir genau, dass ich eben das gar nicht aushalten kann. Ich würde es nicht zulassen, selbst wenn es eine solche Person gäbe, die das tun würde.

      Wenn du zu oft die Erfahrung gemacht hast, dass du keinem Menschen vertrauen kannst, dann ist das so.

      Es gab Menschen, die für mich verantwortlich waren und für die ich meine Hand ins Feuer gelegt hätte. Genau das wurde mir zum Verhängnis und sogar lebensgefährlich. Sowas brennt sich ein.

      Es ist ein langer Weg, andere Erfahrungen zuzulassen und ein noch viel längerer zur Heilung. Ich gehe ihn auf wackligen Beinen, auch wenn ich das Ende des Weges nicht sehen kann.

      Das Kind in mir greift zum Telefon und ruft Chris, meinen Lebensgefährten, an. Vor lauter Schluchzern, die ihm durch den Hörer ins Ohr plärren, muss er mehrfach nachfragen und legt fast wieder auf. »Nici? Beruhige dich. Du musst dich beruhigen.«

      »Ich kann nicht. Bitte komm. Du musst heimkommen. Bitte. Bitte hilf mir doch«, jammere ich ins Telefon und kann förmlich sehen, wie er mit den Augen rollt. Ob er genervt ist oder überfordert, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht ist er nur in seiner eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit gefangen. Er seufzt. »Das geht nicht. Ich muss arbeiten. Beruhige dich.«

      »Hab solche Angst. Mir ist so schlecht. Bitte, ich kann nicht mehr«, schluchze ich und fühle mich immer verlorener. Gleichzeitig schäme ich mich, kann aber nicht anders und höre mich flehen: »Bitte komm doch nach Hause. Ich brauche dich.«

      Er seufzt diesmal eine Oktave lauter. »Du schaffst das schon. Mach dir was zu Essen. Du musst etwas essen, dann beruhigt sich dein Magen. Und dann schnappst du dir eine Katze und legst dich hin. Versuche einfach zu schlafen. Du musst dich beruhigen.«

      Ich lege auf, ohne noch etwas zu sagen. Das Gefühl, allein und vollkommen hilflos zu sein, schwappt in eine neue Dimension.

      Ich schlucke den riesigen Kloß aus Scham runter und schwöre mir, ihn in solch einer Situation nie wieder anzurufen. Verhalte dich nicht wie ein Baby. Du bist erwachsen, verdammt, beschimpfe ich mich und fühle mich dabei unsagbar unfähig und einsam. Warum ist das alles so schwer? Einfach beruhigen. Einfach atmen. Einfach nur leben. Einfach. Ja, alles easy peasy, denke ich und komme mir saublöde vor.

      Tiere! Mit denen ist's leichter und sie sind immer für mich da. Ich suche die Wohnung nach einer meiner drei Katzen ab. Wo liegen die nur wieder herum? Ich finde keine meiner Fellnasen. Katzen eben. Ich spüre diesen brennenden Kloß im Hals und wünsche mir, Lara wäre noch da. Das war meine Seelenkatze.

      Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ich liebe jede meiner schnurrenden Fellknäuel mehr als mich selbst. Jede ist auf individuelle Art etwas Besonderes. Ich schätze Katzen vor allem wegen ihrer Unabhängigkeit und ihrem eigenen Kopf, auch wenn es oft Situationen gibt, in denen ich es mir anders wünsche, weil ich Trost brauche. Genau dann vermisse ich Lara am meisten, meine wuschelige, graue Maunz-Kugel. Sie war vom Charakter her mehr Hund als Katze, immer an meiner Seite und doch eigensinnig speziell. Still war es mit ihr nie, da sie immer etwas zu erzählen hatte und lautstark genau die Liebe von mir eingefordert hat, die sie mir entgegenbrachte. Sie hat mich sogar aus Albträumen geweckt, liebevoll abgeschleckt, beruhigt und wieder in den Schlaf geschnurrt. Sie wäre eine gute Assistenzkatze gewesen, wenn es so etwas gäbe. Leider ist sie 2018 mit fast 16 Jahren über die Regenbogenbrücke gegangen und ich vermisse sie seitdem jeden einzelnen Tag.

      Mein Magen krampft und ich spüre eine neue Welle aus Übelkeit in mir anfluten.

       Ganz ruhig. Atmen. Nicole, atme. Ein, aus.

      Mein Bauch grummelt. Hunger spüre ich keinen, nur Angst und neue Wellen, die sich zur nächsten Panikattacke formieren. Ablenkung. Muss mich ablenken. Essen, hat er gesagt. Ja. Ich sollte versuchen, etwas zu essen.

      Ich suche in der Küche und im Vorratsschrank nach irgendetwas Essbarem, von dem ich denke, es im Magen behalten zu können.

      Ein Nutella-Brötchen ist da eine eher schlechte Wahl. Cornflakes auch. Vielleicht Zwieback oder eine Banane. Nichts. Nicht einmal Knäckebrot ist da. Stimmt, heute ist Dienstag – Einkaufstag. No way. Das schaffe ich nicht. Nicht allein. Vor die Tür zu gehen ist undenkbar. Ich fühle mich verloren. Und da ist sie wieder, diese beschämende Hilflosigkeit. Sie macht sich in mir breit und droht mich innerlich zu zerreißen.

      Und dann ist der Panik-Tsunami da und reißt binnen Sekunden all diese Gefühle mit sich.

       3

      

      

      

       Vorfreude

       Lotta

      Hach Leute, es ist alles so aufregend. Inzwischen weiß auch Tina, die Chefin hier, dass wir existieren.

      Die Tierärztin hat dieses Ultraschalldings gemacht. Das ist ein Gerät, mit dem sie Mama in den Bauch leuchten, um uns zu sehen. Alle freuen sich jetzt wie Bolle.

      Die Assistenzhundesache wird immer öfter Thema. Mir entgeht hier nichts.

      Gestern habe ich aufgeschnappt, dass Nicole bei einer Frauenberatungsstelle war. Tina kennt die Chefin von dort – Frau Schmitt. Die beiden stehen in engem Kontakt. Chefs unter sich eben. Auf jeden Fall hat Frau Schmitt Nicole bei diesem komplizierten Antrag geholfen. Sie hat ihr Mut gemacht.

      Nicole hat sich dann getraut, bei einem speziellen Fonds, finanzielle Unterstützung zu beantragen, und zwar für die Anschaffung, Ausbildung und Haltung eines – jetzt haltet euch fest – Assistenzhundes. Das heißt, sie glaubt an mich und will mich zu sich holen. Jetzt guckt nicht so. Wenn ihr denkt, dass wir hier im Bauch von Mama nichts mitbekommen, dann täuscht ihr euch gewaltig. Auch, wenn ich nicht alles begreife, geht nichts an mir vorbei. Ich spüre mehr, als ihr denkt und die Dinge, die ich nicht verstehe, die schnappe ich von meiner Mama oder Oma Lilli auf.

      Assistenzhund zu werden, das ist mein großer Traum, meine Bestimmung, das liegt mir einfach im Blut. Den Rest macht nachher meine Spezialausbildung. Aber es schadet ja nichts, gut vorbereitet zu sein. Deshalb saug ich über die Nabelschnur und mit meiner übermenschlichen Wahrnehmung alles dazu auf.

      Ich will unbedingt Nicoles Assistenzhündin werden.

      Wir gehören zusammen. Das spüre ich.

      Ich erfahre jeden Tag Neues. Zum Beispiel, dass es verschiedene Arten von Assistenzhunden gibt, mit komplett unterschiedlichen Aufgaben. Je nach Einschränkungen des Menschen, den sie unterstützten. Das können Menschen mit körperlichen Behinderungen sein, aber häufig auch welche mit psychischen Problemen. Oft gibt es Zusatzaufgaben, die die Assistenzhunde leisten, die sie dann gleichzeitig zu sogenannten Warnhunden machen. In solchen Fällen können sie spüren und erschnuppern, dass sich im Körper ihres Menschen etwas gefährlich verändert.

      Ob der Blutzuckerspiegel sinkt, oder ob ein epileptischer Anfall droht. Das ist der Hammer. Will ich unbedingt lernen, wenn ich groß bin. In Nicoles Fall müsste ich beides sein, hat Oma gesagt. Wenn man es genau nimmt, sogar drei in einem. Quasi ein Assistenz-Warn-Schutzhund. Seelentröster bin ich obendrein.

      Nicole hat zwar keine Epilepsie aber die Anfälle, die sie hat, ähneln diesen sehr. Sie ist dann vollkommen hilflos und im besten Fall


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