Yester und Li. Bernhard Kellermann
Ginstermann überschritt unwillkürlich die Straße, um den beiden unauffällig nachsehen zu können.
Sie waren bei einer Kunsthandlung stehen geblieben, und er bemerkte, wie Fräulein Schuhmacher den Kopf nach ihm wandte, während sie plauderte. Er blickte aber im selben Moment weg und tat, als habe er es nicht bemerkt.
Das Merkwürdige war, daß ihre Blicke ihn nicht auf der anderen Seite der Straße gesucht hatten.
Eine Weile kämpfte er mit der Versuchung, den beiden zu folgen und ihnen nach geraumer Zeit wie zufällig wieder zu begegnen. Allein es kam ihm schülerhaft, seiner unwürdig vor, und er setzte seinen Weg fort. Er blickte sich auch nicht mehr um, obschon es ihm eine förmliche Anstrengung kostete, seinen Kopf gerade zu halten, den eine unsichtbare Hand zu drehen versuchte.
Aber seine Gedanken, die eben noch wie wohlerzogene Kinder gefolgt hatten, vermochte er nicht mehr zu lenken.
Sie gingen mit den beiden durch die Straßen, blieben mit ihnen bei den Auslagefenstern der Magazine stehen, lauschten auf ihre Gespräche und das vertrauliche „Du“ des hübschen Herrn.
Zu Hause angelangt, versenkte er sich in sein Manuskript, überzeugt, daß er sich dadurch zur Ordnung zwinge. Er sah sich getäuscht.
Seine Gedanken fuhren fort, neben den beiden einherzugehen, sie traten mit ihnen in die Geschäfte, beteiligten sich an der Auswahl des Gegenstandes und schlüpften zwischen ihnen und der Verbeugung des Kommis zur Türe hinaus. Sie stiegen mit ihnen in eine Droschke, sahen zu, wie sie an einem tadellos gedeckten Tisch, an dem noch einige andere Leute saßen, dinierten. Sie hörten sie plaudern, mit den Bestecken klappern, beobachteten, wie die Tafel aufgehoben wurde, und man sich zur Ruhe in Sessel niederließ. Das alles, während er Worte vor sich las, die nur zögernd blasse und unzusammenhängende Eindrücke erweckten.
Ärgerlich über sich sprang er endlich auf und nahm den Hut. Aber mitten auf der Treppe wandte er wieder um und kehrte in sein Zimmer zurück.
Er lächelte über sein Betragen.
Weshalb sollte er eigentlich fortlaufen, fragte er sich.
Was kümmerte ihn dieses Mädchen? Was kümmerte ihn ihr Verlobter?
Daß jener hübsche blonde Herr mit seinem rosigen Teint der Verlobte von Fräulein Schuhmacher war, erschien ihm außer Zweifel. Die respektvolle Vertraulichkeit, mit der er mit ihr plauderte und lachte, die ihr geltende Achtung, mit der er vor ihm den Hut gezogen, bewiesen ihm das zur Genüge.
Aber was kümmerte ihn das?
Sollte ihm das Mädchen deshalb begehrenswerter erscheinen, weil ein anderer seine Seele besaß?
Zudem hatte sie ihn ja kaum gegrüßt, als scheue sie sich, ihrem Verlobten merken zu lassen, daß dieser Mensch in seinem lächerlichen Sommeranzug sie kenne.
Unerklärt blieb allerdings, weshalb sie sich nach ihm umgewendet hatte.
Aber das war nicht von weiterer Bedeutung.
Vielleicht in Gedanken, vielleicht um zu sehen, ob er ihr und ihrem hübschen Kavalier nachgaffe. Vielleicht hatte sie zu ihm gesagt: Du guck, das ist der, der das Gedicht „Martyrium“ geschrieben hat.
Und der Blonde hatte geantwortet: Der mit den niedergetretenen Absätzen?
Und sie hatten gelacht.
Hatte er nicht deutlich ein Lächeln in ihren Zügen aufsteigen sehen, das sie Mühe hatte, so lange zu unterdrücken, als er herblickte?
Auf- und abgehend, erfand er einen Dialog, in dem die beiden über ihn witzelten. Dadurch geriet er allmählich in eine heitere Stimmung, die ihm über den Vorfall hinweghalf.
Er setzte sich an seine Arbeit, und nun hatten die Repliken plötzlich Klang und Sinn. Er arbeitete bis spät in die Nacht hinein und legte sich zufrieden mit sich nieder, noch während des Einschlafens mit dem Schicksale seiner Gestalten beschäftigt. —
Am anderen Morgen fand er ein Billett im Briefkasten. Es hatte folgenden Inhalt: Weshalb sah man Sie denn solange nicht mehr? Ich vermutete, Sie seien erkrankt. Gruß, auf Wiedersehen, Bianka Schuhmacher.
V.
Die Leopoldstraße ist eine schöne Straße.
Jeder, der sie kennt, wird das zugeben müssen.
Zu beiden Seiten stehen Paläste und Villen in endloser Reihe, von Gärten umgeben, die ein geschulter Gärtner pflegt. Die Portale sind massiv, von kunstvoller Schmiedearbeit, vergoldet, jedes in seiner Art ein vollendetes Werk. Die Fassaden verraten das verfeinerte Auge des Architekten in Proportionen und Schmuck.
Das sind nicht Häuser, in denen die Menschen schlafen, kochen und sich vor Kälte und Nässe schützen, das sind Heime, in denen die Menschen leben.
Hier gibt es kostbare Gardinen mit verschwenderischen Falten, hier blickt das Auge in stilvoll eingerichtete Zimmer mit schimmernden Rahmen an den Wänden.
Feine Leute erscheinen an den Fenstern, feine Leute kommen die Stufen herab. Die Herren in Uniform, mit Seidenhüten, die Damen in süßfarbenen Toiletten mit geschmeidigen, wohltuenden Bewegungen, den Abglanz der Sorglosigkeit auf dem gepflegten Antlitze.
Die Pappeln stehen in geordneten Reihen, ehrwürdig, ein hundertjähriges Geschlecht, bilden sie Spalier, gleichsam um die Fußgänger vor den vorbeirollenden Wagen zu schützen und vor dem Anblick der rohen, schwitzenden Arbeit zu bewahren. Es ist, als ob die freie Natur, der Wald, das Feld hereingepilgert kämen. Sie sind der Anfang eines Weges, der auf die Wiesen führt, und man fühlt sich gleichsam entfernter von der fauchenden, surrenden, stauberfüllten Stadt.
Im beginnenden Frühjahr bot die Straße ein berückendes Bild. Die Bäume, die Sträucher schlangen ihre frischgrünen Zweige in zierlichen Tanzgesten um die harten Ecken der Häuser, so daß Paläste und Villen den Eindruck erweckten, als hätten die Maler sie ersonnen, nicht die Architekten gebaut. Die Pappeln begannen zu knospen, und ab und zu schlüpfte ein kleiner Vogel aus ihrem Geäste.
Ginstermann hatte an all dem Gefallen.
Schon früher war er gerne diese vornehme Straße hinabgegangen, in der letzten Zeit kam er öfter heraus. Wenn er gerade Zeit hatte. Des Mittags, um sich in der Sonne zu wärmen, des Abends, um die süße Luft zu schlürfen, die schon gewürzt war von dem Duft der Blumen und Sträucher, die noch gar nicht blühten. Und hier außen war die Luft auch klarer als in den Straßen der Stadt, die nach dem Dunste und Schweiße des Tages rochen.
Auch war es angenehm, hier zu gehen, wo man nicht von Vorbeieilenden angerannt wurde, wo nicht das ununterbrochene Rufen, Pfeifen und Klingeln jede Melodie ertötete, die leise aus dem Innersten des Empfindens sang.
Er wollte sich etwas erholen, sein Blut von den schädlichen Stoffen reinigen, die der dumpfe Winter und das ewige Zimmersitzen in ihm erzeugten. Deshalb gönnte er sich diese Spaziergänge. Zudem arbeitete er, während er ging. Er trug stets ein Notizbuch bei sich, in das er alles, was ihm bemerkenswert schien, verzeichnete. Und vielleicht würde er auch Fräulein Bianka Schuhmacher treffen. Ein Paar Worte mit ihr wechseln können, oder sie würde am Fenster stehen, und er konnte zu ihr hinaufgrüßen.
Jedesmal, wenn er sich ihrem Hause näherte, überschritt er die Straße und setzte auf der anderen Seite ebenso gemächlich seine Wanderung fort, als sei er ganz zufällig über die Straße gegangen, und stände dort drüben nicht eine Villa, deren Fenster man von hier aus unauffällig überfliegen konnte.
Dabei erfüllte ihn stets eine prickelnde Angst, der gefürchtete und ersehnte Moment könne eintreten. So sehr er sich freute, sie zu sehen, so unangenehm wäre es ihm auf der anderen Seite gewesen, von ihr gesehen zu werden.
Hie und da unternahm er auch noch des nachts einen Spaziergang hier heraus, um nachzusehen, ob das Eckzimmer beleuchtet war. Brannte Licht, so war er befriedigt. Er wußte, sie ist da droben, liest, schreibt oder träumt, verspotteten ihn aber die weißen Gardinen der dunklen Fenster, so wurde er unruhig und machte sich alle