Der rote Champion. Marie Madeleine
Augen blickte sie einem der fünf Reiter entgegen, die — hart an der Barriere vorbei — zum Start aufgaloppierten.
Dieser eine war ein kleiner, schlanker Ulan, auf dessen hübschem Knabengesicht momentan ein sorgenvoller Ernst lag.
Seine Aufmerksamkeit war so gespannt auf die Hecke vor ihm konzentriert, dass er keinen Blick für Alice hatte, die ihm zärtlich-sehnsüchtig nachsah.
»Du, Thea, er hat mich gar nicht angesehen,« sagte sie tiefbetrübt. —
»Aber ich bitte dich, zwanzig Schritt vor einem Hindernis!« —
»Und so melancholisch sah er aus!« —
»Ja, weil er weiß, dass er’s mit ,Feuerfest’ nicht schaffen kann. Zu viel Gewicht! Ich sagte dir ja, du solltest nicht auf ihn wetten.«
Alice warf trotzig den Kopf zurück und nahm dann das Ticket entgegen, das ihr Graf Balz besorgt.
In diesem Augenblick gab eine Glocke das Zeichen, dass der Start gelungen. —
»,Feuerfest’ führt!« rief Alice strahlend.
In der Tat zeigte der braune Hengst, der sehr gut vom Start abgekommen war, den Weg, aber ,Queen Maud’, welche von einem Kronprinzhusaren gesteuert wurde, war ihm dicht an den Gurten.
Und schon vor dem Tribünensprung fiel ,Feuerfest’ zurück, und ,Tropenfieber’, der Schimmelwallach des Herzogs von Langenbruch rückte zu ‘Queen Maud’ auf, die er im Einlauf um eine Länge schlug.
»Wie schade, — o wie schade!« sagte Alice von Nordstetten, und zerrte nervös an der großen Schleife, die um den Stiel ihres Sonnenschirms geschlungen war.
Sie hörte kein Wort von der eifrigen Debatte zwischen ihrer Cousine und mehreren der Leutnants.
Sie sah nichts als den kleinen Ulanen auf dem braunen Hengst, in dessen Zügel eben der Trainer griff, um ihn langsam zur Waage hinunter zu führen…
»Bitte, wir wollen zur Waage!« flehte Alice ihre Cousine an.
»Aber was sollen wir denn da?« fragte die Turfkomtess erstaunt, »erstens muss ich Papa aus der Restauration abholen, und dann muss ich in die Box von ,sweet beast’; sie kommt im übernächsten Rennen.«
Die beiden jungen Mädchen schritten, von einigen der Leutnants begleitet, quer über den Sattelplatz mit dem sonnenverbrannten, spärlichen Rasen, auf ein großes Leinwandzelt zu, in welchem sich die Restauration befand.
Ein bunter Menschenschwarm hatte sich an den Holztischen drinnen niedergelassen; aber unter all den andern war Theas Vater eine so auffallende Erscheinung, dass sie ihn auf den ersten Blick herausfanden.
Graf Balz brach ihnen Bahn durch die dicht gedrängte Menschenmenge am Büffet, und einige Augenblicke später ließen sich die drei am Tische des Grafen Dahlweg nieder.
Theas Vater war noch heute ein vollendet schöner Mann. Der broncebraune Teint seines schmalen Gesichtes kontrastierte seltsam mit seinem weißen Haupthaar. Auch der nach englischer Mode bürstenförmig geschnittene kleine Schnurrbart war schneeweiß. Aber in des Grafen türkisblauen Augen — dem Erbteil seiner schwedischen Mutter — loderte noch immer das Feuer der Jugend; noch immer war in ihnen der heiße und feuchte Glanz, der so vielen Frauen gefährlich gewesen, — vielleicht es jetzt noch war...
»Na, nett, dass ihr euch endlich hier sehen lasst, Kinder,« hatte Graf Dahlweg zu seiner Tochter und zu seiner Nichte gesagt; »danke, lieber Balz, dass Sie die Mädels hierher begleitet. Sie nehmen doch auch ein Glas von dieser Bowle. Ich kann sie Ihnen dringend empfehlen. — Aber wer hat denn das Jagdrennen gemacht? ,Tropenfieber’? Sieh mal an! Na, da wird sich der Herzog freuen, — hatte ja ein tolles Pech, diese ganze Saison!« —
»Ich auch, Papa!« sagte Thea betrübt.
»Aber, liebstes Kind, mit deinen zwei Gäulen! Da kannst du wahrhaftig nicht viel verlangen. Sei froh, dass du so’n netten Papa hast, der dir überhaupt Rennpferde kauft!
Gott, da du so darauf branntest, — warum denn nicht? Aber schwere Klasse ist weder ,cousin’ noch ,sweet beast’.« —
»Sollte ,cousin’ nicht im Hohenhelm-Jagdrennen laufen?« fragte Graf Balz, indem er sich an Fräulein von Nordstetten wandte.
»Ja, mit Trostburg im Sattel, — der rote Husar.
Sie kennen ihn natürlich, — aber er hat seit vorgestern ein mulmiges Bein, — lachen Sie doch nicht so! Ich meine ja, der Gaul hat ein mulmiges Bein, — und da hat Thea Reugeld gezahlt!«
»Und ,sweet beast’?«
»Na, die kommt ja im nächsten Rennen.« —
Alice hielt dem Ulanen ihr Rennprogramm hin, in welchem die Worte ›Röbersdorfer Jagdrennen‹ angestrichen waren.
Unter den Pferden, die dieses Rennen bestritten, befand sich ,sweet beast’, die fünfjährige Schimmelstute der Gräfin Thea Dahlweg.
»Ich muss jetzt in die Box, Papa.« —
»Gut, ich komme mit.« —
Sie schritten alle vier bis zu den Holzverschlägen, in welchen die Pferde für das nächste Rennen gesattelt wurden.
Lächelnd klopfte Thea der Stute den Hals. — Sie standen dicht beieinander, die schlanke, weiße Stute und das schlanke, weiße Mädchen, beide goldübergossen von brennendem Julisonnenschein. — —
Da fiel ein Schatten über den Weg.
Ein großer, hagerer Kürassierleutnant verbeugte sich vor Thea und begrüßte dann die drei anderen.
»Ich habe mich im Interesse meiner Tochter recht gefreut, dass Sie ,sweet beast’ reiten, lieber Baron,« sagte Graf Dahlweg verbindlich. —
»Was man aus dem Gaul ’rausholen kann, werde ich schon ’rausholen!« erwiderte der Kürassier, indem er sich in den Sattel schwang und in den Kreis ritt, in welchem die anderen Pferde, die am nächsten Rennen teilnehmen sollten, schon bewegt wurden.
»Ich wusste gar nicht, dass der rote Champion Ihr Pferd reitet,« sagte Graf Balz zu Thea.
»Wer?« unterbrach Alice.
»Kennen Sie nicht Baron Hofs Spitznamen: ›der rote Champion,‹ so genannt wegen seiner impertinenten Haarfarbe und wegen seines Championats, das er in diesem Jahre zum dritten Male zu behaupten hat.«
»Diesmal wird Borndorf Champion,« rief Alice.
»Denkt nicht daran,« lautete Theas kühle Entgegnung, »dieses Rennen wird er allerdings gewinnen.« —
Sie betrachtete nachdenklich prüfend den großen Fuchshengst, auf dem Borndorf eben vorüberkam.
Zu Alicens größtem Entzücken grüßte dieses Mal der kleine Ulan.
Die Turfkomtess aber hatte nur Augen für sein Pferd.
»Sieh mal, Papa, wie wundervoll ,Rurik’ heute in Form ist. Und bloß 60 Kilo. Ich fürchte, er siegt im Handgalopp.« — .
»‘Sweet beast’ sieht heute auch sehr gut aus,« tröstete der Vater und wies auf die Schimmelstute, die eben vorbeikam.
Der Freiherr von Hof, der rote Champion, saß in nachlässigster Haltung im Sattel; sein hageres Gesicht mit den harten; blauen Augen trug einen unendlich gleichgültigen Ausdruck.
Er grüßte flüchtig herüber und ritt dann den anderen nach zum Start. — — —
Und dann standen die vier wieder an der Barriere, und mit fieberhafter Aufmerksamkeit wartete Thea auf das Zeichen des Starters. —
Endlich fiel die Flagge. Dicht geschlossen kam das Feld bis zum Tribünensprung; dann aber nahm ,Cayenne’ die Führung, und ihr Reiter, ein junger Dragoner, der sein erstes Rennen ritt, forderte sie zu einer Höllenpace auf, die nur zwei der übrigen Pferde akzeptierten, nur ,Rurik’ und ,sweet beast’.
Beim