Mozart. Karl Storck
schrieb er in seinem berühmt gewordenen Briefe vom Februar 1773 an den »Mercure de France«, es sei sein Lieblingsgedanke, »eine allen Nationen zusagende Musik zu schaffen und dadurch den lächerlichen Unterschied der nationalen Musiken verschwinden zu lassen«. Schier hundert Jahre später glaubte freilich auch Richard Wagner, daß nur von Paris aus eine für das Opernwesen bedeutsame Kundgebung auf durchschlagenden Erfolg rechnen könne. Er handelte danach; aber es geschah aus jener bitteren Erkenntnis heraus, in der Goethe bereits geurteilt hatte, daß es Deutschland zwar nie an Talenten, dagegen immer an nationalem Geiste gefehlt habe. Wagner wollte von Paris aus nicht Paris oder die Welt erobern, sondern Deutschland. Den höchsten nationalen Gehalt des Deutschtums durch die Musik und in ihr neu aufleben zu lassen und zu stärkerer Wirkung zu bringen, als es in den anderen Künsten möglich ist, war das Streben seines Lebens.
Uns Heutigen, die wir, trotz alles Geredes von Internationalität der Kunst, diese viel volklicher empfinden als irgend ein Zeitalter zuvor, weil wir das Nationale nicht mehr als eine Begrenzung betrachten, sondern als Stärkung des Charakters, erscheint Glucks Streben, eine alle Nationen umfassende Musik zu schaffen, als Beengung und Abschwächung des Stärksten in seinem Wesen. Umgekehrt fühlen wir, daß gerade auf Wagners Deutschheit seine Macht auf die Welt, seine Universalität beruht.
Glucks Streben nach Internationalität trägt die Schuld an seinem Festhalten an den konventionellen Formen der Antike, seinem Beharren in der äußerlichen Romantik, seinem Versagen gegenüber dem Plan zur »Hermannsschlacht«, der Unterlassung des Versuchs, eine deutsche Operndichtung zu vertonen. Man muß dabei bedenken, daß er begeisterter Bewunderer Klopstocks war; und es ist doch gut denkbar, ja geradezu sicher, daß Klopstock eine Operndichtung wohl hätte gestalten können, in der Gluck für sein bestes Vermögen des Ausdrucks innerer Seelenentwickelung reiche Anregung gefunden haben würde. Was Glucks unvergängliche Größe ausmacht, ist ausgesprochen deutsch: eben die Betonung der seelischen Entwicklung. Dieses ist auch das stets Lebendige, noch heute Wirksame in Glucks Kunst. Daß die Neubelebung seiner Werke so schwer fällt, daß es nicht mehr recht gelingen will, ihnen eine edle Volkstümlichkeit zu verschaffen, liegt an jenen internationalen Eigenschaften. Die Musik würde, zumal bei einer Art von Auffrischung, wie sie Wagner der »Iphigenie in Aulis« hat zuteil werden lassen, bei ihm kaum ein Hindernis für eine Neubelebung bilden, die um so wünschenswerter wäre, als damit der romantischen Welt Wagners die ruhige, klare klassische Welt gegenübergestellt würde. Die Antike Glucks ist nämlich, wenn man die Musik allein ansieht, nicht die französische Klassizistik, als die sie durch das äußere Gewand der Handlungs- und Redeführung erscheint, sondern durchaus der Goethischen Welt verwandt. Gerade in der »Iphigenie« fühlt man diese Wesensverwandtschaft beider deutlich heraus.
Liegt bei Gluck das ausgesprochen Deutsche in der Musik im Gegensatz zur Dichtung, die dem Weltbesitz der antiken Mythe entnommen war, so hat umgekehrt Wagner seine Weltstellung zweifellos der Musik zu verdanken, deren Prächtigkeit und ausgesprochene Theatralik – im besten Sinne des Wortes; Wagner nannte es das Exklamative in seiner Natur – Eigenschaften sind, die der deutschen Musik wenigstens vor ihm abgehen. Es fehlt in Wagners Kunst jene Intimität, jenes Sichversenken oder meinetwegen auch Sichverbohren in einen Gedanken, eine Empfindung, das sonst fremden Völkern das Eindringen in das tiefste Wesen deutscher Musik so sehr erschwert hat. Das Verständnis der dichterischen Welt Wagners dagegen ist eigentlich nur aus deutsch-romantischem Gefühl heraus zu erreichen.
Es ist sicher, und die Geschichte der Oper in den verschiedenen Ländern beweist es, daß gerade die Verbindung mit dem Worte für die Musik selber, deren Tonmaterial an sich für alle Völker gleich ist, leicht einen ausgesprochenen Nationalcharakter herbeiführt. Der italienischen steht die ebenso charakteristische französische Oper gegenüber; für Deutschland kann man von einer wirklichen Nationaloper allerdings erst seit der Romantik sprechen; aber auch England in seiner kurzen Musikblüte und viel später die nordischen und slawischen Länder haben zu allererst bei der Oper sich der nationalen Eigentümlichkeiten ihrer Musik bedient.
Trotzdem ist der ja gewiß verlockende Gedanke einer allumfassenden Kunst, die alle Völker befriedigt und ergötzt, auch in der Musik einmal zur Tatsache geworden, und zwar gerade in der Verbindung mit dem Worte durch Wolfgang Amadeus Mozart. Jedes der musikalischen Kulturvölker preist Mozart als reinsten Offenbarer der Musik. Er kann uns also schlechthin als der Gipfel der Musik überhaupt erscheinen.
Es regt sich in uns Deutschen heute bei diesem Urteile vielleicht mehr Zurückhaltung – Widerspruch wäre zu scharf – als beim Franzosen oder Italiener. Drei Namen drängen sich uns dabei als Nebenbuhler um jenen Ehrentitel auf: Wagner, Beethoven, Joh. Seb. Bach. Zuerst scheiden wir Wagner aus, da er ja selber nicht als Musiker angesehen werden wollte und jedenfalls innerhalb der Bewegung der Musik allein nicht gewürdigt oder erfaßt werden kann. Bach, der Urgewaltige, dessen Kunst unerschöpflich und für die Ewigkeit gestaltet erscheint, wie das Meer, dem ein Beethoven ihn bewundernd verglich, wird ja zweifellos in den nächsten Jahrzehnten immer mehr und mehr bedeuten, gerade für das deutsche Volk. Aber es ist in Bachs Kunst doch zu vieles, was uns hindert, sie als Gegenwartswert zu empfinden. Es liegt nicht nur in Einzelheiten der Form. Es liegt vielmehr gerade in dem, was Bachs allerhöchste Größe ausmacht, nämlich in der Tatsache, daß er in seiner Person die Kunst zweier verschiedener Zeitalter vereinigt. Wir aber stehen mit beiden Füßen in der zweiten dieser Welten und empfinden alles, was an die erste gemahnt, als gewesen. Dann verbindet sich uns mit Bachs Musik die Vorstellung stark erregter Religiosität. Es ist eine nicht genug beachtete Tatsache, daß sich mit der Kunst des von den Vertretern der absoluten Musik als Hort und Urbeispiel ihrer Anschauung aufgerufenen Mannes unwillkürlich eine Anschauung verknüpft, die nicht wesentlich musikalisch ist.
Dagegen wirkt Mozarts Kunst, obgleich sie viel offenkundiger sich mit einem nicht ausgesprochen musikalischen Zweck – dem Theater – verband, gerade für unsere Erinnerungsvorstellung von dem Wesen des Künstlers nur als Musik. In Mozart ist gewissermaßen die Musik an sich lebendig geworden. Er ist der einzige wirklich absolute Musiker, d. h. nur und voll Musiker, der heute noch uns ganz zu erfüllen vermag, der für uns die Bedingung des ewigen Lebenkönnens in sich zu tragen scheint.
Die heutige Welt ist nämlich für die rein musikalische Kunst nicht mehr recht empfänglich. Die im neunzehnten Jahrhundert in die eigentliche Kunsthöhe aufgerückten Nationalmusiken der slawischen und nordischen Völker sind überhaupt nicht ins Gebiet des rein Musikalischen gelangt. Entweder haben sie sich gleich an das »Dichten in Tönen« gemacht, oder sie sind so sehr im Bereich der Tanzmusik stecken geblieben, daß wir uns von der Vorstellung des Tanzens bei dieser Musik kaum freimachen können. Die Italiener, die einst um zweier Eigenschaften der reinen Musik willen – wegen des sinnlichen Wohllautes und der Freude am Spiel bewegter Form – alles andere preisgaben, haben sich auch in ihrer Oper, in der allein sie sich ja ausleben zu können scheinen, ebenfalls der Macht des Dichterischen oder doch der Situation gebeugt. Ebenso sind die Franzosen, die in rein musikalischer Hinsicht vielleicht das am wenigsten begabte unter den Kulturvölkern sind, immer offenkundiger jener Musik zugefallen, die ihren innersten Anstoß von anderer Kunst erhält.
Diese Musik hat zwei Gipfel. Der eine ist Richard Wagner, der in seiner Kunst die offene Verbindung der Musik mit anderen Künsten anstrebt und für sie eigentlich kein Sonderleben möglich hält, der als Theoretiker in der Dichtung das männlich schöpferische, in der Musik das weiblich empfangende und ausgestaltende Element sah. Der andere Gipfel ist Beethoven. In seinem Schaffen und nicht in dem Richard Wagners liegt der Grund dafür, daß wir eine nur aus musikalischen Elementen hervorwachsende, rein musikalische Kunst kaum mehr besitzen. Um die Bedeutung dieser Tatsache in ihrem vollen Umfang erkennen zu können, müssen wir etwas weiter ausholen.
Goethe hat uns, als der dazu Berufenste, da ja kein anderer schöpferische Kraft und psychologisch nachempfindendes Verständnis fremder Eigenart in so hervorragender Weise verband wie er, den tiefsten Einblick in das Wesen des Genies eröffnet. Es geschieht in einem der Gespräche mit Eckermann (11. März 1828), deren Fruchtbarkeit für die tiefere Erkenntnis der Kunst unerschöpflich ist. Goethe sieht danach das Genie in der Kraft der Produktivität, in der Fähigkeit, produktiv zu sein, d.h. in der Fähigkeit, Taten hervorzubringen, »die vor Gott und der Natur sich zeigen können, und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind«. Diese schöpferische Kraft ist