Wolf übernimmt. Robert Mayer
Waren die Spanier tatsächlich so viel menschenfreundlicher? Stimmten diese Zahlen? Offensichtlich gab es einen Zusammenhang zu den gesetzlichen Bestimmungen. In Spanien wird dies aber heftig bestritten. Angeblich gäbe es keinen einzigen Fall auf der Welt, wo die Zahl der Spender allein durch eine Gesetzesänderung zugenommen habe. In Spanien ist zwar laut Gesetz theoretisch jeder Bürger Spender, sofern er zu Lebzeiten nicht explizit das Gegenteil ausgedrückt hat. In der Praxis werde jedoch immer die Familie des Verstorbenen gefragt und auch in Spanien lehnen zwischen 15 bis 20% der Angehörigen Explantationen ab. Somit würde eine Spende nicht automatisch vorgenommen. Man erklärte dort den Erfolg durch die gute Organisation der spanischen Spitäler. Interessant. Die Menschen zu sensibilisieren wäre sehr wichtig, reiche allein jedoch nicht. In den Spitälern brauche es auch gut ausgebildetes Fachpersonal, das Organtransplantationen koordinieren könne.
Das spanische Modell wurde 1989 eingeführt. Nach nur drei Jahren stand Spanien an der Weltspitze, wo es sich noch immer befindet. Das waren spektakuläre Zahlen, deshalb empfahl die WHO das spanische Modell zur Erhöhung der Organspenden.
Wolf fragte sich, wie es zu erklären sei, dass demzufolge die Koordination der Organtransplantationen in der Schweiz und in Deutschland nur ein Drittel des Erfolges zuwege brachten wie die Spanier. Offenbar war auch der Führungskader des Pharmaunternehmens Qandiga Pharmaceutical diesbezüglich eher skeptisch und zog es vor, seine Lobbyisten einzusetzen, um Einfluss auf die von Sommer erwähnten Gesetzesänderungen des Transplantationsgesetzes auszuüben. Aber würden sie dafür ein zehnjähriges Kind bedrohen? Die überdimensionale Spritze auf den jubelnden Felix gerichtet, nicht gerade subtil für eine Drohung eines Pharmakonzerns. Seltsame Vorgehensweise. Irgendetwas hatte Sommer verschwiegen. Wolf würde ihn damit konfrontieren und ihm auf den Zahn fühlen.
Es war klar, dass Organtransplantationen für die Pharmabranche ein unglaubliches Geschäft waren. Wolf überflog die weltweit steigende Zahl der Transplantationen trotz der Engpässe. Warum gab es so viele Kritiker und warum waren nicht mehr Menschen bereit Spender zu werden?
„Schnell und einfach den Organspendeausweis online ausfüllen und Leben retten. Organe spenden betrifft jeden Menschen. Informieren Sie sich jetzt.“ So oder so ähnlich waren die Slogans der Organisationen, die mit der europäischen Vermittlungsstelle Eurotransplant kooperierten. Diese führte Wartelisten, worauf zig Tausende Patientinnen und Patienten mit lebensbedrohlichen Krankheiten standen. Sie waren darauf angewiesen, dass jemand gefunden wurde, dessen Organ ihnen übertragen werden konnte. Derzeit konnten Niere, Herz, Leber, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm nach dem Tod gespendet werden. Nach dem Tod, was war dagegen einzuwenden?
Wolf hatte keinen Organspendeausweis und hatte sich darüber noch wenig Gedanken gemacht. Er war in seinem Beruf schon so vielen gefährlichen Situationen ausgesetzt, dass er mit der Gefahr zu leben gelernt hatte. Er hatte alles unternommen, um am Leben zu bleiben, alles was in seinem Einflussbereich lag. Wenn einmal seine Organe versagten, dann war es eben so weit. So seine Einstellung. Wie würde er denken, wenn es um Julia ging? Er nahm sich vor, sie bei ihrem nächsten Treffen nach ihrer Meinung zu fragen.
Wie hatte Sommer das Gesetz zitiert? Erst wenn der endgültige, nicht behebbare Ausfall des Gehirns diagnostiziert wurde, werden Organe entnommen. Für einen Laien bedeutet der Ausfall des Gehirns den Tod, war das denn so?
Wolf sah im Gesetz nach, das auf der Webseite der Gesundheitsbehörde ausschnittweise veröffentlicht wurde: „Der endgültige, nicht behebbare Ausfall des gesamten Gehirns, also des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms, umgangssprachlich "Hirntod", ist ein sicheres inneres Todeszeichen. In dieser Situation kann die Herz- und Kreislauffunktion des beziehungsweise der Verstorbenen nur noch durch Beatmung und Medikamente künstlich aufrechterhalten werden.“ Wolf suchte weiter und fand eine Publikation „Organwahn, Heilung durch Fremdorgane? Ein fataler Irrtum“. Der Autor wollte damit Fakten und Hintergründe, die der Öffentlichkeit verschwiegen werden, offenlegen. So zumindest sein Statement zu seinem Werk. Er beschrieb darin, dass der Begriff „Hirntod“ erst 1952 mit der Erfindung der Herz-Lungen-Maschine entstand. Bis dahin war ein Mensch tot, wenn sein Herz stillstand. Er nannte die unterschiedlichen Hirntodkriterien, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder neu festgelegt wurden. Offenbar aber nicht wie anzunehmen wäre, im Sinne des Spenders, um sicher zu gehen, dass nicht etwa zu früh dessen Organe am lebendigen Leibe entnommen würden, sondern vielmehr nach dem Motto: So tot wie gesetzlich nötig und so lebendig wie möglich. Zum Zeitpunkt, an dem der Hirntod diagnostiziert werden dürfe, lebten noch mindestens 95% des Menschen. Der Autor führte aus, mit welchen Methoden Voruntersuchungen durchgeführt wurden, um mögliche Reaktionen des Spenders, die auf Leben schlossen, hervorzurufen. Von Kratz- und Kneiftechniken über die Einführung von Sonden, Nadeln, Spaten usw. in alle Körperöffnungen, Eingießen von Eiswasser in die Gehörgänge, Verursachen von starken Schmerzen zum Erzeugen von Reflexen. Wolf erinnerte diese Beschreibung an Foltermethoden, über die er bei seinen militärischen Einsätzen erfahren hatte, zum Glück nie an seinem eigenen Körper. Hier aber ging es um die Beschreibung, wie offenbar die Schulmedizin die ethisch respektvolle Bewahrung der Würde in der Praxis handhabte. Laut aktueller Gesetzeslage galten angeblich insgesamt siebzehn mögliche Bewegungen beim Mann und vierzehn bei der Frau als mit dem Status einer Leiche vereinbar. Bewegungen wie Kontraktion der Beckenmuskulatur, Spreizen der Finger, Beugebewegungen der unteren Extremitäten, Wälzbewegungen des Oberkörpers, Beugung im Ellenbogengelenk, Hochziehen der Schultern und so weiter. Außerdem wird demnach zur Kenntnis genommen, dass Hirntote selbständig ihre Körpertemperatur regulierten, Infektionen und Verletzungen bekämpften, wie zum Beispiel durch Fieber. Was Wolf aber wirklich überraschte, dass offenbar Hirntote mit Blutdruckanstieg auf Schmerzreize reagierten. Das bedeutete, dass sie bei der Entnahme Schmerz empfinden konnten, denn Hirntote wurden nicht anästhesiert. Sie konnten diesem Schmerz jedoch nichts entgegnen, weder physisch noch rechtlich.
Es war an der Zeit sich einer anderen Informationsquelle zu bedienen, die Wolf seit einigen Jahren zur Verfügung stand. Er brauchte mehr Informationen über Qandiga Pharmaceutical aber auch über Ralf Sommer.
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