Wolf übernimmt. Robert Mayer
ohne abzutrocknen auf der Teakbank in die Sonne legte. Die Wassertropfen reflektierten das Licht wie Kristalle. Sie war noch immer so schön, wie damals als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Damals hatte er eine kurze Ansprache in der monatlichen Sitzung ihrer Studentenverbindung gehalten und sich allgemeinen Applaus und dadurch auch Isabellas Aufmerksamkeit eingeheimst. Es war die letzte Sitzung in diesem Jahr, im Dezember 1993. In seiner Rede hatte er geschickt ein paar Details der aktuellen Schlagzeilen aus der Presse erwähnt. Im Grunde hatte er nichts gesagt. Er erwähnte, dass er es bemerkenswert fand, dass sich der PLO-Führer Jassir Arafat und der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin in Washington an einen Tisch gesetzt haben, was ihm Hoffnung gab für den baldigen Frieden im Nahen Osten, und dass es in Deutschland noch nie so viele Rücktritte von Politikern gab wie in diesem Jahr. In der U-Bahn hatte er den Jahresrückblick der FAZ überflogen, die er im Café Blühm mitgehen ließ. Er verstand es, mit ein paar Stichworten eine mitreißende Rede aus dem Stegreif zu halten, ohne tatsächlich Stellung zu nehmen. Denn in Wahrheit war ihm der Frieden im Nahen Osten egal. Ehrlicher wäre gewesen, er hätte über den Sieg von Steffi Graf in Wimbledon oder den Tod von Frank Zappa gesprochen, denn Bobby Brown konnte er auswendig und seine Worte hätten so zumindest einen Funken Authentizität gehabt. Das aber bemerkte keiner der Anwesenden. Political Correctness war damals schon angesagt, nur nannte es damals noch keiner so. Er hatte jedenfalls das Publikum im Griff, damals schon. Und dann war da plötzlich Isabella. Sie war so herrlich naiv und unglaublich enthusiastisch in ihren stundenlangen Diskussionen, und in voller Überzeugung rief sie die Parolen ihrer Studentenbewegung auf den Demonstrationen. Dafür beneidete er sie, denn er wäre so gerne überzeugt gewesen, wovon auch immer. Er hatte nur eines im Sinn, er wollte im Mittelpunkt stehen und wollte die Zustimmung der anderen. So hatte er sehr schnell Antennen entwickelt, was gerade Trend war und wie am meisten Zuspruch zu bekommen war. Das war das Fundament seiner steilen Karriere in der Politik. Mehr war nicht dahinter.
Er stand am Fenster und beobachtete wie Isabella von der Teakbank aufstand und rüber zur Pergola ging. Sie war jetzt trocken. Auch ihr Bikini dürfte nun trocken sein. Sie bewegte sich so geschmeidig über den Rasen und ihre Haut hatte einen so gesund wirkenden Teint, dass er kaum glauben konnte, dass sie nur drei Jahre jünger war als er. Vielleicht sollte er es doch auch einmal mit Yoga versuchen. Er spürte eine Andeutung einer Erektion in seiner Hose. Sie hatten schon länger keinen Sex mehr gehabt. Auch heute würde es nicht dazu kommen, denn er musste sich um sein Problem kümmern. Er musste das möglichst schnell vom Tisch kriegen, denn er wollte sie nicht verlieren. Nichts wollte er verlieren, weder den Parteivorsitz noch sein privilegiertes Leben und auf gar keinen Fall Isabella und Felix.
Er hatte den Kontakt von Alfred erhalten, auf ihn hatte er sich immer verlassen können. Er verdankte ihm viel, vertraute ihm. Also nahm er das Telefon und rief die Nummer von Wolf Solutions an. Und dann musste er es irgendwie Isabella beibringen.
Ferdinand Wolf war gerade im Begriff sein Boot zu besteigen und wollte vor dem Sonnenuntergang nochmals raus auf den See als er den Anruf entgegennahm. Er liebte es, mit einem Glas Chardonnay den Sonnenuntergang auf seinem Boot mitten auf dem See zu genießen. Selten blieb es bei einem Glas. Es kam auch vor, dass die Flasche leer war, bevor er sich auf den Heimweg machte. Doch dieser Anruf würde sein Vorhaben vereiteln. Ralf Sommer bestand auf ein Treffen noch heute Abend. Also ging er den Anlegesteg zurück zum Bootshaus.
Das Bootshaus war eigentlich eine stillgelegte Werft. Diese war vor über vierzig Jahren stillgelegt worden, und bevor er das gesamte Sieber Areal übernahm, waren die drei Gebäude für viele Jahre dem Verfall ausgesetzt. Es war reiner Zufall, dass er auf das Areal aufmerksam wurde. Es war nicht einmal zum Verkauf angeboten. Seit drei Jahren aber war das gesamte Areal saniert. Es bestand aus einem kleineren und zwei großen Backstein-Fabrikgebäuden. Eines der beiden großen Gebäude hatte er als letzte Etappe der Arealsanierung zu Eigentumslofts ausbauen lassen und alle Einheiten verkauft. Das zweite große Gebäude war zu einem Businesspark mit verschiedenen Büros, einer Orthopädie- und Physiotherapiepraxis in den beiden oberen Geschossen umfunktioniert worden, unten waren Garagen, Lagerräume, ein Copy Shop sowie das Café Sieber untergebracht. Den Businesspark hatte er nicht verkauft, diesen ließ er vermieten. Für das Café hatte er einer lächerlich geringen Miete zugestimmt, aber er wollte ein Café in Gehdistanz haben. Außerdem war er davon überzeugt, dass zu einer gesunden Infrastruktur eines Businessparks auch ein Café gehörte. Wolf Solutions war im dritten Gebäude untergebracht, das deutlich kleiner war und direkt am Seeufer stand. Von außen sah es wie ein Teil des Businessparks aus. Am Eingang war in Chromlettern Wolf Solutions angebracht und es machte den Anschein, dass es sich bei diesem Gebäude um ein weiteres Gebäude des Businessparks handelte. Niemand nahm an, dass Wolf hier auch wohnte.
Das gesamte Sieber Areal wurde rund um die drei Gebäude in eine Parkanlage umgestaltet. Es wurden Rasenflächen mit verschiedenen Zierbüschen und Bäumen angepflanzt, und die Parkplätze wurden in verschiedene Sektionen eingeteilt und mit kleinen Hecken und Rosenbeeten umrandet. Die Zufahrten wurden mit Pflastersteinen ausgelegt. Das gesamte Areal machte einen sehr gepflegten, geradezu idyllischen Eindruck. Kaum zu glauben, dass hier vor vielen Jahren über Jahrzehnte Motoren für Traktoren, Lastwagen und Boote hergestellt wurden. Im heutigen Gebäude der Wolf Solutions wurden die legendären Sieber Holzboote gebaut. Es war eine Werft, mit einem Wasserzugang, bei dem man mit einem Boot vom See ins Gebäude fahren konnte. Als Wolf das Areal gekauft hatte, war ihm nicht bewusst, dass in dieser Werft noch das zuletzt gebaute Sieber Motorboot aufgebockt unter einer Plane mit einer dicken Staubschicht stand. Nach einem umfassenden Service und diversen Erneuerungen von verschiedenen Teilen, die er zum Teil nachbauen lassen musste, erstrahlte die Aurelia in neuem Glanz. Sie war über vierzig Jahre alt und dennoch nagelneu.
An der Süd-West-Seite des Gebäudes lag ein Hof mit Parkplätzen und einer Grünanlage mit Büschen, Bäumen und einer Rasenfläche direkt am Seeufer, von dem ein Bootsanlegesteg zum See hinausführte. Der gesamte Hof war von einer zwei Meter hohen Backsteinmauer eingefasst und, was Wolf besonders gefiel, nur von ihm zugänglich. Im Erdgeschoss waren drei große Zimmer, in denen Wolf Solutions firmierte. Eines davon war Wolfs Büro, ein großer Besprechungsraum mit Konferenztisch und einer digitalen Leinwand, sowie ein weiteres Büro. Er hatte ursprünglich den Bereich sehr großzügig geplant, da er es sich offenlassen wollte, ein bis zwei Mitarbeiter einzustellen, was er aber nie gemacht hatte. Er arbeitete lieber alleine und war ohnehin eher selten tatsächlich im Büro. Nebenan waren Garagenplätze für mindestens vier Personenwagen und dahinter war der Wasserzugang, den Wolf nun wieder nutzte, allerdings ausschließlich für seine Aurelia. Die ehemalige Sieber Werft war jetzt sein Bootshaus, Büro, Garage und im Obergeschoss war seine Wohnung, ein stylishes Loft.
Jetzt saß Wolf in seinem Büro und recherchierte nach Ralf Sommer. Er war gern vorbereitet, wenn er einem neuen Kunden entgegentrat. Noch hatte er allerdings nicht entschieden, ob er den Auftrag von Sommer auch annehmen würde.
Ferdinand Wolf wurde in unterschiedlichsten Angelegenheiten engagiert. Ursprünglich hatte Wolf Regierungen in Sicherheitsfragen beraten, so zumindest die offizielle Umschreibung seiner Tätigkeit. Er war quer über den Globus in verschiedenster Mission eingesetzt worden. In der Regel war es reine Beratungstätigkeit, doch es kam immer wieder auch zu Kampfeinsätzen, das ließ sich in seiner Branche leider nicht immer verhindern. Er genoss eine militärische Ausbildung für Strategie als auch für Nahkampf, wobei von Genuss wohl kaum die Rede sein konnte. Wolf war sich nicht sicher, ob er dieser Ausbildung sein Überleben verdankte oder ob diese Ausbildung sein Leben überhaupt erst so gefährlich machte. Wahrscheinlich war beides zutreffend.
Ihm war klar, dass es nie tatsächlich der Frieden war, den seine Auftraggeber als Zielsetzung hatten. Dieser Illusion hatte er sich nie hingegeben, da half auch keine Rechtfertigung mit großen Worten wie Gerechtigkeit, Sicherung der Demokratie oder Menschenrechte, wie das seine Auftraggeber gerne dargestellt hatten. Es waren Interessen des Stärkeren, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln umgesetzt wurden. So einfach war das. Natürlich war er nicht immer stolz auf das, was er getan hatte. Aber so war das in seiner Branche, und da half am besten das eine oder andere Glas, um damit zurechtzukommen.
Wolf Solutions sollte eigentlich Ferdinand Wolfs Rückzug aus der