Wolf übernimmt. Robert Mayer
geräumigen Loft an kühleren Tagen doch manchmal etwas frischer. Er setzte sich auf die Couch, sie schenkte ihnen nochmals Wein nach, stellte die Gläser auf dem Tisch ab und setzte sich im Schneidersitz direkt neben ihn. Wolf wusste, sie würden heute nicht viel Schlaf bekommen. Dann schmiegte sie ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Tränen rannen an ihren Wangen herab. Sie weinte lautlos. Jetzt war sie so weit.
Konnte es sein, dass Wolf in diesem Augenblick einen Anflug von Glück verspürte?
Julia war die Tochter von Wolfs Exfrau. Ihre Ehe hielt nur vier Jahre. Er war damals mehr im Flugzeug als zu Hause. Seine Einsätze waren über den ganzen Globus verstreut, und er durfte ihr natürlich nie von seinen Aufträgen berichten. Das war ihr zwar schon vor der Ehe klar, und sie glaubte damit zu Recht zu kommen. Aber es war eben nicht so. Auch er kam nicht damit zurecht und er wünschte, er hätte sich von seinem Beruf getrennt und nicht von ihr. Die Trennung von der damals erst zwölf Jahre alten Julia fiel ihm fast schwerer als die Trennung von ihrer Mutter. Obwohl sie nicht seine eigene Tochter war, und er nur vier Jahre bei den beiden gewohnt hatte, war sie ihm so ans Herz gewachsen wie kein anderer Mensch. Er konnte sich nicht erklären, warum sie eine solch enge Bindung aufgebaut hatten. Zumal er in diesen vier Jahren ohnehin dauernd unterwegs war.
Nach der Scheidung hielten sie den Kontakt zwar aufrecht, aber er war eben sehr selten hier. Er wusste, Julia kam oft nur dann zu ihm, wenn es ihr schlecht ging und Kummer hatte, oder einfach nur Streit mit ihrer Mutter hatte. Als pubertierende Sechzehnjährige vertraute sie ihm einfach alles an, und er konnte sich absolut nicht erklären warum. Vor allem aber war er mit dieser Art von Problemen vollkommen überfordert, auch wenn es sein Beruf war, Probleme zu lösen. Probleme der nationalen Sicherheit, Verhandlungen mit Rebellen oder mit Erpressern von Konzernen, das war sein Geschäft. Damit kannte er sich aus. Er wusste, wie man Aufstände gegen Regime organisierte, die seinen Auftraggebern nicht genehm waren. Er hatte von Piraten besetzte Öltanker ausgelöst. Er wurde gerufen, wenn es heikel und gefährlich war. Und nicht selten musste er unzählige Gesetze übertreten, um zu erreichen, wofür er gesandt wurde. Meist waren seine Missionen diplomatischer Natur und er schreckte auch nicht davor zurück, das Kommando für Sondereinheiten zu übernehmen, um seine Aufgaben brutal zu erledigen, aber die Launen eines pubertierenden Teenagers waren definitiv nicht sein Metier. Trotzdem kam sie zu ihm. Und noch Jahre später tat sie das. Auch heute war sie wieder bei ihm. Die Tatsache, dass Julia litt, zerriss ihm das Herz. Jede Träne war schlimmer als jeder Faustschlag, den er in seinem Leben einstecken musste. Jedes Aufschluchzen war wie eine Schusswunde. Dennoch war er glücklich, dass sie damit zu ihm kam.
Endlich fing sie an zu erzählen. Sie hatte mit Moritz Schluss gemacht. Die beiden hatten sich vor gut zwei Jahren auf der Uni kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich. Wolf mochte Moritz, hatte aber geahnt, dass das früher oder später passieren würde. Er wurde ein paar Mal von ihnen in Julias Studentenbude, die sie mit ihrer Freundin Hanna teilte, bekocht. Es waren immer lange, sehr amüsante Abende. Moritz war sehr intelligent und hatte einen guten Humor. Er tat ihm leid. Und das war auch Julias Problem. Sie erzählte, wie sie versucht hatte es ihm beizubringen und wie schlecht sie sich jetzt fühlte. Wie Wolf erwartet hatte, redeten sie die halbe Nacht. Vielmehr, sie redete die halbe Nacht. Er wunderte sich, warum sie mit diesen Dingen zu ihm kam und das nicht mit ihrer Freundin Hanna besprach. Genoss aber dieses Vertrauen und diese Nähe von Julia. Es war, als ob an solchen intensiven Abenden wie heute, die vielen Tage, Wochen und manchmal Monate, die sie sich nicht sahen, die Zeit in komprimierter Form nachgeholt wurde. Eine Tilgung der schuldig gebliebenen Zeit des fortgegangenen Vaters. Julia konnte das offenbar emotional von ihm abrufen, wenn sie es brauchte. Vorausgesetzt, er war nicht wieder irgendwo im Einsatz.
Sein Beruf war nicht nur für ihn gefährlich. Er brachte jeden, der ihm nahestand, in Gefahr. Damit versuchte er sich die Trennung von Julias Mutter vor sieben Jahren vor sich selbst zu rechtfertigen. Solange er ungebunden war, war er weniger angreifbar, weniger verletzlich. Die Tatsache, dass sie die Vater-Tochter-Beziehung bis heute so intensiv pflegten, brachte Julia weiterhin in Gefahr. Daher nahm Wolf keine Regierungs- oder Militäraufträge mehr an. In dem Geschäft, das er betrieb, legte man sich zu oft mit den falschen Leuten an, und man musste verdammt auf der Hut sein, dass man nicht unter die Räder der Mächtigen kam.
Trotz der langen Nacht ging Ferdinand Wolf am nächsten Morgen um sieben Uhr joggen. Er lief vom Bootshaus am Sieber Areal vorbei, die Seepromenade entlang und dann die zirka zwei Kilometer bis zum Seepark. Dort drehte er ein paar Runden, machte Liegestütze und rannte wieder zurück. Er dachte über sein gestriges Treffen mit Sommer nach.
Ralf Sommer hatte Wolf ein Treffen in einer Penthouse Suite im Park Hyatt vorgeschlagen. Beide konnten mit dem Wagen in die Tiefgarage fahren und mit dem Lift direkt in die Suite gelangen, ohne dass sie gemeinsam gesehen wurden. In der Tiefgarage bemerkte Wolf zwei Bodyguards in einem dunklen Audi A8, der rückwärts eingeparkt schräg gegenüber der Ausgangstür zu den beiden Aufzügen stand. Selbst von außen sah man den beiden ihre sportliche, muskulöse Statur an.
Auch am Ende des Flurs saß einer im dunklen Anzug in einer Sitzecke und nickt dezent als er Wolf aus dem Aufzug kommen sah. Vor der Türe zur Suite 1008 wurde er von einem weiteren Man in Black durch Nicken begrüßt. „Herr Wolf, ich denke, Sie wissen, was jetzt kommt und ich danke für Ihr Verständnis.“ Er hatte ihn tatsächlich nach Waffen durchsucht. Sommer musste bedroht werden, er hatte offenbar Angst.
Ralf Sommer begrüßte Wolf und kam gleich zur Sache. „Herr Wolf, Sie wurden mir von Alfred Wagner empfohlen. Er meinte, ich könne offen mit Ihnen reden und auf Ihre Verschwiegenheit über dieses Treffen vertrauen.“ Darauf Wolf: „Diskretion ist mein Werkzeug, sie ist für mich noch wichtiger als für Sie. Abgesehen davon, falls ich eine Möglichkeit sehe, dazu beitragen zu können, für Ihre Situation eine Lösung zu finden, werden wir einen Vertrag unterzeichnen, der eine Geheimhaltungspflicht für beide Seiten beinhaltet. Herr Wagner wurde zum Teil von dieser Pflicht befreit sonst hätte er mich Ihnen nicht empfehlen können. Nun, wo drückt der Schuh, Herr Sommer?“
„Wie aus den Medien allgemein bekannt, werde ich meine Partei in den Wahlkampf führen und als Spitzenkandidat antreten. Mit der Aussicht auf großzügige finanzielle Unterstützung der Partei in diesem Wahlkampf, wurde mir nahegelegt, mich für eine Gesetzesänderung einzusetzen. Nachdem ich mein Engagement diesbezüglich ausgeschlossen habe, wurde die Gangart verschärft und meine Familie bedroht“, erklärte Sommer. „Um welches Gesetz handelt es sich?“, wollte Wolf wissen.
„Das Organtransplantationsgesetz. Es regelt die Spende, Entnahme, Vermittlung und Übertragung von Organen, die nach dem Tode oder zu Lebzeiten gespendet werden. Die Voraussetzungen für die Entnahme von Organen bei Verstorbenen und Lebenden sind gesetzlich genau festgelegt. Demnach ist der zu Lebzeiten erklärte Wille für oder gegen eine Organspende maßgebend und strikt zu beachten. Mit der so genannten Entscheidungslösung, d.h. der Möglichkeit eines jeden Bürgers zu Lebzeiten freiwillig eine Entscheidung für oder gegen eine Organspende zu treffen, räumt das Organtransplantationsgesetz dem Selbstbestimmungsrecht jedem Menschen seinem über den Tod hinaus fortwirkenden Persönlichkeitsrecht höchste Priorität ein. Der Arzt muss den festgelegten Willen des Verstorbenen beachten. Hat der Verstorbene auf seinem Organspendeausweis entschieden, dass er nicht spenden möchte, muss der Arzt diesen Willen so akzeptieren. Hat sich der Verstorbene hingegen für eine Spende entschieden, wird geprüft, ob seine Organe für eine Spende in Frage kommen. Ist das der Fall und wurde der endgültige, nicht behebbare Ausfall des Gehirns diagnostiziert, werden Organe entnommen. “ Sommer seufzte, griff nach dem Wasserglas und nahm einen Schluck. „Es ist kein Geheimnis, dass ein sehr dringliches Interesse besteht, die Zahl der Organspenden zu erhöhen.“
Und Wolf: „Was ist dagegen einzuwenden?“
Sommer fuhr fort: „Es gibt schon seit längerem Bestrebungen, die Organspende wie in manch anderen Ländern zu regeln – nämlich so, dass Organe entnommen werden, wenn man nicht explizit widersprochen hat. Die erwähnte, angestrebte Gesetzesänderung strebt hingegen einen weit extremeren Einschnitt in das existierende Persönlichkeitsrecht an. Sie soll es komplett aushebeln. Unterm Strich würde es bedeuten, dass jeder Mensch nach dem Tod Organspender wäre, ohne jeglichem Selbstbestimmungsrecht.“ Wolf hakte nach: „Herr Sommer, Sie sprachen