Der perfekte Sündenbock. Irene Dorfner

Der perfekte Sündenbock - Irene Dorfner


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zu den beiden?“

      „Komische Leute. Bieder und komisch – mehr fällt mir dazu nicht ein.“

      „Sehr treffend. Nehmen wir uns den nächsten Nachbarn vor. Karl Emmerl.“ Hans besah sich das Haus, das sicher noch keine zwanzig Jahre alt war. „Hast du gesehen?“

      „Den Mann am Fenster? Ja, den habe ich gesehen. Wir werden bereits erwartet.“

      Karl Emmerl lebte allein. Er war seit zwölf Jahren Witwer und hatte eine Freundin namens Liesl Kammergruber, die in Mühldorf im Albererweg in einer kleinen Wohnung lebte. Die beiden verbrachten die meiste Zeit gemeinsam, auch wenn die Liebe zwischen ihnen wohl keine große Rolle spielte. Das hatte zumindest Henriette Albrecht behauptet, als sie die Nachbarn beschrieb.

      Die Kriminalbeamten brauchten auch hier nicht lange warten bis die Tür geöffnet wurde. Der achtundfünfzigjährige Frührentner bat die beiden herein und führte sie ins Wohnzimmer. Hier gab es sehr viel Nippes, alles war vollgestopft mit Erinnerungen aus vergangenen Tagen. Die Fotos zeigten immer nur eine Frau. Leo starrte vermutlich zu lange darauf.

      „Das ist meine Wilma, die 2005 nach einem langen, harten Kampf gegen den Krebs von mir gegangen ist. Sie langsam sterben sehen zu müssen und nichts dagegen tun zu können, war schrecklich. Diese Erfahrung wünsche ich nicht einmal meinem ärgsten Feind. - Das Foto wurde in Italien aufgenommen, das war 1974. Und da waren wir auf den Kanaren.“ Karl Emmerls Augen glänzten, als die Erinnerungen an seine verstorbene Frau für einen kurzen Moment wieder wach wurden. Mit dem Ärmel wischte er sich über die Augen. „Entschuldigen Sie bitte, Sie sind sicher nicht wegen meiner verstorbenen Frau hier, sondern wegen dem, was heute Nacht mit den Zimmermanns geschah. Leider sind Sie umsonst gekommen, ich habe meiner heutigen Aussage nichts hinzuzufügen: Ich habe nichts mitbekommen.“

      Nachdem Leo den Mann aufforderte, von den Zimmermanns und von Fuchs zu erzählen, hörten sie ähnliches, wie von Henriette Albrecht und dem Ehepaar Auer, wobei Emmerl sehr vorsichtig erzählte und sich jedes einzelne Wort genau überlegte.

      Die Beamten verabschiedeten sich und liefen vor der Tür einer Frau quasi in die Arme, die offensichtlich zu Emmerl wollte.

      „Lassen Sie mich raten: Liesl Kammergruber?“

      „Ja. Und wer sind Sie?“

      „Kriminalpolizei“, sagte Hans und zeigte seinen Ausweis vor. „Heute Nacht wurde einer der Nachbarn getötet und dessen Sohn schwer verletzt.“

      „Die Zimmermanns?“

      „Ja. Sie wissen davon?“

      „Nein. Aber hier gibt es nur ein Vater-Sonn-Gespann, und das sind die Zimmermanns.“ Liesl Kammergruber schien sehr betroffen.

      „Sie waren heute Nacht nicht hier?“

      „Nein. Karl möchte nicht, dass ich hier übernachte“, entfuhr es ihr und sie schämte sich sofort für ihre Aussage. Ja, Karl wollte nicht, dass sie bei ihm übernachtete. Sollte sie sagen, dass es über dieses Thema immer wieder heftige Auseinandersetzungen gab? Nein, das ging nur Karl und sie etwas an.

      „Dann bleibt mir nur noch, Ihnen einen schönen Tag zu wünschen.“

      Liesl Kammergruber sah den Kriminalbeamten hinterher. Warum hatte Karl kein Wort darüber verloren, als sie heute Morgen miteinander telefoniert hatten, wie sie es jeden Morgen taten?

      „Warum sagst du denn nicht, dass einer der Zimmermanns getötet wurde und der andere verletzt ist?“

      „Warum sollte ich dir das erzählen? Erstens geht uns das nichts an, und zweitens erfährst du noch früh genug davon, wenn du wieder mit den Nachbarn ein Schwätzchen hältst.“

      „Ein Mord in unmittelbarer Nähe. Das ist ja schrecklich! Was genau ist passiert?“

      „Der Alte wurde mit der Axt erschlagen und der Sohn damit verletzt“, maulte Emmerl, dem die Neugier der Frau langsam auf die Nerven ging.

      „Mit einer Axt? Wer hat das getan?“

      „Die Polizei verdächtigt Fritz.“

      „Der nette Mann soll das getan haben? Das kann ich nicht glauben.“

      „Hast du meinen Tabak mitgebracht?“ Für Karl Emmerl war das Thema damit durch. Er hatte keine Lust mehr, darüber zu sprechen.

      „Sicher. Und heute Mittag gibt es Gulasch, das magst du doch so gerne.“

      „Schon wieder?“, maulte Emmerl. Dann verschwand er mit seinem Tabak und der Zeitung im Wohnzimmer.

      Liesl Kammergruber ärgerte sich, sagte aber nichts. Sie kannte die kleinen Sticheleien ihres Partners zur Genüge. Sie hatte längst die Nase voll von ihm, aber blieb trotzdem an seiner Seite. Ohne ihn war sie allein und einsam, wie sie es viele Jahre lang war, nachdem ihr Mann sie plötzlich verlassen hatte. Er hatte eine Frau kennengelernt, die sehr viel jünger, schöner und attraktiver war als sie. Und das hatte sie verletzt. Viele Jahre blieb sie allein und vereinsamte immer mehr, was auch der Bruder, die Kollegen und Nachbarn nicht verhindern konnten. Erst, als sie Karl kennenlernte, hatte sie endlich auch wieder jemanden an ihrer Seite, mit dem sie ihre Freizeit verbringen konnte, auch wenn das Leben mit Karl und dessen völlig überzogener Trauer um seine längst verstorbene Frau eine Qual für sie waren. Nein, sie würde Karl nicht verlassen, noch nicht. Er war allemal besser als die Einsamkeit.

      „Was meinst du?“, fragte Hans, als sie auf der Straße standen.

      „Emmerl hat den Tod seiner Frau bis heute noch nicht verwunden. Überall Fotos und Erinnerungen an die Verstorbene, da muss man ja depressiv werden. Dass die Freundin das mitmacht, wundert mich.“

      „Ich finde das auch gruselig. Die Freundin macht einen ordentlichen Eindruck. Hast du bemerkt, dass sie offenbar nicht wusste, was passiert ist?“

      „Ja. Aber sie war heute Nacht nicht hier und hat demnach nichts mitbekommen. Emmerl ist ein Trottel, das steht für mich fest. Aber das geht uns nichts an, das ist nicht verboten. Lass uns weitermachen, einen Namen haben wir noch: Lutz Taubmann. Er ist neunundfünfzig Jahre alt und verheiratet mit Johanna Taubmann, der bigottischen Amsel. Sieh mich nicht so an, das kommt von Frau Albrecht, nicht von mir. Mal sehen, was die Taubmanns zu sagen haben.“

      Das Haus war sehr ansprechend geschmückt. Der Eingangsbereich war mit üppigen Dekorationen versehen, an der Tür hing ein riesiges Willkommensschild. Leo drückte auf die Klingel; die Haustür wurde umgehend geöffnet.

      „Wir haben Sie bereits erwartet. Dass die Polizei erneut hier ist, hat schnell die Runde gemacht. Kommen Sie bitte herein, Sie müssen ja völlig durchgefroren sein.“

      „Sie sind Johanna Taubmann?“

      „Ja. Entschuldigen Sie bitte, ich hätte mich vorstellen müssen. Wo sind denn nur meine Manieren? Kommen Sie, kommen Sie. Das sind die Hausschuhe für Besucher, Ihre Schuhe können Sie hier hinstellen. Wenn Sie mir Ihre Jacken geben?“

      Leo und Hans zogen bereitwillig die Schuhe aus, das war für sie kein Problem. Hans schlüpfte in die Besucherhausschuhe, Leo verzichtete dankend. Die Vorstellung, dass vor ihm andere diese Hausschuhe getragen hatten, störte ihn gewaltig. Er folgte der Frau auf Socken ins muckelig warme Wohnzimmer, wo der Hausherr mit einer Zeitung saß und so tat, als würde er lesen. Langsam faltete er die Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch und stand auf.

      „Hast du dir die Ausweise der beiden zeigen lassen, Johanna?“

      „O Gott, nein, das habe ich vergessen.“

      Lutz Taubmann schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Leo und Hans zückten ihre Ausweise und zeigten sie vor.

      „Sie sind Lutz Taubmann?“

      „Ja, steht doch draußen auf dem Türschild“, brummte der, gab aber immerhin beiden die Hand und setzte sich wieder. „Ich bin gespannt, was die Polizei jetzt schon wieder wissen will. Wir haben heute Morgen bereits ausgesagt, dass wir nichts zu diesen Verbrechen beitragen können. Wir haben nichts gesehen oder gehört.


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