Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen. Elke Schwab

Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen - Elke Schwab


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      »Wäre das Opfer an der Zertrümmerung der Kiefer gestorben?«

      »Bei dieser massiven Verletzung wäre es erstickt.«

      »Wurden ihm die Verletzungen vor oder nach seinem Tod zugefügt?«

      »Das kann ich nicht mehr feststellen.« Dr. Kehl zuckte mit den Schultern. Wieder blieb sein Blick auf Anke haften, als er anfügte: »Warum übt eine so aufregend schöne Frau wie Sie solch einen morbiden Beruf aus?«

      »Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, entgegnete Anke schroff und fügte ihre nächste Frage an: »Wie lange lag der Tote an dem Ort, an dem ich ihn gefunden habe?«

      »Das ist schwer zu beantworten. Zwischen fünf bis zehn Jahren. Mit Sicherheit wurde er der ungewöhnlichen Hitze und Trockenheit im Sommer 2003 ausgesetzt. So etwas beschleunigt den Verwesungsprozess. Hinzu kommt, dass die Leiche nicht tief genug begraben wurde. Das begünstigt Tierfraß. Außerdem ist von seinen Kleidern nicht mehr viel erhalten geblieben, was vermuten lässt, sie waren blutgetränkt, sonst verrottet eine Hose nicht vollständig.«

      »Tote bluten nicht«, funkte Anke dazwischen.

      »Das beantwortet deine Frage, ob er noch lebte, als ihm die Verletzungen zugefügt wurden«, reagierte Erik darauf.

      »Das sind vage Vermutungen«, schaltete sich Dr. Kehl schnell ein. »Wir wissen nicht, ob das Opfer vollständig bekleidet war, als es im Wald vergraben wurde.«

      Die Veranschaulichungen wurden immer schauriger. Anke schüttelte sich bei der Vorstellung, was sich dort abgespielt haben musste, wo sie vom Pferd gefallen war.

      »Sie sagten doch, dass Kleidungsreste in der Nähe des Fundorts lagen«, erinnerte Anke Dr. Kehl.

      »Nur dürftige Stofffetzen, meine Schöne …«

      »Ich bin nicht Ihre Schöne«, unterbrach Anke den Alten.

      »… zum vollständigen Bekleiden zu wenig«, sprach der Anthropologe unbeirrt weiter. »Zudem lagen dort eine Gürtelschnalle und ein Schlüssel, gnädiges Fräulein.«

      »Für Sie immer noch Kriminalkommissarin Deister. Ihre Verniedlichungen können Sie sich sparen!«

      »Ganz schön rebellisch, Ihre Kollegin«, wandte sich Dr. Kehl an Erik, der nur mit einem grimmigen Blick reagierte. »Sämtliche Fundstücke befinden sich bereits im Labor bei Theo Barthels, der die kriminaltechnische Untersuchung daran durchführt.«

      Kapitel 10

      Erik hörte, dass sich der Arbeitstag seinem Ende näherte. Nach und nach verstummten die Telefone und das leise Klappern der PC-Tas­taturen. Dann erstarben die Stimmen der Kollegen, die sich immer etwas zu erzählen hatten, bis die letzten Schritte auf dem Korridor verhallten. Wie so oft blieb er allein in den Räumlichkeiten zurück. Private Termine, die keinen Aufschub duldeten, hatte er nicht. Auch keine Familie, die auf ihn wartete. Sein Freundeskreis hielt sich in Grenzen. Lag das an seinen Arbeitszeiten? Oder schob er unbewusst die Arbeit vor, um sich nicht auf neue Freunde konzentrieren zu müssen? Er wusste es nicht. Gern übernahm er Dienste für Anke. Sie hatte eine kleine Familie, Menschen, die auf sie warteten. Und ein Pferd. Er gönnte ihr das Glück von ganzem Herzen, wollte seinen bescheidenen Beitrag dazu leisten und ihr einige Arbeitsstunden abnehmen. Leider fühlte er sich dabei nicht wie der fürsorgliche Freund, der er gerne wäre, sondern einsam. Die Stunden im Büro konnte er schon nicht mehr zählen.

      Das Läuten des Telefons lenkte ihn endlich von seinen tristen Gedanken ab. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Dr. Kehl. Der Tonfall seiner Stimme verriet, wie enttäuscht er darüber war, nicht Anke persönlich zu hören.

      »Wir haben das Ergebnis der DNA-Untersuchung. Es handelt sich zweifelsfrei um ein männliches Opfer.«

      »Und?«

      »Ich brauche nur noch eine Gegenprobe zum Vergleich. Ich habe mir das Material genau angeschaut. Das Untersuchungsverfahren der Polymerase-Kettenreaktion hat zu einem ausführlichen Ergebnis geführt, sodass Zweifel ausgeschlossen werden können.«

      Erik atmete tief durch. Nun mussten sie also die Vermisstendateien nur noch nach Männern absuchen. Das reduzierte ihre Arbeit wesentlich.

      Nach Hause fahren wollte er nicht. Dort würde sich seine Einsamkeit nur fortsetzen. Also beschloss er, Anke im Reitstall aufzusuchen.

      Zügig fuhr er in Richtung Mandelbachtal. Kaum hatte er den lang gezogenen Anstieg bei Ormesheim hinter sich gelassen, fühlte er sich überwältigt von dem Anblick, der sich ihm bot. Sein Kopf war bis zu diesem Zeitpunkt voll mit Überlegungen über seine Arbeit. Doch mit einem Mal waren alle Gedanken wie weggewischt. Seine Augen erfassten Wiesen, Felder und Wälder, lebhafte Pferde, die über Koppeln galoppierten und Reiter, die auf einem großen Platz direkt an der Straße über bunte Hindernisse sprangen. Eine Schar von Gänsen watschelte majestätisch mit hoch erhobenen Köpfen über den schmalen Zufahrtsweg, womit sie die Autofahrer zum langsamen Fahren anhielten. Anke ging neben ihrem Pferd Rondo auf einem kleinen Sandplatz her. Lisa saß stolz im Sattel.

      Was für ein Anblick! Erik schmunzelte.

      Er stellte seinen Wagen ans Ende der langen Reihe von parkenden Autos und steuerte auf den kleinen Reitplatz zu. Die späte Sonne verströmte rotes Licht, von Wärme war nichts zu spüren. Lisa trug einen blauen Anorak und einen Reiterhelm. Ihr Gesicht strahlte vor Glück.

      »Hallo Erik«, rief Anke überrascht. »Du hier?«

      »Ja! Ich wollte unseren Reiternachwuchs bestaunen.«

      Die Kleine fühlte sich mächtig stolz. Demonstrativ hob sie beide Arme hoch, um Erik zu zeigen, wie gut sie das Reiten schon beherrschte. Anke fasste schnell die Zügel ihres Pferdes nach, damit es nicht auf die Idee kam, gerade jetzt loszulaufen.

      »Sein Bein ist wirklich dick«, stellte Erik mit Kennermiene fest. »Hoffentlich dauert es nicht allzu lange, bis er wieder gesund ist.«

      »Na ja! In der Zeit kann Lisa auf ihm reiten. Ihr Gewicht wird seinem Bein nicht schaden.«

      Erik übernahm die Aufgabe, das Pferd zu führen.

      Mit Rondo in ihrer Mitte drehten sie ihre Runden, während sie das Treiben um sich herum beobachteten. Vom großen Reitplatz hörten sie die laute Stimme des Reitlehrers. Dazwischen ertönte immer wieder das zornige Schnattern der Gänse. Vom Stall erklang in immer kürzer werdenden Abständen das klägliche Wiehern eines Pferdes. Einige Männer versammelten sich vor der Reithalle und lachten. Hunde bellten, Kinderstimmen schallten heiter.

      Plötzlich donnerten Hufe so laut, dass Rondo erschrak. Ruckartig blieb er stehen, hob den Kopf und schaute in die Richtung, aus der der Lärm kam.

      Im gleichen Augenblick galoppierte ein schwarzes Pferd mit Sattel und Trense – allerdings ohne Reiter – vom großen Reitplatz in einem Wahnsinnstempo den schmalen, asphaltierten Weg hinunter in Richtung Stall. Ein Mutiger versuchte sich dem Pferd in den Weg zu stellen, um es zum Halten zu zwingen. Aber in letzter Sekunde überlegte er es sich anders. Das Pferd wollte sich nicht aufhalten lassen. Hufgetrappel polterte durch die lange Stallgasse. Laute Schreie begleiteten das Donnern der Hufe auf dem Betonboden.

      Hinter der langen Stallgasse tauchte der Rappe wieder auf und lief an den Koppeln entlang in Richtung Wald. Reiter kamen ihm im Schritt entgegen.

      Mit angehaltenem Atem beobachteten Anke und Erik, was nun geschah. Erstaunlicherweise bremste das wild gewordene Pferd ab, ließ sich von einem der Reiter am Zügel fassen und zurück zum Stall führen.

      »Was war das?«, fragte Erik.

      »Keine Ahnung!« Anke atmete erschrocken aus. »Für heute reicht es mir. Lisas Reitstunde ist hiermit beendet.«

      Trotz Lisas Protest führte Erik das Pferd in den Stall.

      »Dr. Kehl hat das Ergebnis der DNA-Untersuchung«, berichtete er, während Anke und Lisa das Pferd versorgten.

      Neugierig horchte Anke


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