Kullmann jagt einen Polizistenmörder. Elke Schwab
zuzureiten und zu grüßen, galoppierte er in vollem Tempo los, allerdings in die falsche Richtung. Der Schimmel rannte wie von einer Tarantel gestochen um die grüne Hecke herum, wo auch die Leute des Parcoursdienstes standen. Vor Schreck sprangen die überraschten Helfer in die Hecke hinein, weil das Pferd immer schneller das Gebüsch umkreiste. Biehler saß völlig hilflos auf dem großen Pferd und versuchte mit allen Mitteln, durchzuparieren, aber vergebens. Der Schimmel rannte unbeirrbar weiter.
»Herr Biehler, hier ist die Richterbank«, ertönte eine leicht amüsierte Stimme durchs Mikrofon.
Der Schimmel blieb unbeeindruckt und setzte seine Runden um die Hecke weiterhin fort. Alle Bemühungen von Biehler, das Pferd unter Kontrolle zu bringen, scheiterten, bis eine zweite Klingel ertönte.
»Herr Biehler, dieser Busch gehört nicht zum Parcours. Oder wollen Sie unter die Buschreiter gehen?«, ertönte die vor Ironie triefende Stimme durchs Mikrofon.
Die Zuschauer lachten.
Verwirrt fragte Anke: »Was ist ein Buschreiter?«
»Vielseitigkeitsreiter nennt man auch Buschreiter. Eine Vielseitigkeitsprüfung besteht aus einer Dressurprüfung, einer Geländespringprüfung, wo es nur feststehende Naturhindernisse gibt, und aus einer Springprüfung im Parcours«, erklärte Robert.
Wieder verging eine Weile, bis die Stimme durchs Mikrofon sich erneut meldete: »Herr Biehler, Ihre Zeit ist um. Gerne hätte ich Ihnen noch ein Weilchen zugesehen, aber Sie sind ausgeschieden.«
Lautes Gelächter ertönte aus den Zuschauerreihen. Auch Anke konnte sich nicht mehr halten vor Lachen und meinte zu Robert, der ebenfalls sehr belustigt wirkte: »Ich würde mich an Biehlers Stelle in Grund und Boden schämen.«
Aber Robert winkte nur ab und meinte: »Das lässt ihn eiskalt.«
Trotz des Richterspruchs und durch das Gelächter der Zuschauer umrundete Biehler weiterhin die Hecke, bis er in seiner Hilflosigkeit sich einfach vom Pferd fallen ließ und sich an den Zügeln festhielt. Damit brachte er das Pferd tatsächlich zum Stillstand. Um dem Hohn noch die Krone aufzusetzen, erhielt er für seine Zirkusnummer einen jubelnden Applaus der Zuschauer.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht führte er den Schimmel zu Sybille und ließ sich von ihr die Schulter reiben. Anke und Robert begaben sich in ihre Nähe, weil sie neugierig waren, was er zu sagen hatte. Während Sybille ihm die Schulter massierte, meinte er zu den anderen Reitern, die ihn fragend musterten: »Ich habe mir beim Einreiten in den Parcours die Schulter ausgerenkt. Deshalb konnte ich das Pferd einfach nicht mehr durchparieren.«
Sybille bedauerte ihn tüchtig, während er seine Geschichte erzählte, wodurch er sich noch mehr bestätigt fühlte. Als die anderen Reiter sich wieder entfernten, stieß er seine Frau weg und meinte in einem sehr unfreundlichen Ton: »Es reicht jetzt. Stell das Pferd weg!«
Amüsiert über das abwechslungsreiche Programm, zu dem Biehler erheblich beigetragen hatte, spazierten Anke und Robert über den Turnierplatz, der sich mit Besuchern und Reitern füllte. Anke blickte sich um, aber sie kannte niemanden, während Robert ständig von Bekannten angesprochen wurde. Sie ritt erst seit wenigen Monaten, überlegte sie sich, da war es nur verständlich, dass sie noch fremd war in dieser Gesellschaft. Aber das wollte sie ändern. Sie wollte sich Freunde suchen, mit denen sie ihre Interessen teilen konnte. Sie war es leid, ihr Leben nur aus Arbeit bestehen zu lassen. Kullmann hatte völlig Recht, als ihr immer wieder geraten hatte, sie solle auch lernen, ihr Privatleben zu genießen; schließlich sei man nur einmal jung. Nun wollte sie damit beginnen. Mit Robert würde ihr dieser Start gut gelingen.
Sie war in diesen Gedanken versunken, als ein Sanitäter auf Robert zukam: »Guten Tag, Herr Spengler. Was treibt Sie denn auf ein Reitturnier?«
Schlagartig wurde Anke ganz heiß zumute. Spengler! Mein Gott, dieser Name. Wie konnte das möglich sein? Gab es wirklich solche Zufälle, dass Robert mit Luise Spengler etwas zu tun hatte? Verzweifelt grübelte sie, ob der Name Robert Spengler in den Akten aufgetaucht war. Tatsächlich. Sie konnte sich erinnern, dass Luise einen Sohn hatte, der Robert Spengler hieß.
Als Robert sich zu ihr umdrehte, erschrak er.
»Mein Gott, Anke. Was ist passiert? Du siehst ja aus, als sei dir der Leibhaftige begegnet.«
Tröstend wollte er sie in den Arm nehmen, aber Anke wich geschickt aus und fragte: »Kann es wirklich sein, dass du Robert Spengler bist? Der Sohn von Kurt und Luise Spengler?«
Verblüfft schaute Robert Anke an und meinte: »Ja. Was ist daran so verwerflich?«
Nun musste Anke sich setzen. Die Welt war klein, gestand sie sich ein. Endlich lernte sie einen Mann kennen, der ihr gut gefiel und ihr Leben wieder in Schwung bringen könnte. Da musste es ausgerechnet jemand sein, der in einen Fall verwickelt war, an dem sie arbeitete. Im Grunde genommen müsste sie entweder den Fall abgeben oder den Kontakt zu Robert abbrechen. Aber sie wollte weder das eine noch das andere. Den Fall abzugeben, würde für sie bedeuten, Kullmann in seiner misslichen Lage im Stich zu lassen; und Robert aufzugeben sprach gegen ihre Gefühle.
»Anke, ich habe dich etwas gefragt«, drängte Robert nun.
Anke zögerte lange; sie zog Robert etwas auf die Seite: »Zufällig bin ich Kriminalbeamtin und arbeite an dem Fall Luise Spengler.«
»Oh«, reagierte Robert überrascht. »Was gibt es daran zu arbeiten? Meine Mutter ist tödlich verunglückt.«
»Das ist noch nicht eindeutig bewiesen«, widersprach Anke.
»Was macht dich so sicher, dass es kein Unfall war?«, fragte er unwirsch.
»Was macht dich so sicher, dass es ein Unfall war?«, entgegnete sie genauso ungehalten.
Als wenn bei strahlendem Sonnenschein ein Blitz ein furchtbares Unwetter ankündigte, so düster und eisig war es plötzlich zwischen ihnen geworden.
»Die Umstände, wie es passiert ist. Meine Eltern hatten seit Jahren getrennte Schlafzimmer; niemals ist jemand in das Zimmer des anderen gegangen, weil sie ihre Privatsphären respektierten. Meine Mutter hatte eben Pech, dass sie das Gleichgewicht verloren hat, als sie gerade am Fenster stand.«
Nun konnte Anke nicht mehr zurück. Die Polizistin hatte sich mächtig in ihr Privatleben geschoben. Sie überhörte nicht die Gleichgültigkeit, mit der er über den Tod seiner eigenen Mutter sprach, was sie ihm auch verdeutlichte.
Entschuldigend erklärte Robert: »Meine Mutter und ich standen uns nicht sehr nahe. Das bedeutet allerdings nicht, dass mir ihr Tod egal ist.«
»Aber das erklärt mir immer noch nicht, was dich so sicher macht, dass es wirklich nur ein Unfall war«, blieb Anke beharrlich.
»Sie litt schon sehr lange unter Kreislaufstörungen und Schwächeanfällen. Da ist es doch nicht auszuschließen, dass sie einen solchen Schwächeanfall bekommen hat, als sie gerade am Fenster stand.«
»Da muss ich dir grundsätzlich recht geben. Weißt du denn, dass sie genau in dem Augenblick, als sie aus dem Fenster stürzte, einen solchen Schwächeanfall hatte?«, hakte Anke nach.
»Genau weiß ich es natürlich nicht, weil ich zu der Zeit am Bodensee war. Ich weiß sogar den Namen des Hotels. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich schon einmal von der Polizei verhört worden bin. Nun, deine Kollegen haben sich damit zufrieden gegeben. Es wäre schade, wenn du das nicht könntest. Lass doch die Polizistin einfach zu Hause und genieße mit mir den schönen Tag.«
Anke schwankte zwischen Anspannung und Scham. Sie hätte gern mehr erfahren von der frühen Entfremdung zwischen Mutter und Sohn. Was hatte die beiden entzweit? Robert machte einen so netten und freundlichen Eindruck. Es schien Anke unmöglich, sich mit ihm zu verkrachen. Andererseits hatte Robert ihren wunden Punkt getroffen. Es tat ihr Leid, dass sie ihre Funktion als Polizistin sogar in Roberts Anwesenheit, die ihr so viel bedeutete, nicht ablegen konnte. Dabei hatte sie sich so sehr vorgenommen, auf Kullmanns Rat zu hören und endlich ihr Privatleben zu genießen. Leicht fiel ihr das nicht, wie sie nun merkte, aber sie wollte es trotzdem versuchen, weil die Verlockung auf einen sonnigen Tag