Der Tunnel. Bernhard Kellermann
Serie von Bildern.
Plötzlich — gegen elf Uhr — stockt die Serie. Etwas Neues?! Alle Gesichter sind nach oben gerichtet.
Ein Porträt: Mr. Hunter, Broker, 37. Straße 212 East, buchte soeben sein Billett für die erste Fahrt New York—Europa.
Die Menge lacht, schwingt die Hüte, schreit!
Die Telephonämter waren überarbeitet, die Telegraphen und Kabel konnten die Arbeit nicht mehr bewältigen. In all den Tausenden von Bureaus New Yorks riß man den Hörer vom Apparat, um mit Verbündeten die Lage zu besprechen. Ganz Manhattan fieberte! Die Zigarre im Mund, den steifen Hut im Nacken, in Hemdärmeln, schweißtriefend, saß und stand man und schrie und gestikulierte. Bankiers, Broker, Agenten, Clerks. Offerten ausarbeiten! Es galt, seine Stellung einzunehmen, so rasch, so günstig wie möglich! Eine Riesenkampagne stand bevor, eine Völkerschlacht des Kapitals, bei der man niedergeritten wurde, wenn man sich umsah. Wer würde das Riesenunternehmen finanzieren? Wie würde es geschehen? Lloyd? Wer sagt Lloyd? Wittersteiner? Wer wußte etwas? Wer war dieser Teufel Mac Allan, der für fünfundzwanzig Millionen Ländereien über Nacht aufkaufte, deren Bodenwert sich verdreifachen, verfünffachen, — wie sagst du! — verhundertfachen mußte?
Am erregtesten ging es in den vornehmen Geschäftsräumen der großen transatlantischen Schiffahrtskompanien zu. Mac Allan war der Mörder des transatlantischen Passagierverkehrs! Sobald sein Tunnel fertig war — und es war ja recht wohl möglich, daß er eines Tages fertig sein würde! — konnte man die viermalhunderttausend Tonnen, die man schwimmen hatte, einschmelzen lassen. Man konnte in Luxusschiffen Reisende zu Zwischendeckpreisen befördern, man konnte die Kähne in schwimmende Sanatorien für Lungenkranke umbauen oder sie nach Afrika zu den Schwarzen schicken. Innerhalb von zwei Stunden hatte sich ein Anti-Tunnel-Trust zusammentelephoniert und -telegraphiert, der eine Interpellation an die verschiedenen Regierungen entwarf.
Von New York aus verbreitete sich die Erregung über Chikago, Buffalo, Pittsburg, St. Louis, San Franzisko, während das Tunnelfieber drüben in Europa London, Paris, Berlin zu ergreifen begann.
New York flimmerte und glitzerte in der Mittagshitze und als sich die Leute wieder auf die Straße wagten, donnerten ihnen von allen Straßenecken riesenhafte Plakate entgegen: „Hunderttausend Arbeiter!“
Endlich erfuhr man nun auch den Sitz des Syndikats: Broadway-Wallstreet. Hier stand ein blendendweißes, halbfertiges Turmgebäude, dessen zweiunddreißig Etagen noch von Handwerkern wimmelten.
Schon eine halbe Stunde, nachdem das Riesenplakat New York überschwemmt hatte, drängten sich auf den mit kalkbespritzten Brettern belegten Granitstufen des Syndikatgebäudes Scharen von Arbeitsuchenden zusammen, und das gesamte Heer der Arbeitslosen, das zu jeder Zeit gegen Fünfzigtausend beträgt, wälzte sich durch hundert Straßen nach Downtown. In den Parterreräumen, wo noch Leitern, Böcke und Farbkübel herumstanden, stießen sie auf Allans Agenten — kalte, erfahrene Burschen mit dem raschen Blick von Sklavenhändlern. Sie sahen durch die Kleider hindurch das Knochengerüst ihres Mannes, seine Muskeln und Sehnen. An der Stellung der Schultern, an der Beuge der Arme erkannten sie seine Kraft. Eine Pose, Schminke und gefärbte Haare, waren vor ihren Augen sinnlos. Was grau war und schwächlich, was die mörderische Arbeit New Yorks schon ausgesogen hatte, das ließen sie liegen. Und ob sie auch Hunderte von Menschen in wenigen Stunden sahen — wehe, wenn einer einen zweiten Versuch machte: ihn traf ein eiskalter Blick, daß ihm das Rückenmark gefror, und der Agent sah ihn hierauf überhaupt nicht mehr.
9.
Noch am gleichen Tage erschienen auf allen fünf Stationen, an der französischen, spanischen und amerikanischen Küste, auf den Inseln Bermuda und San Jorgo (Azoren) Truppe von Männern. Sie kamen in Wagen und Mietsautomobilen an, die sich langsam den Weg durchs Gelände suchten, in Sümpfe einsanken und über Dünen humpelten. Bei einer gewissen Stelle, die sich nicht im geringsten von der Umgebung unterschied, kletterten sie von den Sitzen herab, schnallten Nivellierapparate, Meßinstrumente, Bündel von Markierungsstäben vom Wagen und machten sich an die Arbeit. Mit ruhiger Konzentration visierten, maßen, rechneten sie, ganz als gälte es nur einen Garten anzulegen. Der Schweiß tropfte ihnen von der Stirn. Sie steckten einen Streifen Landes ab, der in einem genau festgelegten Winkel gegen das Meer deutete und rückwärts weithinein ins Land lief. Bald waren sie zerstreut an verschiedenen Punkten tätig.
In der Heide tauchten einige Wagen auf, beladen mit Balken, Brettern, Dachpappen und verschiedenen Gerätschaften. Diese Wagen schienen ganz zufällig hierhergekommen zu sein und nicht das geringste mit den Geometern und Ingenieuren, die nicht einmal aufsahen, zu tun zu haben. Sie hielten. Balken und Bretter prasselten auf die Erde. Spaten blitzten in der heißen Sonne, die Sägen kreischten, Hammerschläge dröhnten.
Dann kam ein Auto angeholpert und ein Mann stieg aus und schrie und gestikulierte. Der Mann nahm ein Bündel Meßstangen unter den Arm und stapfte zu den Geometern hinüber. Er war schmal und hellblond, es war Hobby, der Chef der amerikanischen Station.
Hobby schrie Hallo! lachte, wischte sich den Schweiß ab — er war in Schweiß gebadet — und rief:
„In einer Stunde kommt ein Koch! Wilson schafft wie ein Wilder in Toms River.“ Dann steckte er zwei Finger in den Mund und pfiff.
Von den Wagen herüber kamen vier Männer mit Meßstangen auf den Schultern.
„Hier, die Herren werden euch chaps sagen, was ihr tun sollt.“ Und Hobby kehrte wieder zu den Wagen zurück und sprang mitten in den Holzhaufen hin und her.
Dann verschwand er in seinem Auto, um nach den Arbeitern in Lakehurst zu sehen, die mit dem Bau einer provisorischen Telephonlinie beschäftigt waren. Er schrie und schimpfte und fuhr weiter, am Bahnkörper Lakehurst-Lakewood entlang, der das Gelände des Syndikats durchschnitt. Mitten auf der Strecke, in einer Viehweide, auf der Kühe und Ochsen umherstanden, hielt ein qualmender Güterzug von zwei Lokomotiven und fünfzig Waggons. Hinter ihm her kam ein Zug mit fünfhundert Arbeitern. Es war fünf Uhr. Diese fünfhundert Arbeiter waren bis zwei Uhr mittags angeworben worden und hatten um drei Uhr Hoboken verlassen. Sie waren alle heiter, gutgelaunt, aus dem kochenden New York heraus zu sein und eine Beschäftigung in freier Luft gefunden zu haben.
Sie stürzten sich auf die fünfzig Waggons und warfen Bretter, Wellbleche, Dachpappen, Kochherde, Proviant, Zelte, Decken, Kisten, Säcke, Ballen auf die Viehweide. Hobby fühlte sich wohl. Er schrie, pfiff, kletterte rasch wie ein Affe über die Waggons und Bretterhaufen und heulte seine Befehle. Eine Stunde später waren die Feldküchen installiert und die Köche an der Arbeit. Zweihundert Arbeiter waren beschäftigt, in aller Eile Baracken zusammenzuschlagen für die Nacht, während die übrigen noch ausluden.
Als es dunkel war, empfahl Hobby seinen „boys“ zu beten und sich aufs Ohr zu legen, so gut es ging.
Er fuhr zurück zu den Geometern und Ingenieuren und telephonierte seinen Rapport nach New York.
Dann ging er mit den Ingenieuren hinunter an die Dünen zum Baden. Und hierauf warfen sie sich in den Kleidern auf den Bretterboden der Baracke und schliefen augenblicklich ein, um mit dem Grauen des Tages wieder ihre Tätigkeit aufzunehmen.
Um vier Uhr morgens trafen hundert Waggons Material ein. Um ein halb fünf tausend Arbeiter, die die Nacht im Zug geschlafen hatten und hungrig und erschöpft aussahen. Die Feldküchen arbeiteten schon im Grauen des Tages mit Hochdruck und die Bäckereien standen unter Dampf.
Hobby war pünktlich zur Stelle. Die Arbeit machte ihm Vergnügen, und obwohl er nur wenige Stunden geschlafen hatte, befand er sich in seiner besten Laune, die ihm sofort die Sympathie seines Arbeiterheeres gewann. Er hatte sich ein Pferd zugelegt, einen Grauschimmel, auf dem er den ganzen Tag unermüdlich hin und her galoppierte.
Neben der Bahnstrecke häuften sich ganze Berge von Material an. Um acht Uhr traf ein Zug von zwanzig Waggons ein, der nur Schwellen, Schienen, Karren, zwei zierliche Lokomotiven für eine Schmalspurbahn enthielt. Und um neun Uhr kam der zweite. Er brachte ein Bataillon von Ingenieuren und Technikern mit, und Hobby warf tausend Mann auf den Bau des schmalen Bahnkörpers, der zur