Der Tunnel. Bernhard Kellermann
wurde, so mußte er sich mit Zimmer Nummer 3512 begnügen, das ihm der Manager mit zuvorkommender Geschäftsmiene anbot. Hier machte er einem chinesischen Boy, der zur Dachgartenbedienung gehörte, ein bestechendes Angebot, wenn er einen unscheinbaren Apparat, nicht größer als ein Kodak, in irgendeines der Kübelgewächse da droben schmuggele. Allein er hatte nicht damit gerechnet, daß Allanit ein Hartstahl war, den kein Geschoß durchschlägt.
Allan hatte seine genauen Instruktionen gegeben, und der Manager verbürgte sich dafür, daß sie eingehalten wurden. Sobald alle Geladenen den Roofgarden betreten hatten, durfte der Lift nicht weiter als bis zum 35. Stock geführt werden. Die Boys der Bedienung durften den Dachgarten nicht eher verlassen, als bis der letzte Gast sich entfernt hatte. Nur sechs Vertretern der Presse und drei Photographen war der Zutritt erlaubt (Allan brauchte sie ebenso wie sie ihn) — allein gegen die ehrenwörtliche Versicherung, während der Konferenz nicht mit der Außenwelt in Verbindung zu treten.
Einige Minuten vor neun Uhr erschien Allan selbst auf dem Dachgarten, um sich zu überzeugen, ob man all seine Anordnungen genau befolgt habe. Er entdeckte augenblicklich den eingeschmuggelten drahtlosen Telephonapparat im Geäst eines Lorbeerbaumes, und eine Viertelstunde später hatte ihn der Gerissene wieder als ein hübsch verschnürtes und versiegeltes Expreßpaket auf Nummer 3512 — ohne überrascht zu sein, denn er hatte deutlich in seinem Empfangsapparat gehört, wie eine Stimme etwas unwillig sagte: „Schaffen Sie das Zeug weg!“
Von neun Uhr an begann der Lift zu spielen.
Die Geladenen tauchten schwitzend und pustend aus dem Hotelblock empor, der trotz den Kühlanlagen in allen seinen Poren glühte. Sie kamen aus der Hölle ins Fegfeuer. Jeder einzelne, der aus dem Lift stieg, prallte vor dieser Mauer von Hitze zurück. Dann aber legte er augenblicklich den Rock ab, nicht ohne die anwesenden Damen vorher höflich um Erlaubnis gebeten zu haben. Diese Damen waren Maud — heiter, blühend, schneeweiß gekleidet — und Mrs. Brown, eine alte, kleine, ärmlich aussehende Frau mit gelbem Gesicht und dem argwöhnischen Blick schwerhöriger Geizhälse: die reichste Frau der Staaten und berüchtigte Wucherin.
Die Geladenen kannten einander ohne Ausnahme. Sie hatten sich auf verschiedenen Kriegschauplätzen getroffen, sie hatten jahrelang Schlachten Schulter an Schulter oder gegeneinander geschlagen. Ihre gegenseitige Hochachtung war nicht allzu groß, aber sie schätzten sich immerhin. Sie waren fast alle schon grau oder weiß, ruhig, würdig, abgeklärt und besonnen wie der Herbst, und die meisten hatten gutmütige, freundliche, ja kindliche Augen. Sie standen in Gruppen beisammen und plauderten und scherzten oder gingen zu Paaren auf und ab und flüsterten. Die Einsamen und Schweiger saßen schon still in den Klubsesseln und blickten kühl, nachdenklich und mit etwas übelgelauntem Gesichtsausdruck auf den persischen Teppich, der über den Boden gebreitet war. Zuweilen zogen sie die Uhr und warfen einen Blick auf den Lift: immer noch kamen Nachzügler ...
Drunten brodelte New York und das Brodeln schien die Hitze zu verdoppeln. New York schwitzte wie ein Ringkämpfer nach getaner Arbeit, es pustete wie eine Lokomotive, die ihre dreihundert Meilen hinter sich hat und in einer Bahnhofhalle verschnauft. Die Autos, die im zerweichten Asphalt der Straße klebten, surrten und brummten in der Broadway-Schlucht dahin, die einander drängenden Züge der elektrischen Cars hämmerten ihre Glockensignale; irgendwo, ganz fern, gellte eine schrille Glocke: ein Feuerlöschzug, der durch die Straßen fegte. Es war ein Summen wie von riesigen Glocken in der Luft, untermischt mit fernen Schreien, als würden irgendwo in der Ferne Haufen von Menschen abgeschlachtet.
Ringsum standen und funkelten Lichter in der tiefblauen, heißen Nacht, von denen man auf den ersten Blick nicht sagen konnte, ob sie dem Himmel oder der Erde angehörten. Vom Dachgarten aus sah man einen Abschnitt der zwanzig Kilometer langen Broadway-Schlucht, die ganz New York in zwei Teile spaltet: einen weißglühenden, klaffenden Schmelzofen, in dem farbige Feuer schwangen und auf dessen Boden mikroskopische Aschenteilchen entlang trieben: Menschen. Eine Seitenstraße in nächster Nähe blendete wie ein Strom flüssigen Bleis. Aus ferner gelegenen Querstraßen dampften lichte Silbernebel. Einzelne Wolkenkratzer erhoben sich gespenstisch weiß im Lichtscheine eines Platzes. Wiederum aber standen Gruppen von eng aneinander gedrängten Turmhäusern dunkel, schweigsam, wie riesige Grabsteine, die über die eingesunkenen verschwindenden Zwerghütten von zwölf und fünfzehn Etagen emporragten. In der Ferne am Himmel ein Dutzend Stockwerke mattblinkender Fensterscheiben, ohne daß das geringste von einem Haus zu sehen gewesen wäre. Da und dort vierzigstöckige Türme, auf denen matte Feuer lohten: die Dachgärten von Regis, Metropolitain, Waldorf Astoria, Republic. Rings am Horizont glommen schwüle Feuersbrünste: Hoboken, Jersey City, Brooklyn, Ost-New York. In der Spalte zwischen zwei dunklen Wolkenkratzern zuckte jede Minute ein doppelter Lichtstrahl auf, wie elektrische Funkennähte, die zwischen den Mauern übersprangen: die Hochbahn der sechsten Avenue.
Rings um das Hotel flimmerte das Feuerwerk der Nacht. Unaufhörlich schossen Lichtfontänen und farbige Strahlengarben aus den Straßen empor zum Himmel. Ein Blitz zerriß ein Turmhaus von unten bis oben und setzte einen riesigen Schuh in Brand. Ein Haus ging in Flammen auf und in den Flammen erschien ein roter Stier: Bull Durham Rauchtabak. Raketen jagten zur Höhe, explodierten und bildeten beschwörende Worte. Eine violette Sonne kreiste wie irrsinnig hoch oben in der Luft und spie Feuer über Manhattan, die bleichen Lichtkegel von Scheinwerfern tasteten nach dem Horizont und beleuchteten kalkweiße Häuserwüsten. Hoch oben am Himmel über dem blitzenden New York aber standen blaß, unscheinbar, elend, geschlagen, die Sterne und der Mond.
Von der Battery herauf kam ein Reklameluftschiff mit weichem Surren der Propeller und zwei großen Augen, eulenhaft. Und auf dem Bauch der Eule erschienen abwechselnd die Worte: Gesundheit! — Erfolg! — Suggestion! — Reichtum! — Pinestreet 14!
Drunten aber, sechsunddreißig Stockwerke tief unten, wogte ein Heer von Hüten um den Hotelblock, Reporter, Agenten, Broker, Neugierige — in der blendenden Lichtflut alle ohne Schatten — schwirrend vor Spannung, die Augen auf die Lichtgirlanden des Dachgartens gerichtet. Durch das fiebernde Stimmengewirr, das das Hotel umbrandete, drangen deutlich die Rufe der Broadway-Ratten, der Zeitungsausrufer, herauf: „Extra! Extra!“ Die „World“ hatte im letzten Moment ihren letzten und besten Triumph ausgespielt, mit dem sie alle anderen Journale überstach. Sie war allwissend und kannte das Projekt genau, das die Milliarden, die da droben schwitzten, vom Stapel ließen: eine submarine Postbeförderung! A. E. L. M.! America-Europe-Lightning-Mail! Genau wie heute die Briefe durch Luftdruck in unterirdischen Röhren von New York nach San Franzisko gepreßt wurden, sollten sie durch gewaltige Röhren, die wie Kabel gelegt werden würden, nach Europa geschossen werden. Über die Bermudas und Azoren! In drei Stunden! (Man sieht, die „World“ hatte Allans Reiseroute genau feststellen lassen.)
Selbst die ruhigsten Nerven hier oben konnten sich dem Eindruck der fiebernden Straße, des brodelnden und glitzernden New Yorks und der Hitze nicht entziehen. Alle wurden, je länger sie warteten, mehr oder weniger erregt und empfanden es wie eine Erlösung, als der blonde Hobby, der sich sehr wichtig gebärdete, die Versammlung eröffnete.
Hobby schwenkte ein Telegramm und sagte, daß C. H. Lloyd bedaure, durch sein Leiden abgehalten zu sein, die Herrschaften persönlich zu begrüßen. Er habe ihn beauftragt, ihnen Herrn Mac Allan, den langjährigen Mitarbeiter der Edison-Works-Limited und Erfinder des Diamantstahls Allanit, vorzustellen.
„Hier sitzt er!“ Hobby deutete auf Allan, der neben Maud in einem Korbstuhl saß, in Hemdärmeln wie alle andern.
Herr Allan habe ihnen etwas zu sagen. Er wolle ihnen ein Projekt vorschlagen, das, wie sie wüßten, C. H. Lloyd selbst das größte und kühnste aller Zeiten genannt habe. Herr Allan besäße Genie genug, das Projekt zu bewältigen, für die Ausführung aber brauche er ihr Geld. (Zu Allan:) „Go on, Mac!“
Allan stand auf.
Aber Hobby machte ihm ein Zeichen, noch einen Moment zu warten, und schloß, indem er einen Blick in das Telegramm warf: Er habe vergessen ... für den Fall, daß die Versammlung auf Mac Allans Projekt eingehe, beteilige sich C. H. Lloyd mit fünfundzwanzig Millionen Dollar. (Zu Allan:) „Now, my boy!“
Allan trat an Hobbys Stelle. Die Stille wurde schwül und drückend. Die Straße drunten fieberte wirrer und