Schüchterne Gestalten. Peter Bergmann

Schüchterne Gestalten - Peter Bergmann


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zur Uferstraße. So richtig gewöhnte er sich noch nicht an das Auto; wie auch, es war fremd und erst wenige Sekunden in seinem Besitz. Auch die Scheiben waren beschlagen; sonst hätte er erkannt, dass der Weg in die Uferstraße plötzlich versperrt war. Mist, was wollen die denn? Skinheads oder vermummter Mob? Er begann zu registrieren, dass sich vier dunkle Typen so auf der Straße aufgebaut hatten, dass er nur mit größtem Schaden die Uferstraße erreichen würde. Ein Blutbad war aber nicht vorgesehen und würde die Bullen schneller als gedacht auf ihn aufmerksam machen. Verfolgungsjagden mit diesem Auto hier – keine Chance. Er zitterte und konnte sich nicht konzentrieren. Ruhig, denke ruhig nach. Lass dich nicht in die geistige Enge drängen, finde einen Ausweg. Genauso lernten sie es damals bei der Roten Armee. Jede Situation, ist sie noch so ausweglos, kann beherrscht und gelöst werden. Immer! Die Ausbilder damals waren die skrupellosesten Menschen, die er jemals kennenlernen musste. Hoffentlich stimmt das auch jetzt noch, denn dann würde er mit vier Angreifern locker fertig werden.

      Er ist Kampfsportler. Ok, er war es. Komm, erinnere dich. Versuche es mit Sambo oder noch besser Systema. Diese Kampfsportart ist im körperlosen Nahkampf präzise anwendbar und ausschließlich die sofortige Vernichtung des Gegners zum Ziel. Erinnere dich. Los konzentriere dich. Mit vier Typen wirst du fertig. Du schaffst es. Dafür bist du ausgebildet.

      Nochmals checkte er das Umfeld vor weiteren unliebsamen Überraschungen und konnte durch die beschlagenen Scheiben nichts erkennen. Es musste jetzt schnell gehen; nur dann hatte er eine Chance. Er bremste kurz vor den Angreifern, zog die Handbremse an und war schon draußen. Was er noch mitbekam, war, dass sie polnisch sprachen und sofort zum Angriff übergingen. Eigentlich mussten sie das gar nicht mehr, denn gerade als er aus dem Auto sprang, traf ihn ein Schlag. So hart wie in keiner Folterzelle damals in den sibirischen Ausbildungslagern. Er sank zu Boden und sah sich Tritten ausgesetzt, die einfach nicht aufhören wollten. Polnisches Kauderwelsch drang anfangs an seine Ohren; allerdings ließen sich die aufgefangenen Informationen nirgends mehr speichern. Ihm tat alles weh. Völlig zwecklos versuchte er sich einzurollen, um wenigstens die Wucht der Schläge abzufedern.

      Hatte er die Autodiebe überrascht? Waren sie einfach nur zu ihrem Beutefahrzeug zurückgekommen? Oder sie sich das Auto auf einem der Märkte gekauft und wollten jetzt nach Hause fahren? Fragen über Fragen … die klären wir aber heute nicht mehr … warum eigentlich nicht … woher wussten sie, dass ich … schlafen, einfach nur schlafen … aufhören … nicht mehr schlagen.

      Er verlor das Bewusstsein.

      Ulrich saß im Buick seines Kollegen. Dieser steuerte seinen SUV Richtung Innenstadt. Die Soundanlage war wieder aktiv: ‚Comes a Time‘, Neil Young. Etwas ruhiger als der Krach heute Nachmittag, fand Ulrich. Bis auf den Song, der Motorcycle Mama hieß; angeblich, denn es stand so am Display. Noch nie verstand Ulrich, warum Remsen solche unwirkliche und in seinen Ohren brachiale Musik mochte.

      Sie waren auf dem Weg in das Stadtzentrum. Remsen versuchte sich an der Idee, etwas essen zu wollen. Von diesem Thai-Matsch Geruch, so verkündete Remsen, wird er sich wohl nie wieder erholen können. Er will was Festes haben; sein inzwischen leerer Magen hat sich zwischenzeitlich mehrmals und nachdrücklich gemeldet. Ulrich ahnte, dass es eine lange Nacht werden könnte und schon deshalb zugestimmt, mitzukommen. Denn Remsen bekam in solchen Situationen schon öfter geniale Gedanken und gab damit schon so manches Mal laufenden Ermittlungen die entscheidende Richtungsänderung.

      Remsen stoppte die Befragung von Weilham und erklärte ihm, dass er im VR3 auf sie warten sollte bis sie wieder zurück waren. Nein, dessen Wunsch, nach Hause zu fahren, konnten die Herren Kommissare nicht entsprechen – noch zu viele offene Fragen. Nach dem Austausch der üblichen Floskeln willigte Weilham dann plötzlich ein, die beiden zum Essen zu begleiten. Auch für ihn könnte es heute etwas länger werden. Weilham durfte allerdings in einem der blauen Taxen Platz nehmen, die den Buick begleiteten.

      Remsen lenkte seinen SUV zielsicher in die Theresienstraße. Spätestens jetzt wusste Ulrich, dass Jan ins Red Rooster will. Er hat davon gehört; halb Pub, halb Restaurant. Egal, was Gutes zum Essen und ein Bier wird’s wohl geben. Zu dritt betraten sie den Gastraum; Remsen vorneweg. Eine junge Kellnerin, Studentin mit Aushilfsjob nahm Ulrich an, kam auf Remsen zu. Beide tauschten kurz ein paar Informationen aus und schon deutete die mutmaßliche Studentin mit den Speisekarten in der Hand auf einen Tisch in der hinteren Ecke; Weilham und hinter ihm Ulrich hinterher.

      Auf dem Weg dahin blieb Weilham urplötzlich stehen und starrte einen Mann an. Der saß auf einer Art Barhocker an einem der Bistrotische; vor ihm ein Bier. Äußerlich nichts Auffälliges, was Ulrich hätte beunruhigen müssen. Nur, der Angestarrte tat jetzt das Gleiche und ließ Weilham nicht mehr aus den Augen. Remsen flirtete mit der Kellnerin und war schon am Tisch, auf seinem Platz. Und wedelte mit der Speisekarte.

      Da passierte es: Weilham stürzte sich mit der Kraft seiner gut 100 Kilogramm auf den Mann, den er zuvor angestarrte.

      „Du Schwein, hast uns fertiggemacht. Ich bringe dich um; dich und deine verfluchte Bagage.“ Das wüste Geschrei ließ sämtliche Gespräche im Red Rooster urplötzlich verstummen. Schneller als Ulrich hätte eingreifen können, begann zwischen beiden eine wüste Keilerei. Der Angegriffene versuchte, den Attacken zu entkommen, was ihn aufgrund seiner Fitness ganz gut gelang. Ulrich und inzwischen auch Remsen zogen und zerrten an Weilham herum, bis dieser kapitulierte und von seinem Opfer abließ.

      „Sind Sie Igor Abtowiz?“ Während Ulrich den noch immer wütenden Weilham zurückhielt, nahm Remsen Kontakt zum vermeintlichen Opfer auf.

      „Ja, der bin ich und wenn ich richtig gehe, haben Sie mich hierher bestellt, ja?“ Remsen nickte kurz. „Ich wollte nur sichergehen, ob Weilham gestern Abend wirklich mit Ihnen essen war. Sie haben eine Legitimation für mich? Sicher, ist sicher.“ Remsen grinste Abtowiz an und prüfte das ihm entgegengehaltene Dokument.

      „Moment.“ Remsen ging hinaus und ließ von seinen dort wartenden Kollegen den Ausweis prüfen. Ulrich stand wie ein überfahrenes Karnickel herum und konnte seine Gedanken nicht ordnen: Habe ich das richtig mitbekommen? Remsen arrangiert eine Gegenüberstellung und weihte ihn nicht ein? Das hat ein Nachspiel für seinen Partner, das wusste er jetzt ganz genau.

      Wieder drinnen wollte Remsen von Abtowiz wissen, ob es gestern Abend auch so laut zwischen beiden zuging. Weilham versuchte zu stören, aber Ulrich drängte ihn an den reservierten Tisch.

      „Nicht direkt, wir waren in einer Besprechung.“ Abtowiz fühlte sich richtig unwohl in der Situation. Der Bulle stellte ihm offensichtlich eine Falle.

      „Die muss anscheinend einen schlechten Ausgang genommen haben oder warum war er so wütend auf Sie?“

      „Herr Kommissar, ich denke, dass ich jetzt nichts mehr sage und auf meinen Anwalt warte. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen.“

      „Hatten Sie eine Wahl, Herr Abtowiz? Wenn Sie sich geweigert hätten, würden Sie jetzt nicht beim Bier, sondern in einem unsere schönen Vernehmungsräumen sitzen.“ Remsen überlegte: „Morgen um 9 Uhr bei uns in der W36, Arkadenstraße. Pünktlich, ich muss nämlich in die Kirche.“

      Abtowiz sah seine Chance hier zu verschwinden und wollte zahlen.

      Remsen kam ihm zu Hilfe: „Mach ich und raus jetzt. Vergessen Sie nicht 9 Uhr, von mir aus mit Verstärkung.“

      Der Beamte, der Abtowiz’ Ausweis geprüft hatte, betrat gerade das Lokal, als Abtowiz durch die Tür entschwinden will. Er sah Remsen und schüttelte den Kopf. Remsen bedeutete mit einem Kopfnicken in Richtung Abtowiz, dass dieser den Ausweis wieder zurückhaben und gehen kann.

      „Ach ja, und den hier nehmen Sie wieder mit auf die W36.“ Er deutete auf Weilham, der noch immer deutlich verunsichert in die Runde sah. Weilham stand auf und ging mit dem Beamten hinaus. Er sah sich kurz vorher nochmals um, aber Remsen und Ulrich hatten für ihn keine Aufmerksamkeit mehr. Dafür Hunger.

      Während des Essens entspann sich einfach kein Gespräch. Der Tag war lang, vor allem Remsen kam sich vor, als wenn er seit Beginn der Zeitenrechnung nicht mehr geschlafen hatte. Er musste sich krampfhaft wachhalten, während sein Partner Hansi auf seinem Smartphone


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