Georg Schweinfurth: Afrikanisches Skizzenbuch. Georg Schweinfurth
Abu-Tiur (4.000 Fuß) die größte Ähnlichkeit. Hier dieselben jäh abstürzenden Granitplatten, die die Spitzen darstellen, dieselben Riesenblöcke in den Rinnsalen und Schluchten, dieselbe Beschaffenheit des Granits mit seinen grubigen Löchern oder gneisartigen abblätternden Außenflächen der Blöcke, dieselben schmalen Gänge von Urtonschiefer, die sich von dem Kamme aus nach unten senken, und wahrscheinlich zur Bildung der wenigen Rinnsale, die der Berg aufzuweisen hat, Veranlassung gaben, boten sich hier meinen Blicken dar, dieselben Schwierigkeiten meinem Emporklimmen, nur dass gegenwärtig Hitze und Durst nicht in dem Maße die Kräfte beeinträchtigten.
Eine Bergtour unter solchen Verhältnissen ist gewiss ein dreimal größeres Stück Arbeit, als unter ähnlichen in Europa, und eine Höhe von 4.000 Fuß erklimmen, heißt daselbst mindestens 10.000 Fuß. In den europäischen Alpen führt der Pfad bis 8.000 Fuß durch Wälder über Wiesen, oder wenigstens auf Gneis- und Gemssteigen aufwärts, weiterhin gewähren Eis und Schnee sicheren Anhalt den Füßen und gleichen die zu jähen Abstürze aus. Hier dagegen heißt es mühsam von dem Fuß bis zur Spitze jede Stufe riesiger Felsblöcke erobern, sich über haushohe Wände zu schwingen oder in engen Spalten zu den jäh abstürzenden Kämmen sich emporarbeiten. Kein Strauch, kein Kraut, nicht einmal Flechten, die die Glätte des Felsens verringern, bieten den Füßen und Händen des Wanderers erwünschte Ruhepunkte. Überall erweisen sich unsere Arme zu kurz, die Füße zu steif. Dazu kommt noch der missliche Umstand, dass in dieser Zone die höheren Granitspitzen von einer dicken Kruste gänzlich verwitterten Gesteins, das sich im Laufe der Zeiten bildete, bedeckt erscheinen, da kein häufiger Regen das Zersetzungsprodukt wegräumt, und nachstürzendes Gestein erst durch den Fall in die Tiefe das lose Gewordene mit sich reißt. Zu allen diesen Hindernissen gesellt sich noch die Glut der Sonne, die diese Massen nicht selten in dem Grade erhitzt, dass die nackte Hand sich vor jeder Berührung mit ihnen scheut, und schließlich die Gewalt des Durstes und die beschleunigte Erschöpfung der Kräfte des in diesen Breiten weniger ausdauernden Europäers.
Mit einer Pflanzenmappe unter dem Arm, einer Wasserflasche an der Seite, brauchte ich 3 volle Stunden, um die etwa 3.000 Fuß hohe Schlucht bis unter die eigentlichen Spitzen des Berges zu erklimmen. Schönes reines Regenwasser fand ich an mehreren Stellen in muldenförmigen Vertiefungen erhalten, und selbst unten am Fuß befindet sich eine natürliche Zisterne, von der die Hirten dieses Tales zehren. Steinböcke klettern nur bis gegen 500 Fuß diese Abstürze hinan, wie ausgetretene Wechsel und Kotballen mir bewiesen. Weiter oberhalb verringert sich auffallend die Vegetation, ohne bedeutende Unterschiede gegen die in den Tiefen darzutun. Die Moringa („lesser“) steht in der Schlucht bis hoch hinauf in üppigen bis 30 Fuß hohen Bäumchen, deren vorjährige Früchte, lange Schoten, noch überall am Boden herumlagen. Auch die Lassaf-Kapper überzieht große Blöcke mit ihren stachligen Dickichten. An vielen Stellen musste ich haushohe senkrechte Abstürze auf Seitenwegen umgehen, mühsam über wild zusammengewürfelte Blöcke kletternd.
Oben angelangt handelte es sich nun darum, einen Pfad zu den aufrecht steil und meist mit glatten Flächen abstürzenden Spitzen ausfindig zu machen, die noch dazu gänzlich verwittert waren. Rechts und links von der höchsten Ecke des Rinnsals zeigten sich mehrere Zacken in der Richtung nach Süden, eine hinter die andere gesetzt und an Höhe zunehmend. Die zwei höchsten auf der Ostseite waren durch eine Scharte getrennt, zu der ich zunächst hinan klomm. Nur wer den Terglou kennt, kann sich eine richtige Vorstellung dieser steilen Wände und scharfen Felsrisse machen, in denen der menschliche Fuß nimmer sich festzusetzen vermag. Von der Scharte aus machte ich einen vergeblichen Versuch, die Ersteigung des östlichen Piks zu ermöglichen, da ich nirgends eine Spalte zum Emporklimmen finden konnte, und ich mich auf die geneigten Platten nicht wagen wollte. Leichteres Fortkommen verhieß mir die gegenüberliegende westliche Spitze, von der eine wild zerklüftete Schlucht zu dem Hauptrinnsal des Berges hinunter führte, und deren oberster Teil einige Spalten darbot. Ich kletterte daher wieder hinunter, und an der gegenüberliegenden Wand hinauf, wo mir die großen Steinblöcke, die starke Neigung und der Mangel kleineren Gerölls große Schwierigkeiten in den Weg legte. Endlich war ich oben, wieder am Fuße eines der eigentlichen Piks angelangt, und stand abermals ratlos vor den jähen Granitwänden. Schließlich erblickte ich eine zwar fast senkrechte, indes durch verschiedene Löcher differenzierte Spalte, die allein mir den Weg zu dieser zweithöchsten Spitze des Berges ermöglichte. Meinen Körper möglichst eng in diesen Felsenriss einzwängend, gewann ich den nötigen Halt, um die gefährliche, etwa 10 Klafter betragende Strecke zu überwinden. Es war ein würdiges Seitenstück zu meinem Übergang von der ersten Spitze des Großglockners zu der zweiten im Juli 1857. Die Bergzacke selbst war weniger geneigt und bot sichere Stufen und Vorsprünge meinen vier Extremitäten dar. Ich befand mich nun oben auf einer Stelle, die wohl noch nie ein menschlicher Fuß berührt haben mochte, wenn nicht auch bis hierher zufällig einmal römische oder griechische Goldsucher vorgedrungen sein sollten.
Unter den Botanikern war ich gewiss der erste, um die Tatsache konstatieren zu können, dass es auf der Spitze des Abu-Tiur keine Saxifraga oppositifolia, ja nicht einmal die geringste Spur einer Flechte gebe. Vor mir lag das endlose unbegrenzte Meer, das am Horizont sich mittelst bläulicher Dunstmassen mit dem Himmelsgewölbe zu verschmelzen schien, das weite einsame Meer, das kein Segel und keine Rauchsäule belebte, hundert Meilen im Umkreise! Vor mir breitete sich das von einem unentzifferbaren Gewirre zahlloser Vorhügelketten von Glimmerschiefer, Felsit und Kalk erfüllte Küstenland aus, und über den höchsten Spitzen der sich von unten so schauerlich ausnehmenden schwarzen Tal wände schaute ich von meinem erhabenen Standpunkte hoch hinweg. Alles, was in der Tiefe zackig und wild zerklüftet erschien, verschmolz zu einem breiartigen Einerlei, dessen Hauptfarbe braun zu sein schien. Die Kräuter auf den Talsohlen waren von der Natur viel zu licht angepflanzt und viel zu lokal verteilt, als dass ihr Grün diesen Farbenton der Felsenwüste im Geringsten zu modifizieren vermochte. Die kleine Bucht von Kosser zeigte sich von hier sieben Minuten östlich vom wahren Nord, und verschiedene Winkel, die ich nach andern gekennzeichneten Punkten der Küste aufnahm, bewiesen mir die richtige Lage des Berges auf der Moresbyschen Seekarte. Aus dem braunen Wirrwarr der Vorgebirge stachen allein die langhingestreckten von NW nach SO verlaufenden Eozän- und Kreiderücken durch ihre weiße Färbung hervor, der Gebel Duwi und Hamad und der Gebel Beda, westlich drei Stunden von Kosser, waren am meisten kenntlich. Im fernsten NW zu N ragte ein kolossaler Tafelberg empor, wegen der großen Entfernung nur schwer von dem Blau des Himmels zu unterscheiden. Es war, wie der von mir aufgenommene Winkel es bestätigte, der Gebel Fatireh, der Mons Claudianus der Alten, 20 deutsche Meilen von dem Beobachtungspunkte entfernt. Meine Aussicht nach Süden wurde durch die gegenüberliegende Spitze, die meinen Standort um 80 bis 100 Fuß überragte, sehr verringert: Die Berge Nassla und Schedit, die nächsten in der südlichen Kette dieser afrikanischen Kordilleren, zeigten sich allein deutlich meinen Blicken, und verdeckten die höheren des Südens. Gebirge der arabischen Küste traten nirgends hervor. Indes behaupten Einwohner von Kosser, dass man die hohen Berge von Midiam bei Wudsch und Moïlah, kleinen von den Ägyptern besetzten Hafenplätzen, nördlich von Jambo, bei besonders klarer Luft manchmal sehen könne, was nicht unmöglich ist, da letztere bis 7.700 Fuß emporragen.
Warum der Berg Abu-Tiur (= Vater der Vögel) heiße, blieb mir unklar, denn er schien mir nur der „Vater eines einzigen Vogels“, eines Raben, zu sein, der entsetzt über meine Anwesenheit gespenstisch über mir kreiste. Alle diese Berge tragen jetzt arabische Namen, während sie ursprünglich doch einheimische gehabt haben müssen. Ich glaube daher, dass die meisten oft sinnlosen arabischen Namen nur Verdrehungen ähnlicher hamitischer Urnamen sind, so z. B. wie man Ipsambul in Abu Simbel umgewandelt hat.
Erst um drei Uhr nachmittags war ich wieder unten im Tale angelangt. Bald darauf bestieg ich mein Kamel und durchkreuzte ostwärts in 30 Minuten das breite Uadi Abu Tiur. Jetzt wurde noch ein östlicher Teil des Berges sichtbar, der von der Hauptmasse durch einen tiefen Einschnitt getrennt ist, und eine bedeutend geringere Höhe besitzt, als die mittlere Spitze, obgleich er von Kosser aus gesehen, weil näher, als der höchste angesehen werden möchte. Auf Moresbys Karte ist er als „Sugarloaf“ bezeichnet.
In SSO zeigt sich der gleich hohe aber entfernte Gebel Schedät mit spitzigen Zacken und in SO der Gebel Nassla, ein spitziger Granitkegel, der auf Moresbys Karte den Namen Cats Earls trägt. Südöstlich dehnt sich das Uadi noch weit aus, bis es von niederen Hügeln ungenau begrenzt wird.