SINFONIE DER SCHMERZEN. Eberhard Weidner
auf Geräusche. Doch alles, was er hören konnte, war das leise Rauschen vorbeifahrender Autos auf der Straße vor dem Parkhaus. Hier drinnen war es hingegen geradezu gespenstisch still.
Er seufzte leise, ehe er sich in Bewegung setzte und die Treppenhaustür ansteuerte. Seine Schritte auf dem schmutzig grauen Beton hörten sich in der leeren Parkebene unnatürlich laut an und hallten von den kahlen Wänden wider. Als er die Tür erreichte, griff er mit der rechten Hand unter seine Jacke und umfasste den Griff des Jagdmessers, das er in einer Lederscheide am Gürtel trug. Sein Herz schlug schmerzhaft schnell in seiner Brust, und sein Mund war ganz trocken.
Doch er durfte weder umkehren noch zögern, sondern musste durch diese Tür. Also legte er die freie Hand auf den kühlen Stahl des Türblatts und stieß sie auf. Er schlüpfte durch die Öffnung und versuchte, sich in aller Eile zu orientieren und einen Überblick zu verschaffen. Vor ihm führten Stufen nach oben und nach unten. Links befanden sich die Türen eines Fahrstuhls, die geschlossen waren.
In diesem Augenblick spürte er, dass er nicht allein war und jemand hinter ihm stand. Er wollte herumwirbeln und dabei das Messer ziehen, doch noch ehe er zu einer dieser Bewegungen ansetzen konnte, hörte er ein Pfeifen und spürte er einen Luftzug. Dann prallte etwas so schmerzhaft gegen seinen Kopf, dass er unwillkürlich aufstöhnte. Seine Knie wurden weich und gaben unter ihm nach. Seine letzte Wahrnehmung war der schmutzige Betonboden, der in rasender Geschwindigkeit auf ihn zukam. Dann wurde alles pechschwarz.
3
Er stöhnt, als spüre er den Schlag, der ihn bewusstlos werden ließ, noch einmal.
Nun erinnert er sich wenigstens wieder, was vor seinem Erwachen geschehen ist und warum sein Kopf schmerzt. Alles andere ist jedoch noch immer weg und damit seinem Zugriff entzogen. So weiß er beispielsweise noch immer nicht, warum er überhaupt in dem Parkhaus war und ein Messer bei sich hatte. Auch sein Name und alle anderen persönlichen Daten sind ihm noch immer ein Rätsel.
Immerhin weiß er jetzt, wann er ins Parkhaus gefahren und den Schlag auf den Kopf bekommen hat. Das war um kurz nach 22 Uhr gewesen. Seine innere Uhr, die trotz seiner Bewusstlosigkeit nicht in Mitleidenschaft gezogen zu sein scheint und einen zuverlässigen Eindruck erweckt, sagt ihm, dass er vermutlich nur wenige Stunden bewusstlos war. Daher geht er davon aus, dass es noch immer Nacht ist, etwa zwischen drei und vier Uhr morgens.
Er runzelt die Stirn so sehr, dass er spüren kann, wie sich der frische Wundschorf auf seiner Kopfhaut spannt, wo ihn der Schlag getroffen hat, als er krampfhaft überlegt, wie er heißt, was er beruflich macht und ob er verheiratet ist und Kinder hat. Doch bevor er noch einmal in die mentale Leere hinabtauchen kann, in der sich eigentlich seine Erinnerungen befinden müssten, hört er einen Laut, der ihn jäh innehalten und seinen Körper vor Schreck erstarren lässt.
Knarrend öffnet sich irgendwo ganz in der Nähe eine Tür.
»Mmmhhh! Mmh mh mhmmhh?«
Er bekommt keine Antwort. Das Knarren verstummt allerdings. Dann wird es plötzlich hell. Er kneift die Augen zusammen und blinzelt mehrmals, als ihn die Helligkeit blendet, obwohl das Licht durch den Stoff über seinem Kopf nur gedämpft an seine geweiteten Pupillen dringt.
»Mmmhhh, mmh mh! Mmmhh …«
Die einzige Reaktion auf seine unverständlichen Laute sind weitere Geräusche. Er verstummt, horcht aufmerksam und versucht gleichzeitig, die Laute zu analysieren und zu identifizieren. Es hört sich so an, als würden mehrere Personen den Raum durch die Tür links von ihm betreten, an ihm vorbeimarschieren und sich auf seiner rechten Seite versammeln. Obwohl sie sich verstohlen und nahezu geräuschlos bewegen, kann er dennoch vereinzelte schlurfende Schritte, das Rascheln von Kleidungsstücken, das Aneinanderreiben von Stoff, unterdrücktes Hüsteln und leises Schnaufen hören. Außerdem kann er feine Duftnuancen verschiedener Parfums und Rasierwasser und Schweißgeruch riechen. Er schätzt, dass sich nun mindestens ein halbes Dutzend Menschen in seiner Nähe aufhalten. Das Rascheln und Füßescharren, das rechts von ihm noch immer andauert, deutet zudem darauf hin, dass sich dort Stühle oder Bänke befinden, auf denen die Personen Platz genommen haben. Dann verstummen die Geräusche ganz allmählich wieder. Er zuckt erschrocken zusammen und wendet rasch den Kopf, denn die Tür knarrt erneut laut, als sie geschlossen wird. Eine weitere Person befindet sich nun links von ihm. Und obwohl er angestrengt lauscht, kann er nicht hören, dass sie ebenfalls an ihm vorbeigeht und sich zu den anderen gesellt.
»Mmmhhh! Mmh mmmhh mmh mmh mmhh?«
Die Ankunft der Leute und das Lauschen auf die Geräusche, die sie verursacht haben, hat ihn abgelenkt. Doch als nun wieder Stille herrscht, obwohl er weiß, dass er nicht länger allein ist, kehrt die Angst zurück. Wenigstens sitzt er nicht länger in absoluter Finsternis. Allerdings ist er noch immer gefangen und kann seine Umgebung nicht erkennen. Außerdem weiß er auch noch immer nicht, warum er überhaupt gekidnappt wurde. Was wollen die Leute von ihm, die ihn in diesem Moment vermutlich beobachten, ohne dass er sie sehen kann? Sind sie seine Kidnapper? Aber warum?
Da in seiner Umgebung momentan ohnehin nichts geschieht – zumindest kann er nichts davon hören – und er keine Antwort auf seine erstickten Laute erhält, kehrt er gedanklich zu den einzigen Erinnerungen zurück, die ihm momentan zur Verfügung stehen. Er lässt noch einmal seine Fahrt durchs Parkhaus auf die 3. Parkebene Revue passieren und achtet dieses Mal auch auf die Details, die er vorher nur beiläufig registriert hat. An der Stelle, als er aus dem Wagen steigen will, stoppt er den mentalen Film, als würde er die Stopptaste eines Videorekorders drücken, denn sein herumschweifender Blick hat ein Objekt gestreift, das in der Mittelkonsole zwischen den Vordersitzen liegt. Als er sich darauf konzentriert, sieht er, dass es sich um einen weißen Notizzettel handelt, der einmal in der Mitte gefaltet wurde. Instinktiv ahnt er, dass dieses Stück Papier von Bedeutung ist und vermutlich auch der Grund war, weswegen er in das Parkhaus gefahren ist.
Und genau in dem Moment, als ihm dies bewusst wird, überwältigt ihn eine weitere Erinnerung und entführt ihn in seine Vergangenheit, die für ihn zum größten Teil noch immer ein Mysterium ist.
4
»Schönen Feierabend, Herr Heitzer.«
Er erwiderte den Abschiedsgruß der Dame am Empfang, deren Namen er nicht kannte, und verließ das Gebäude, in dem die Zentralverwaltung des Versicherungskonzerns ihren Sitz hatte, in dem er arbeitete, durch die Drehtür. Vor dem eindrucksvollen, turmhohen Gebäude wandte er sich nach links und ging mit flotten, energischen Schritten zum Parkplatz.
»Schönen Feierabend, Christian.«
Er wandte den Kopf und sah einen Kollegen aus dem Aktuariat, wo er als Mathematiker finanzielle Risiken und Unsicherheiten des Versicherungsgeschäfts analysierte und zu minimieren versuchte. Er konnte sich gerade nicht an den Vornamen des Mannes erinnern, deshalb hob er nur die Hand und rief: »Wünsch ich dir auch. Bis morgen dann.«
Der andere nickte und stieg in einen silbernen BMW, während er selbst noch ein paar Meter zu gehen hatte, bevor er den schwarzen Audi erreichte. Er entriegelte die Türen, öffnete die Fahrertür, legte nach dem Einsteigen seine Aktentasche auf den Beifahrersitz und schob den Schlüssel ins Schloss. Er wollte gerade die Tür schließen, als sein Blick durch die Windschutzscheibe auf ein Stück Papier fiel, das jemand hinter das Scheibenwischerblatt geklemmt hatte. Er brummte verärgert, weil er jetzt noch einmal aussteigen und den Fetzen entfernen musste. Vermutlich war es ohnehin nur die Karte eines ausländischen Gebrauchtwagenkäufers, der versprach, er würde jedes Auto kaufen.
Er stieg aus, umrundete die Fahrertür und griff nach dem Papier. Eigentlich hatte er es sofort zerknüllen und zu Boden werfen wollen, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, doch dann sah er es sich doch an und bemerkte, dass er sich getäuscht hatte. Es war gar nicht die Karte eines Autohändlers, sondern ein dünnes, viereckiges Stück Papier, wie man es von Notizzettelblocks kannte, das einmal in der Mitte gefaltet war. Nun wurde er doch neugierig, was auf dem Zettel stand. Schickte ihm etwa jemand einen Liebesbrief? Das hielt er eher für unwahrscheinlich. Aber vielleicht teilte ihm ja jemand auf diese