SINFONIE DER SCHMERZEN. Eberhard Weidner

SINFONIE DER SCHMERZEN - Eberhard Weidner


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      Erst zuckten nur ihre Lider, dann bewegten sich die Augäpfel dahinter hektisch hin und her, als würde sie träumen. Doch dies war kein Traum, sondern bitterer Ernst. Sie öffnete die Augen, schloss sie sofort wieder, als das Licht sie blendete, und öffnete sie erneut. Ihr Blick war noch ein wenig umnebelt. Kein Wunder nach der stundenlangen Bewusstlosigkeit. Wahrscheinlich hatte sie auch Kopfschmerzen vom Chloroform. Diese Schmerzen waren allerdings nichts gegen das, was noch kommen würde, und sie würde sie deshalb schnell vergessen.

      Ihr Blick war anfangs noch nach oben zur Decke gerichtet und unfokussiert. Dann sah er, wie sich ihre Pupillen verengten und zur Seite bewegten, wo er stand und auf sie heruntersah.

      »Hallo Caroline«, sagte er mit einem Lächeln, das sich allerdings nicht in seinen eiskalten, berechnenden Augen widerspiegelte. »Wir werden viel Spaß miteinander haben. Und diesmal wirst du mich nicht bei Mama verpetzen!«

      Ihre Augen weiteten sich, als ihr Blick auf das Messer in seiner Hand fiel. Dann riss sie den Mund auf und schrie schrill und markerschütternd. Doch das störte ihn nicht, denn niemand würde sie hören. Ganz im Gegenteil, ihr Schreien gehörte dazu und war wie Musik in seinen Ohren. Und er liebte diese Sinfonie der Schmerzen, mit der seine Opfer seine Arbeit akustisch begleiteten.

      9

      Der Übergang von seinen Erinnerungen zur Gegenwart ist dieses Mal besonders qualvoll, denn er stürzt von einem Moment des Triumphes und der Dominanz herab auf einen Augenblick der Niederlage und der Ohnmacht. Die Ähnlichkeit der Situationen ist ihm dennoch bewusst und wirkt wie blanker Hohn auf ihn, da nun gewissermaßen die Rollen vertauscht sind. Nun ist er derjenige, der hilflos und gefesselt und den Launen seiner Entführer ausgeliefert ist. Er hat keinerlei Kontrolle über die Situation und das, was als Nächstes geschieht, und das macht ihm am meisten Angst.

      Klaus Schmidt, Maries Vater, ist inzwischen von seiner linken Seite nach vorn getreten. Nun steht er dort, hat die Arme vor der Brust verschränkt und sieht ihn mit grimmiger Miene an.

      »Ich kann das Begreifen in Ihren Augen sehen. Ich gehe daher davon aus, dass Sie jetzt wissen, wer ich bin und warum Sie hier sind.«

      »Mmhh!« Er schüttelt heftig den Kopf, obwohl es schmerzt. Aber darauf kann er jetzt keine Rücksicht mehr nehmen.

      »Sparen Sie sich Ihre Lügen. Was glauben Sie, warum Sie noch immer geknebelt sind? Damit wir uns Ihre Lügen und Ausreden gar nicht erst anhören müssen. Denn wir wissen längst, was Sie getan haben. Die Erkenntnis in Ihren Augen soeben war nur der letzte Beweis für Ihre Schuld. Obwohl wir den gar nicht mehr benötigten. Schließlich war es ja schon das lupenreinste Schuldeingeständnis, wie Sie auf unsere Nachricht an Ihrem Scheibenwischer reagiert haben. Dass Sie den Zettel nicht einfach zerknüllt und weggeworfen haben oder damit zur Polizei gegangen sind, spricht doch Bände, finden Sie nicht auch? Ich habe Sie dabei beobachtet, Heitzer. Sie wurden beim Lesen förmlich leichenblass! Und dann befolgten Sie die Anweisungen auch noch peinlich genau, brachten allerdings Ihr Messer mit. Ist das etwa die Tatwaffe?« Schmidt hebt die linke Hand, die er bisher hinter seinem Körper verborgen hat, und zeigt ihm sein geliebtes Jagdmesser. »Haben Sie damit auch meine Tochter …?« Am Ende versagt ihm die Stimme, sodass er den Satz unvollendet lässt. Seine Augen schwimmen jäh in Tränen, und er wendet sich ab. Vermutlich muss er sich zurückhalten, um dem Mörder seiner Tochter nicht auf der Stelle das Messer ins Herz zu stoßen.

      Heitzer verzichtet darauf, einen Laut von sich zu geben oder erneut verneinend den Kopf zu schütteln, denn er ahnt, dass dies ein kritischer Augenblick ist, in dem sein Leben vermutlich auf Messers Schneide steht. Ein falscher Ton oder eine falsche Bewegung von ihm zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, und er hat sein eigenes Messer im Leib und stirbt einen raschen Tod, geknebelt und gefesselt, wie er ist. Da empfiehlt es sich eher, sich vorerst zurückzuhalten und auf den richtigen Moment zu warten. Vielleicht hat er später noch Gelegenheit, seine Unschuld zu beteuern und sich irgendwie herauszureden. Schließlich können ihn seine Entführer nicht einfach umbringen. Vermutlich wollen sie ihm nur Angst einjagen, damit er ein Geständnis ablegt, und ihn dann der Polizei übergeben. Aber er hat nicht vor, zu gestehen. Niemals! Ganz egal, was sie ihm androhen.

      Schmidt hat sich wieder etwas gefangen. Er sieht das Messer in seiner Hand an, als überlege er, wozu er es benutzen könne, dann geht er zu einem Klapptisch aus Kunststoff, der vor der Wand steht, und legt das Messer darauf.

      Heitzer sieht, dass noch andere Gegenstände auf der Tischplatte liegen, die funkeln und das Licht der Deckenleuchte reflektieren, er kann aber nicht erkennen, worum es sich handelt.

      Schmidt wendet sich wieder seinem Gefangenen zu und kommt näher.

      »Sie sehen, Heitzer, Ihre Schuld steht längst außer Zweifel. Worüber wir heute Nacht beraten, ist lediglich das Ausmaß Ihrer Strafe.«

      »Mmmhhh mmh mhh mh!«

      »Sparen Sie sich Ihren Atem, Heitzer, möglicherweise brauchen Sie ihn später noch dringend. Aber vielleicht ist es Ihnen ja ohnehin lieber, wenn ich Sie nicht länger Heitzer, sondern Metzger nenne. Fabian Metzger! Das ist doch Ihr richtiger Name. Und so hießen Sie auch, als Sie vor gut zwanzig Jahren in Norddeutschland die ersten beiden Frauen umbrachten. Mit diesen beiden fing Ihre Karriere als Serienkiller an, nicht wahr? Allerdings machten Sie am Anfang noch Fehler und mussten untertauchen. Also änderten Sie Ihre Identität, zogen hierher, heirateten und bekamen zwei Kinder. Viele Jahre konnten Sie Ihren krankhaften Trieb unterdrücken. Doch dann, vor drei Jahren wurde er plötzlich wieder stärker, und Sie konnten ihn nicht länger kontrollieren. Stattdessen kontrollierte der Trieb Sie, und so begannen Sie wieder zu morden. Lag es vielleicht daran, dass Ihre Tochter Mara Ihrer Schwester Caroline immer ähnlicher wurde. Wenn man ihr heutiges Aussehen mit alten Bildern Ihrer Schwester vergleicht, ist die Ähnlichkeit wirklich verblüffend. Sie gleichen sich beinahe wie ein Ei dem anderen. Und so hatten Sie das Bild der verhassten Schwester jeden Tag vor Augen. Aber da Sie Mara nicht töten konnten oder wollten, mussten stattdessen andere junge Frauen, die ihr ähnlich sahen, für das büßen, was Caroline Ihnen einst angetan hatte. War es nicht so, Metzger?«

      Schmidts Gesicht wird immer unschärfer, als Fabian Metzger alias Christian Heitzer seinen Blick nach innen und an den finsteren Ort richtet, wo seine düstersten Erinnerungen hausen. Dort, wo vor wenigen Minuten noch gähnende Leere geherrscht hat, wimmelt es nun wieder vor Erinnerungsbildern, in die er nun wie ein Schwimmer an einem sonnigen Sommertag kopfüber eintaucht.

      10

      »Wenn du nicht tust, was ich dir sage, erzähl ich’s Mama! Dann wirst du schon sehen, was du davon hast, du kleiner Scheißer!«

      Fabian schluckte betreten, während er zu seiner großen Schwester Caroline aufsah, die mit wütender Miene und loderndem Blick auf seine Antwort wartete.

      »Aber …«

      »Mama!«, sagte Caroline, allerdings noch nicht so laut, dass ihre Mutter, die im Wohnzimmer Wäsche bügelte und dabei Fernsehen schaute, sie hören konnte.

      Fabian schluckte noch einmal, denn sein Mund und seine Kehle waren plötzlich ganz trocken. Was sollte er nur tun? Er wusste, dass Caroline, die mit ihren zwölf Jahren ganze fünf Jahre älter war als er, ihre Drohung wahrmachen würde, wenn er sich weigerte, das zu tun, was sie von ihm verlangte. Und dann würde ihn Mama wieder in den finsteren Vorratskeller stecken, wo es mindestens Tausende von Spinnen, Käfer, Kellerasseln und anderes ekliges Getier gab. Wenn er andererseits tat, was Caroline wollte – er sollte im Laden um die Ecke wieder einmal Lippenstift und Lidschatten für sie klauen –, wurde er, wie schon so oft, vielleicht erwischt und ebenfalls von Mama bestraft. Er steckte also wieder einmal in der Zwickmühle, und es war im Grunde egal, wozu er sich entschied, denn das Endergebnis war unter Umständen exakt dasselbe.

      Außerdem war es vielleicht endlich einmal an der Zeit, seiner Schwester die Stirn zu bieten und ihr zu zeigen, dass sie nicht mehr alles mit ihm machen konnte. Sein Schulfreund Henrick hatte dem dicken Alexander vor zwei Wochen, als der ihn wieder einmal ärgern wollte, volle Kanne in die Eier getreten, und seitdem ließ


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