SINFONIE DER SCHMERZEN. Eberhard Weidner
ist schätzungsweise Mitte bis Ende fünfzig, hat mausgraues, kurz geschorenes Haar und trägt eine Brille mit dünner, silberner Fassung.
Als der Mann ihn gerade eben ansprach, glaubte er, Mitgefühl oder Sorge in seiner Stimme zu hören, und schöpfte Hoffnung, doch als er jetzt den feindseligen Blick und das böse Grinsen des anderen sieht, erkennt er seinen Irrtum. Es war gar kein Mitleid, sondern Häme, die er gehört hat.
»Wissen Sie, wo wir hier sind, Heitzer?«
»Mmh.« Der Laut, der ein Nein werden sollte, entschlüpft ihm automatisch, ehe er sich entsinnt, dass man ihn ohnehin nicht verstehen kann. Also schüttelt er zusätzlich den Kopf.
»Woher auch?«, fragt der Mann. »Aber ich will es Ihnen verraten: Wir sind im Keller meines Hauses. Sie sind also gewissermaßen mein Gast.«
»Mmh mmhh mhh?«
»Tut mir leid, aber ich kann Sie wegen des Knebels nicht verstehen«, sagt der Mann und verzieht das Gesicht zu einem eisigen Lächeln, das ohne jede Spur von Fröhlichkeit ist. »Aber vermutlich fragen Sie sich, wer ich bin und warum Sie hier sind. Habe ich recht?«
»Mh!« Er nickte vorsichtig, um keine neue Schmerzwelle auszulösen.
»Na gut. Wenn Sie nicht von allein draufkommen, will ich es Ihnen verraten. Mein Name ist Klaus Schmidt. Ich bin Maries Vater!«
Marie …
Der Name hallt wie der Schlag einer riesigen Glocke durch seinen Verstand, wird von den Innenwänden seiner Schädeldecke zurückgeworfen und dabei tausendfach verstärkt, bis er kaum noch einen anderen vernünftigen Gedanken fassen kann.
Marie – Marie – Marie – Marie – Ma … – … rie – Ma … – … rie – … rie …
Er erinnert sich daran, dass das auch der erste Name auf dem Zettel war, der ihn ins Parkhaus lockte.
WIR WISSEN ALLES!
Was meinten Sie damit? Wer ist Marie? Und wieso löst ihr Name eine so starke Reaktion in ihm aus?
Die Antworten auf seine Fragen erhält er postwendend, als eine weitere Welle von Erinnerungen über ihn hinwegrauscht wie ein mentaler Tsunami und ihn aus der Gegenwart in die Vergangenheit spült.
8
Für einen kleinen Moment hielt er inne und betrachtete liebevoll das große Jagdmesser in seiner Hand. Die 21 Zentimeter lange Klinge bestand aus 440er Edelstahl, und die Griffschalen waren aus braunem Pakkaholz. In der frisch geschliffenen und polierten Klinge konnte er sein eigenes lächelndes Gesicht widergespiegelt sehen. Die Vorfreude ließ ihn erzittern, und so senkte er das Messer und wandte sich um.
Die Jagdhütte befand sich in einem entlegenen Waldstück, das zu dieser Jahreszeit und um diese Uhrzeit verlassen war. Der Eigentümer würde vermutlich erst zu Beginn der Jagdsaison hierherkommen. Also würde ihn bei dem, was er vorhatte, auch niemand stören. Und auch sonst war kein Mensch weit und breit, der die Schreie der jungen Frau hören konnte.
Sein Blick fiel auf das alte Bett mit dem metallenen Rahmen, auf dem nur eine fleckige Matratze lag. Die junge Frau auf der Matratze war nackt. Ihre Arme und Beine waren abgespreizt und an den Rahmen gebunden. Sie war noch immer bewusstlos. Nach seiner Berechnung musste sie jedoch demnächst erwachen. Er konnte sehen, dass sie im Schlaf leicht die Stirn runzelte, als würde sie im Traum über eine komplizierte Frage nachdenken.
Marie!, erinnerte er sich an ihren Vornamen. Was für ein schöner Name.
Er hatte sie vor drei Wochen beim Einkaufen in einem Supermarkt gesehen und sofort gewusst, dass sie die Nächste war. Sie erinnerte ihn an seine Tochter Mara, so wie sie das Haar trug und sich bewegte. Sobald er sie sah, war der eigentliche Grund, weswegen er in den Supermarkt gegangen war, vergessen. Stattdessen beobachtete er die junge Frau unauffällig, wie sie ihre Einkäufe in den Wagen legte, zur Kasse ging und bezahlte. Er folgte ihr nach draußen und sah ihr aus den Augenwinkeln dabei zu, wie sie die Einkäufe in den Korb ihres Fahrrads lud. Dann fuhr er ihr mit seinem Wagen bis zu ihr nach Hause hinterher.
Die nächsten zwei Wochen verbrachte er damit, mehr über sie, ihre Gewohnheiten und ihr Umfeld in Erfahrung zu bringen. Da er wegen seiner Arbeit und seiner Familie nur gelegentlich nach Feierabend und am Wochenende Zeit erübrigen konnte, dauerte es eine Weile, bis er alles über sie erfahren hatte, was er wissen wollte: Sie hieß Marie Schmidt, war 22 Jahre alt, lebte noch bei ihren Eltern – Klaus, 48 Jahre alt und bei einem Sicherheitsunternehmen tätig, und Astrid, 44 Jahre –, hatte eine jüngere Schwester – Ivonne, 17 Jahre – und studierte an der Universität Jura. Er besorgte sich ihren Vorlesungsplan und nahm sich schließlich sogar zwei Tage Urlaub, ohne seiner Frau davon zu erzählen, um sie zwei ganze Tage lang verfolgen und ihren Tagesablauf studieren zu können.
Als er schließlich genug Informationen gesammelt hatte, konnte er zu Phase 2 seines Vorhabens übergehen. Diese bestand im Wesentlichen darin, ihre Entführung minutiös zu planen und einen geeigneten Ort zu finden und vorzubereiten, an den er sie anschließend bringen konnte. Da ihm bereits vor ein paar Monaten bei einem sonntäglichen Familienausflug die abgeschiedene Jagdhütte aufgefallen war, war er vor drei Tagen nach Feierabend unter dem Vorwand einer Fortbildungsveranstaltung hierher gefahren, hatte die Umgebung ausgekundschaftet und, nachdem er den Ort für geeignet befunden hatte, alles vorbereitet.
Die Entführung selbst war dann dank seiner hervorragenden Planung problemlos und ohne Zeugen vonstattengegangen. Da Marie jeden Mittwochabend ihren Zumba-Kurs besuchte, fuhr sie mit dem Auto ihrer Mutter zum Fitnessstudio, das in einem Industriegebiet lag. Da sie zudem meistens zu spät dran war, gab es keine freien Parkplätze mehr in unmittelbarer Nähe des Studios. Sie musste den Wagen etwas weiter weg abstellen und etwa 200 Meter zu Fuß gehen, was sie auch an einer finsteren Stelle im Schatten eines dichten Gehölzes vorbeiführte. Und genau dort lauerte er ihr auf. Neben seiner guten Planung hatte er auch Glück, dass gerade niemand anderes in der Nähe war. Die angrenzenden Betriebe hatten um diese Zeit allerdings längst geschlossen, und die anderen Teilnehmer des Zumba-Kurses waren schon im Studio. Als Marie nichtsahnend das Gehölz passierte, so wie sie es immer tat, sprang er hinter ihr auf den Weg, packte sie hinterrücks und presste ihr seine Handfläche auf den Mund, in der sich ein mit Chloroform getränktes Tuch befand. Sie versteifte sich in seinem Griff und begann sich zu wehren, doch sobald sie die betäubenden Chloroformdämpfe eingeatmet hatte, erlahmten ihre Bewegungen, bis sie das Bewusstsein verlor. Er sah sich rasch um, ob nicht doch jemand aus einem benachbarten Gebäude gekommen oder um eine Ecke gebogen war. Dann hätte er den Zustand des Mädchens irgendwie erklären und sich ohne Beute aus dem Staub machen müssen. Doch das Glück blieb ihm weiterhin treu, denn es war niemand zu sehen. Er warf sich das leblose Bündel Mensch über die linke Schulter und lief zu seinem unverschlossenen Wagen, den er frühzeitig ganz in der Nähe geparkt hatte. Er öffnete den Kofferraum und ließ die junge Frau hineinplumpsen. Eilig schob er auch noch ihre Füße hinein, sodass sie verkrümmt auf der Plastikfolie lag, die er dort ausgebreitet hatte, und schloss dann den Kofferraumdeckel. Ein letzter Blick in die Runde überzeugte ihn davon, dass er auch dabei unbeobachtet geblieben war. Er grinste zufrieden, als er ins Auto stieg und losfuhr, um sein jüngstes Opfer zur Jagdhütte zu bringen.
Und nun lag sie hier, und alles war für den letzten Akt vorbereitet. Jetzt musste sie nur noch aufwachen, um auch ja mitzubekommen, was mit ihr geschah, und es ebenso genießen zu können wie er. Er trat näher ans Bett und sah auf sie hinunter. Wie sie so dalag, das haselnussbraune, lange Haar ausgebreitet auf der Matratze, sah sie seiner Tochter Mara noch ähnlicher.
Und natürlich Caroline!, dachte er grimmig und lächelte kalt.
Er hob die rechte Hand, die das Heft des Jagdmessers so fest umklammert hielt, dass die Knöchel ganz weiß waren. Er konnte es kaum noch erwarten. Eine Schweißperle löste sich von seiner verschwitzten Stirn und lief an seinem nervös zuckenden Auge vorbei über seine Wange. Er hob die freie Hand und wischte den Schweiß weg.