SINFONIE DER SCHMERZEN. Eberhard Weidner
mach’s nicht!«
»Was?«, fragte Caroline, während die Wut in ihrem Gesicht für einen winzigen Moment von Fassungslosigkeit und Unglauben ersetzt wurde, Empfindungen, die Fabian dort, soweit er sich erinnern konnte, noch nie zuvor gesehen hatte. Schon aus diesem Grund hatte sich seine Standhaftigkeit gelohnt. Doch schon im nächsten Moment verschwanden die ungewohnten Emotionen wieder spurlos, und an ihre Stelle trat der blanke Hass und verwandelte Carolines ansonsten so hübsches Gesicht in eine hässliche Fratze. »Was hast du gesagt, du kleiner Scheißer?«
Fabian bereute seine Entscheidung bereits und wollte zurückrudern, doch dazu war es zu spät.
»Maaamaaa!« Carolines Schrei schrillte durchs ganze Haus. Sie hob die rechte Hand, packte eine Strähne ihres langen, haselnussbraunen Haares und riss sie mit einem einzigen kräftigen Ruck aus.
»Caroline? Was ist denn, mein Schatz?« Nachdem der gellende Schrei verstummt war, vergingen nur wenige Sekunden, bis ihre Mutter in der offenen Tür stand.
Caroline wandte sich ihrer Mutter zu, zeigte ihr die Haarsträhne in ihrer Hand und sagte laut schluchzend: »Fabi … schluchz … Fabi hat mir …. schluchz … meine Haare … schluchz … ausgerissen …«
Fabian wunderte sich immer wieder, wie Caroline es schaffte, auf Kommando dicke Tränen zu produzieren. Er selbst war dazu nicht in der Lage, er hatte es nämlich schon ausprobiert. Allerdings hatte das Ausreißen der Haare gewiss wehgetan und es ihr erleichtert, jetzt so überzeugend auf die Tränendrüse zu drücken.
»Fabian!«, brüllte seine Mutter und kam zu ihm. Sie packte ihn am linken Oberarm und hob ihn hoch, sodass seine Füße die Bodenhaftung verloren. »Was hast du denn jetzt schon wieder getan, du kleiner Teufel? Kannst du deine Schwester denn nicht einmal in Ruhe lassen? Komm sofort mit! Zur Strafe kommst du in den Keller. Und da bleibst du gefälligst bis zum Abendessen!«
Während sie ihn wie eine große Gliederpuppe, deren Beine unnütz hin und her schlenkerten, aus Carolines Zimmer trug, erhaschte er noch einen Blick auf seine Schwester. Das Weinerliche war spurlos aus ihrem Gesicht verschwunden, und auch die Tränen waren längst getrocknet. Sie grinste diabolisch, hob die Hand und winkte ihm zum Abschied hinterher. Viel Spaß bei den Spinnen und Kakerlaken, formte sie lautlos mit den Lippen.
Fabian hatte zum damaligen Zeitpunkt zwar noch keine wirklich konkrete Vorstellung vom Teufel, von dem er lediglich im Religionsunterricht gehört hatte, aber in diesem Moment war er überzeugt, dass Satan wie seine Schwester aussehen musste.
11
Die Erinnerung ist noch immer so frisch, als sei es erst gestern passiert, dabei ist der Vorfall vor mehr als dreieinhalb Jahrzehnten geschehen. Und es blieb nicht der letzte oder einzige seiner Art. Inzwischen hat er, als habe sich eine Schleuse in seinem Verstand geöffnet, all seine Erinnerungen wiedererlangt und ist sich zahlloser weiterer Ereignisse bewusst, als Caroline ihn damit erpresste, ihn bei der Mutter zu verpetzen, und dies oft genug dann auch tat, wenn er nicht so gehorchte, wie sie es wollte. Und ihre Mutter glaubte stets Carolines schamlosen Lügen, die sie sich dank ihrer blühenden Fantasie und ihrer angeborenen Skrupellosigkeit über ihren Bruder ausdachte, denn Caroline war ihr Liebling und ihr hübscher kleiner Engel. Denn wie sollte sie auch erkennen, dass ihre Tochter in Wahrheit ein Teufel war, wenn Caroline ihr wahres Gesicht der Mutter nie zeigte.
Fabian hingegen war stets der Bösewicht und Übeltäter, der seit dem Tag seiner Geburt Zwietracht und Streit in die Familie gebracht hatte. Und daher musste er auch regelmäßig stundenlang in den Vorratskeller, wo es stockdunkel war und wo unzähliges Ungeziefer, allen voran Legionen ekliger Spinnen, lauerten, um für seine Untaten zu büßen. Untaten, die in der Regel Caroline begangen oder erdacht hatte. Noch heute hat er Angst vor der Dunkelheit und vor Spinnen, die er allerdings halbwegs im Griff hat, vor allem, nachdem er getötet hat.
Und während all dieser langen Stunden im Keller, die ihm wie Ewigkeiten vorkamen, dachte er darüber nach, wie er seine Schwester für das, was sie ihm Tag für Tag antat, irgendwann einmal büßen lassen würde. Denn irgendwann, das war ihm stets klar, würde er groß und stark genug sein, um sich gegen sie zu wehren und sich an ihr zu rächen. Und so malte er sich in Gedanken die schlimmsten Dinge aus, die er ihr antun würde, um der Finsternis, die ihn wie stählerne Wände von allen Seiten umschloss und zwischen sich zerquetschen wollte, und den Spinnen, die ständig überall über seine bloße Haut krochen und ihn bissen und kratzten, zu entfliehen.
Das Martyrium durch Caroline endete erst, als sie mit neunzehn Jahren auswärts zu studieren anfing und in eine eigene Wohnung zog. Von da an musste er kaum noch in den Keller. Doch sein Verlangen nach Rache an seiner Schwester erstarb damit keineswegs. Im Gegenteil. Er sehnte sich danach, ebenfalls erwachsen zu werden, um seine zahllosen Rachefantasien, die sich in seinem Verstand angesammelt hatten und diesen ausfüllten wie eine übervolle Mülltonne, endlich in die Tat umsetzen zu können.
Doch erneut machte ihm Caroline – wenngleich dieses Mal eher unfreiwillig – einen dicken Strich durch die Rechnung, indem sie beim nächtlichen Schwimmen während eines Türkeiurlaubs im Meer ertrank. Ihr Leichnam wurde nie gefunden, lediglich ihre Kleidung und ihre Schuhe lagen am nächsten Morgen am menschenleeren Strand.
Als Fabian davon erfuhr, glaubte er, der Schlag würde ihn treffen. Er bekam Fieber und Schüttelfrost und lag fünf Tage im Bett, ehe er sich allmählich wieder erholte. Danach konnte er es immer noch nicht glauben, dass all seine Rachegedanken umsonst gewesen sein und letztendlich unerfüllt bleiben sollten. Denn der Wunsch nach Rache war nicht mit Caroline gestorben und so trug er all diese grausamen Fantasien noch immer in sich, ohne nun allerdings die Möglichkeit zu haben, sie auszuleben und sich auf diese Weise von ihnen zu befreien. Und so schlummerten sie eine Zeitlang tief in ihm und quälten ihn vor allem des Nachts in Gestalt furchtbarer Albträume. Und wie Carolines Leichnam fingen sie an zu verwesen und zu verfaulen und sich in etwas anderes, etwas Finsteres und etwas viel Schrecklicheres zu verwandeln.
Er dachte damals noch oft an Selbstmord, um sich auf diesem Weg von den furchtbaren Fantasien zu befreien. Doch dann sah er eines Tages im Kino zufällig eine junge Frau, die seiner verstorbenen Schwester Caroline so ähnlich sah, dass man sie im Halbdunkel für Schwestern hätte halten können. Wie unter einem inneren Zwang folgte er ihr, als sie nach dem Kino allein nach Hause ging. An einer einsamen, dunklen Stelle – rechts lag ein leeres, baumbestandenes Grundstück, links eine Reihe verlassener Schrebergärten – holte er die ahnungslose, junge Frau ein, schlug sie nieder und zerrte sie zwischen die Bäume, wo er anschließend einen winzigen Teil seiner Gewaltfantasien, die eigentlich Caroline gegolten hatten, in die Tat umsetzte und sich damit gleichsam von ihnen befreite.
Denn in seinen Augen verwandelte sich die junge Frau in dieser kurzen Zeit tatsächlich in seine Schwester, die er endlich für das, was sie ihm angetan hatte, angemessen bestrafen konnte. Erst nach ihrem Tod, als er allmählich wieder zu Verstand kam, erkannte er wieder, dass es gar nicht seine Schwester war, sondern nur jemand, der ihr ein wenig ähnlich sah. Eine unschuldige, junge Frau, die ihr haselnussbraunes Haar auf dieselbe Art und Weise trug wie seine Schwester einst und zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen und dadurch seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, hatte für Carolines Untaten büßen müssen. Entsetzt wich er von dem zurück, was er angerichtet hatte. Er verabscheute sich für seine Tat und floh kopflos vom Tatort.
Nach der Tat fühlte er sich aber gleichzeitig auch enorm erleichtert, denn er hatte sich damit eine Zeitlang vom größten Druck befreit und fühlte sich nicht länger wie ein Dampfkessel unmittelbar vor dem Platzen. Er schlief wochenlang tief und traumlos und fürchtete sich weder vor der Dunkelheit noch vor Spinnen. Es war einfach großartig!
Doch dieser Zustand war natürlich nicht von Dauer. Je mehr die Erinnerung an den Mord verblasste, in der sein Opfer seiner Schwester noch viel ähnlicher sah als in der Realität, desto größer wurden seine Unruhe und seine Ängste und desto quälender wurden auch wieder die Gewaltexzesse, die wie ein Endlosfilm ständig in seinem Kopf abliefen.
Acht Monate später sah er dann eine weitere junge Frau, die Ähnlichkeit mit