Die Stunden der Nacht. Daimon Legion

Die Stunden der Nacht - Daimon Legion


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      Und er beherbergte den Täter.

      „Alles in Ordnung?“, fragte ihn die Verkäuferin und er schreckte aus seiner Gedankenwelt auf. Jules hatte gar nicht bemerkt, dass er an die Reihe gekommen war. Hinter ihm tuschelten die Rentner, die ebenfalls ihre Einkäufe früh erledigten, was er für ein seltsamer Vogel sei, weil er stocksteif mit offenen Augen träumte.

      So zappelig, dass er die Hälfte seines Geldes verlor, bezahlte Jules das Fleisch und machte sich hastig davon. Kopfschütteln und verwirrte Blicke folgten ihm. Die hielten ihn jetzt bestimmt für den größten aller Freaks.

      Mit zitternden Fingern vor Aufregung stopfte er das Hackfleisch in den Kühlschrank. Dani schlief weiter seelenruhig und auch Amon hatte sich keinen Zentimeter auf seiner Liege bewegt.

      So weit alles gut.

      Jules steckte sich endlich eine erste Zigarette an und sog den Rauch tief in die Lunge ein. Seine flatternden Nerven kamen langsam zum Stillstand. Er war die Außenwelt einfach nicht mehr gewohnt. Nichtsdestotrotz rannte er wie der geölte Blitz nach oben zu seinen Schreibtafeln, drehte die Notizen zur Gnostik um hundertachtzig Grad, wischte ein altes Thema fort (Drachen in Europa und Asien im Vergleich) und setzte die urbanen Wolfsdämonen mit Kreide darauf fest.

      Fiebrig beschrieb er die zwei Formen, die ein Lichtfänger annehmen konnte, den riesigen Wolf und den nicht weniger riesigen Menschen mit schwarzem Blut. Größe, Geruch, Gewicht – er dokumentierte, was seine Freundin versucht hatte, ihm zu erzählen. Was war mit der Sprache der Wolfsdämonen? Dazu wusste Dani leider nicht viel zu sagen und Jules wünschte sich so sehr, dabei gewesen zu sein. „Wie ein Knurren“, wurden ihm die Worte beschrieben, mit vielen Vokalen. Die Menschensprache beherrschten sie auch bestens, selbst wenn sie irgendwie gebrochen klang. Was ihn ebenso interessierte, waren die anderen Rudelmitglieder. Der gebieterische Alpha, der grinsende Irre, der halbwüchsige Welpe. Was bedeutete das Kind? War er ein Schüler? Dani hatte diesen stimmlich auf circa zwölf Jahre geschätzt. Wer waren seine Eltern – seine Mutter, wenn das Rudel nur aus Rüden bestand? Wie bekamen Lichtfänger Kinder, im Wurf oder einzeln wie Menschen? Hatte der Welpe Geschwister? In welcher Beziehung stand Amon zu ihm, wenn er sich um ihn zu kümmern schien? War er der Vater oder der Bruder des Jungen? Außerdem fragte sich Jules, wie diese Dämonen alterten. Wenn Amon es war, der vor siebzehn Jahren Dani angegriffen hatte, hätte er nach menschlichen Maßstäben das Alter und die Größe des Welpen besessen. Gut, sie war ein Kind gewesen und ihre Erinnerungen vage hinsichtlich einer Größe, da Kinder diese anders wahrnahmen als Erwachsene. Trotzdem hatte er laut Dani damals nicht wie ein Welpe geklungen und gehandelt. Also war er älter, ausgewachsen. Alterten Lichtfänger in umgekehrten Hundejahren? Dann wäre er fast … zweihundert Jahre alt!

      Neben den theoretischen Überlegungen versuchte sich der Professor an kleineren Experimenten. Er stoppte die Zeit, weil er wissen wollte, wie lang ein Tropfen Blut brauchte, um Asche zu werden, und inwieweit sich dieser brennbare Umstand auf andere Stoffe auswirkte. Dass Danis Jacke Feuer gefangen hatte, war ein erster Schock gewesen, doch bei näherer Betrachtung sah er, dass wirklich nur das Blut verbrannt war und der Stoff bis auf kleine Brandspuren unangetastet blieb. Natürlich, wenn das Feuer länger gebrannt hätte, wäre auch von der Jacke bald nichts mehr übrig geblieben.

      Seine Forschungen und Spekulationen, Vergleiche zu artverwandten Dämonen und die Verstrickung von Wahrheit und Legende, führten ihn durch zig Bücher der Mythologie und Monsterkunde bis die Uhr zwölf zum Mittagessen schlug und ihn daran erinnerte, nach seinem Patienten zu sehen.

      Aus dem Kühlschrank nahm er eine Packung Hackfleisch, ging damit zur Lagertür und schaltete das Neonlicht ein. Durch das kleine Schaufenster bemerkte Jules keine Reaktion des Insassen darauf. Amon war noch immer nicht zu sich gekommen. Zumindest schlief der Wolfsmann ruhig.

      Als der Professor eintrat, roch er einen derben, hundeartigen Geruch, der ihm unangenehm war. Dennoch hockte er sich zu dem Dämon nieder, entfernte die Stromkabel und nahm die Verbände in Augenschein.

      Die kleinen Kratzer und Schwellungen schienen bereits verheilt zu sein. Mehrere der Pflaster konnte er guten Gewissens entfernen. Was die offenen Brüche an Bein, Arm und Brustkorb anbelangte, so war die Blutung gestillt und stellenweise wuchs das Fleisch schon zusammen. Am Hals trat noch Wundflüssigkeit aus, aber an der Kehle bildete sich neue Haut. In den wenigen Stunden Bettruhe hatte sich der Zustand des Lichtfängers gebessert wie bei einem Menschen nach zwei oder gar vier Tagen.

       Er besitzt starke Selbstheilungskräfte, dachte Jules und fühlte den Puls, der gleichmäßig schlug. Kein Wunder. Er ist ein übermenschliches Wesen. Gesteigerte Körperkraft, gesteigerter Wille, gesteigerte Energie. Er ist ein Kämpfer. Ein unbeugsamer wilder Wolf.

       Wie beneidenswert.

       Ja, er war neidisch auf diese Kreatur. Gerade in ihrer menschlichen Form.

      Amon war als Mann das blanke Gegenteil von ihm. Ein Hüne, ein gefährlicher, todbringender Feind der Menschheit. Ein furchteinflößender Charakter, den man besser respektieren sollte, als sich gegen ihn zu stellen. Über ihn würde niemand spotten oder den Kopf schütteln. Eine Frau wäre von seinem maskulinen Äußeren mehr als angetan. Mit dem breiten Kreuz, den durchtrainierten Muskeln und seinem Hauch der Andersartigkeit würde er die Schönheiten magisch anziehen …

      Im Vergleich zu ihm war Jules eine halbe Portion. Er könnte ihn durchbrechen wie einen Strohhalm. In einem dieser amerikanischen Teenager-Filme wäre Amon einer der coolen Typen vom College, denen alles gelang und jedes Mädchen nachsah. Und Jules mimte den unscheinbaren Bücherwurm in der Ecke, der von Frauen nicht einmal realisiert wurde.

      „Fast schon ironisch, dass der starke Krieger jetzt auf die Hilfe des schwachen Intellektuellen angewiesen ist,“ schmunzelte er mehr für sich selbst, „die Hausaufgaben mach ich aber nicht für dich.“

      Er riss die Fleischpackung auf und nahm etwas von der kalten, wurmartigen Glibbermasse auf die Finger, rollte diese zu einer kleinen Kugel und versuchte, sie dem Lichtfänger in den schlaffen Mund zu stopfen. Der Schluckreflex setzte mit etwas Überredung ein.

      „Na, bitte“, grinste Jules, „wir kriegen dich doch hin“, und nahm das nächste Klümpchen Schweinehack aus der Plastikschale.

       „… farmi …“

      Vor Schreck ließ er fast alles fallen.

      Sein Patient träumte. Unter den Lidern rollten Amons Augen schwach hin und her. Von den leicht geöffneten dunklen Lippen schlichen sich gemurmelte Worte.

       „… farmisaiǩo …“

      Der Traum fiel von ihm ab und der Wolf sank zurück in die Bewusstlosigkeit. Schweiß glänzte auf der fahlen Stirn und ein Tropfen lief über die Schläfe.

      Schweigend wartete Jules ab.

      Er hätte zu gern alles gewusst.

      10

       Tief

       Die Enge schnürte ihm die Kehle zu. Wasser durchnässte ihn bis auf die Haut und es war kalt. Am ganzen Körper zitternd, hatte er sich die Krallen wund gekratzt an diesen elendigen Wänden, die ihm keinen Halt boten, um dem Abgrund zu entkommen.

       Angst.

       Er hatte Angst.

       Niemand würde ihn hier finden.

       Er war verloren.

       Schwach.

       Keiner hörte ihn schreien.

       Nun versagte ihm die Stimme.

       Panisch startete er einen weiteren nutzlosen Fluchtversuch. Die Pfoten scharrten schmerzhaft am glatten Stein. Eine Kralle riss ab.

       Brüllend fiel er zurück ins Wasser.

      


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