Die Stunden der Nacht. Daimon Legion

Die Stunden der Nacht - Daimon Legion


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worden. Sie passte so gar nicht zu der noch weihnachtlich geschmückten Fassade des allzeit beliebten Einkaufszentrums, in dessen belebter Fußgängerzone sie stattgefunden hatte. Während künstliche Tannenbäume und hohle Geschenke im Schaufenster glänzten, schimmerte nun Blutstropfen und Zähne wie Perlen auf dem Pflaster. Ein Kind begann zu heulen.

      Die zwei Freunde des Aufschneiders hielten ihre Glühweintassen fest in der Hand und gafften doof. Wie auch der Verkäufer in seiner Marktholzbude, oder die dralle Dame am Zuckerwarenstand. Alle Gesichter, die Dani anstarrten, wirkten wie eingefroren vom Wind. Eigentlich hätte es in der Straße laut zugehen müssen von all dem Stimmengewirr und den zig Straßenmusikern, die trotz der verblassten Feiertage noch immer „Oh du Fröhliche“ anboten. Doch jetzt waren alle Geräusche verstummt. Allein ihretwegen.

       Und nun?

      Postwendend schossen ihr zwei Möglichkeiten durch den hübschen Kopf.

      1 Sie könnte auf die Polizei warten und sich verteidigen gegen die mit Sicherheit aufkommenden Verleumdungen der Zeugen, die aussagen würden, der Macho hätte bloß einen Scherz versucht, bei dem die asoziale Trulla – natürlich sie – überreagiert hätte.

      2 Sie könnte stiften gehen, volle Möhre, und demnächst die Innenstadt meiden. Praktischerweise war sie in aufgedonnerter Ausgehmontur unterwegs, dann würde sie mit schlichter Alltagskluft unter all den Menschen verschwinden. In ein paar Wochen wäre die Sache vergessen, die Polizei hatte bekanntlich andere Sorgen …

      Was stand sie also hier rum?

      „Tschüssili!“, feixte die Punkerin und huschte davon.

      „Hey!“, rief ihr einer brüllend nach und sicher verfolgte derjenige sie auch durch den Strom der Passanten.

      Dani aber würde nicht auf ihn warten. Wie ein Wiesel schlängelte sie sich an den Entgegenkommenden vorbei und verschwand im Schutz der Masse. Eine Gruppe der historischen Stadtführung gab ihr Deckung.

      Es sollte zudem ihr Glück sein, dass an den Straßenbahnhaltestellen beim Platz der denkmalgeschützten Oper gerade die richtige Tram nach Hause einfuhr. Gleich einem jungen Reh sprang sie die eisernen Stufen hoch und ließ sich in eine der spärlich gepolsterten Plastikmuscheln fallen. Andere Fahrgäste nahmen ihre Sitze gelassener ein und keiner schenkte ihr ausreichend Beachtung.

      Wie gut, dass sie mit ihrem extrovertierten Äußeren in dieser kunterbunten, so scheinheilig viel gepriesenen multikulturellen Studentenstadt nicht mehr auffiel als ein Grevy- unter Steppenzebras. Da erweckte der nach Patschuli riechende und mit Glöckchen klingelnde Goth oder der laut Musik hörende Rapper mehr Aufsehen. Der Oi-Skin mit Fliegerjacke und Hund an der Leine zog sowieso alle Blicke auf sich, weil er sein Bier tönend entkronte. Den kümmerten die Regeln noch weniger als sie …

      Während die Bahn ratternd anfuhr und an meterhohen Geschäftsgebäuden, verstaubten Museen, lärmenden Baustellen und modernen Hotels vorbeirauschte, sackte das Erlebnis von eben in Dani nieder.

      Sie hatte mal wieder zu impulsiv gehandelt, das stand fest. Irgendwann würde ihr dieses Verhalten noch große Schwierigkeiten einbringen. Aber sie musste sich ja auch nicht alles gefallen lassen, oder? Was kümmerte es sie, dass der Kerl morgen im Krankenhaus aufwachte und seine teure Mahlzeit püriert durch den Schlauch saugen musste? Und wenn es dann noch hieß, dass seine chauvinistischen Gene sich nicht mehr fortpflanzen konnten, war das nur die gerechte Strafe.

       Gut, ihrem ehemaligen Budo-Lehrer erzählte sie besser nichts davon. Der predigte zwar zu Recht, dass Menschen mit Macht diese nicht nutzen sollten, um andere zu beherrschen – wohl aber, um ihnen eine zu verpassen, wenn sie es doch verdienten! Jedenfalls war das ihre Meinung.

       Angreifen, bevor ich selbst angegriffen werde. Scheiß auf Jesus’ fromme Wangengeschichte. Scheiß auf Gewalt ist keine Lösung. Scheiß auf Vergeben und Vergessen, noch ist mein Hirn zu jung, um verkalkt zu sein. Selber schuld, wer mich provoziert.

      Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte sie sich geschworen, niemals mehr wem unterlegen zu sein. Nie wieder wollte sie ein Opfer sein und kampflos aufgeben oder gar sterben.

      Sie wollte nicht so enden wie ihre Eltern.

      Nicht auf die Art …

      Schnaufend biss sich Dani auf die Unterlippe. Die Wut stieg in ihr auf und sie wünschte sich irgendeinen elenden Drecksack, den sie ordentlich verprügeln konnte. Das wäre zwar keine Wiedergutmachung für ihre Probleme, täte aber Gewissen und Gemeindewohl gut. Sie war keine Heldin, dennoch forderte sie Gerechtigkeit. Wirkliche Gerechtigkeit, und kein ellenlanges Verfahren, welches am Ende nur im Sand verlief. So einige Verbrechen in dieser Stadt blieben leider zu oft ungesühnt.

      Der Waggon hielt an der nächsten Station.

      Menschen strömten heraus. Menschen strömten herein.

      Hinter ihr nahm eine Mutter mit Kind Platz.

      Wie würde es dem kleinen Jungen ergehen, wenn Mama plötzlich nicht mehr da wäre? Wenn seine Eltern aus heiterem Himmel getötet werden würden? Würde er von einem Kinderheim zum andern ziehen? Oder hätte er vielleicht ein Zuhause bei den Großeltern gefunden, die versuchen würden, ihn über seinen Schmerz hinwegzuhelfen? Würde er von dem Gefühl der Rache aufgezehrt werden? An seiner Trauer ersticken? Oder könnte er die Kraft seines Zorns nutzen, um stark zu werden? Und irgendwann wäre die Zeit gekommen, dass er Vergeltung einfordern konnte.

      Sie fühlte, dass ihre Nägel sich in die Handballen gegraben hatten und lockerte den Griff.

       Irgendwann …

      Dani verließ die Bahn mit einem geübten Sprung von der obersten Stufe aus. Mochten die anderen Reisenden darüber denken, was sie wollten, es kümmerte die junge Frau nicht.

       Jeder Mensch hat Macken. Ihr eure, ich meine.

      Der Fußweg unter ihren dicken Sohlen war uneben, vom Schneematsch verkrustet und mit spärlich wachsendem Unkraut durchsetzt. Vertrocknetes Gras drang durch die Ritzen der offenen Mauerfugen von Hauswänden. Viele Gebäude waren baufällig, die grau-braunen Fassaden rissig und von Farbe beschmiert. Die Mieten – wenn denn für einen Bezug zumutbar – standen niedrig. Aus so manchem Fenster dröhnten lautes Grölen und Musik in allen Facetten. Doch die Nachbarschaft war der eigenwilligen Punkerin egal, solange sie einen guten Schlafplatz hatte.

      In ihren Teenagerjahren war Dani viel umhergezogen. Häufig war sie bei Freunden und deren Freunden untergekommen und kannte daher die verschiedensten Lebensstile und Einrichtungsmethoden, von rustikalem Sperrmüll über Selbstgebasteltes bis hin zur Neuware. Die Schule hatte sie lustigerweise nie aus den Augen verloren, war ihr ja bewusst gewesen, dass eine gute Bildung schon mal die Hälfte ihres ganzen Planes ausmachte. Sie hatte sogar das Abitur geschafft, nur für ein Studium fehlte es ihr an Muße. Und selbstverständlich Geld.

      Ein kleines Tattoo-Studio bot ihr heute einen Arbeitsplatz und Freiheit zugleich an. Der Lohn reicht für die nötigsten Dinge des geregelten Bürgerlebens, für alles Weitere sorgt sie selbst.

      Oder Jules.

      Sie bog in die Seitenstraße ein und betrachtete die chaotischen Graffitis an der Wellblechaußenwand der stillgelegten Lebensmittelfabrik. Es handelte sich um die üblichen Spinnersprüche und Gang-Logos. Die knalligen Farben waren an dem Geschmiere noch das Beste. Vielleicht sollte sie ein paar alte Kumpels fragen, ob die etwas Richtiges an die Umwallung bringen konnten. Schließlich sollte ihr Zuhause schon eine gewisse Persönlichkeit ausdrücken.

       Wie wäre es mit den Ghostbusters?

       … echt, das würde passen wie die Faust aufs Auge.

      An der eisernen Zugangstür zog Dani ihren Schlüsselbund aus der Hosentasche und öffnete die Pforte zu einer riesigen Halle, wo früher Rollbänder, Walzen und Industrieöfen gestanden hatten. Diese ehemaligen Inhalte waren vor Jahren verschwunden und hinterließen eine gähnende Leere, die allein durch emporgesetzte Zugangswege und deren Treppenabgänge unterbrochen wurde.

      Den zum Teil noch gekachelten Fabrikboden


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