Die Stunden der Nacht. Daimon Legion

Die Stunden der Nacht - Daimon Legion


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gaben dem Ganzen den Eindruck einer fehlerhaften Bibliothek – doch jede der Abertausend Schriften hatte seinen festgelegten Stellplatz. Sitzmöglichkeiten boten ein roter Ledersessel und ein abgenutztes, dennoch ausgedehntes grünes Sofa.

      Kabel lagen herum und versorgten beispielsweise einen Fernseher auf dem Sideboard und zwei Computer am großen Schreibtisch mit Strom. Kühlschrank und Gefrierbox summten in einer Küchenecke unterhalb der freien ersten Etage. Es gab auch eine angeschlossene Spüle und sogar eine Waschmaschine. Hinten in der Halle waren Kleiderschränke und ein großes Bett aufgebaut. Und es existierte ein mit grauen Sportmatten ausgelegter Trainingsbereich, wo sie ihre täglichen Übungen machen konnte, um fit zu bleiben. Ein viel gebrauchter Sandsack hing dort von einer der metallischen Brücken.

      Es war kein gewöhnliches Zuhause. Vor allem jetzt, im Winter, war es auch nicht gerade gemütlich warm. Durch Lücken in den Fensterscheiben pfiff meistens der Wind. Bei Regen war das Dach stellenweise undicht, weshalb überall ein Eimer griffbereit stand. Vieles müsste dringend ausgebaut und erneuert werden. Doch trotz aller Mängel liebte Dani diesen Schuppen. Er gehörte ihr.

      Und Jules.

      Sehen konnte sie ihn nicht wirklich, doch hören. Sein Gemurmel drang durch das Metallgitter der Etage über ihr, wo er seine Denktafeln hatte – wie er sie nannte. Eigentlich waren es bloß einfache ausrangierte Schultafeln, auf denen er mit Kreide seine verworrenen Gedanken zurechtrücken konnte. Allerdings sollte man nie den Fehler machen, etwas eigenmächtig darauf zu verändern, wenn man nicht wollte, dass der Herr Professor komplett die Fassung verlor. Eine absteigende blaue Dunstwolke sagte ihr, dass er zu viel rauchte.

      „Bin wieder da!“, kündigte Dani sich an und ihre Stimme hallte durch die Fabrik.

      Rumpelnd und polternd sah sie ihn undeutlich vom Stuhl fallen. Das war typisch Jules. Wenn er in seiner Welt steckte, vergaß er alles außerhalb. Lächelnd ging Dani auf die Eisentreppe zu, die sie hoch auf die nächste Ebene führte, hinein in ein zerstreutes, kleines Zauberreich.

      Jules’ „Büro/Labor“ bestand im Grunde aus alteingesessenem Chaos und spleeniger Kreativität. Ein Schreibtisch voller Aktenordner, Zettelwirtschaft und ein Gestell aus verschiedenen Gläsern für chemische Experimente; Pflanzenbehälter in jeder freien Ecke mit unzähligen Heilkräutern – die sicher längst vertrocknet wären, wenn Dani sie nicht ab und zu gießen würde – und Schränken, angefüllt mit Sammelsurium.

      Hinter Glasscheiben lagerten hier Mineralien und Edelsteine, Muscheln und Schmuckgegenstände, Fossilien, Skelette von Kleintieren und steinerne wie hölzerne Artefakte von weltweiten Kulturen. Noch dazu Jules’ älteste und wertvollste Bücher, teils in Leder und Leinen gefasst, noch seltenere nur als Schriftrolle.

      Der Professor richtete gerade seinen breitfüßigen Stuhl auf. Er pflegte beim Nachdenken auf dessen Lehne zu hocken, die Sohlen seiner weißen Sneakers auf dem Sitzpolster. Eine unsichere Haltung, wie sich ja zeigte, wenn man ihn aufschrecken ließ. Der metallische Gitterboden war übersät mit zerknülltem Papier und einigen, aus den Händen verlorenen Büchern. Meist balancierte er mehrere auf dem Arm wie ein Kellner Teller. Der Aschenbecher auf dem Tisch quoll über von Kippen.

      „Oh, hi!“, grüßte er sie flatterhaft mit der aktuellen Zigarette zwischen den Zähnen. „Ich war gerade …“, aber er brauchte gar nicht weitersprechen. Hinter seiner rundrahmigen Brille las sie in den braunen Augen, dass er noch nicht ganz auf den Planeten Erde zurückgekehrt war. Was er sah, war nicht sie oder die Halle, sondern irgendetwas weit Entferntes. Sphären fern der menschlichen Überlieferungen. Dabei hatte sie ihn bloß ein paar Stunden allein gelassen.

      Sein aschblondes, schulterlanges Haar hatte er fahrig zum Zopf gebunden und graue Kreideflecken bedeckten sein schwarzes Hemd und die ebenfalls schwarze Jeans. Die Finger seiner schlanken Hand waren gelb vom Nikotin. Über seine Studien hinweg hatte er natürlich wieder das Essen vergessen – dabei war er schon lang und dünn wie eine Bohnenstange. Wenn sie nicht aufpasste, würde er ihr noch vor den Büchern verhungern.

      Beim Anblick der kleinen Schrift auf den dicht beschriebenen Tafeln wurde Dani erneut klar, warum Jules es schwer hatte, an der hiesigen Universität eine Dozentenstelle zu besetzen. Er war schlicht und ergreifend besessen von seinem Fachgebiet – auch wenn ihn das überall bloß Spott einbrachte. Würde er es seriöser angehen, hätte er noch die Kompetenz übrig. Jedoch erschien er allen Zuhörern mehr wie ein Irrer, wenn er einmal in Fahrt kam.

      Das Manko eines jeden Genies.

      „Beschäftigt?“, schmunzelte sie und lehnte sich an das Eisengerüst.

      „Gnostik“, antwortete er beschämt, „ich könnt mich drin verbeißen. Am liebsten würde ich die ganze Bibel neu übersetzen und diese religiösen Ungereimtheiten -“

      „Der Vatikan hat dich bereits verteufelt, mehr kannst du bei der Kirche nicht erreichen. Verbeiß dich lieber in die Lasagne, die im Kühlschrank liegt.“

      „Ich hab keinen Hunger …“, winkte er ab und atmete Rauch aus.

      „Jules“, klang sie leicht drohend, „die hab ich dir gestern Abend für heute Mittag gemacht. Soll ich mich etwa umsonst hingestellt haben? Der Doktor kriegt einen Anfall, wenn ich dich noch mal zu ihm schleifen muss und deine Werte jenseits von Somalia liegen …“

      Offenbar zog die Schelte, denn er wurde recht klein. Obwohl er älter war als sie, hatte sie ihn besser im Griff. Blinzelnd sah Jules auf seine Armbanduhr und stöhnte lang. „Wo ist die ganze Zeit hin? Mir kommt es vor, als wärst du erst vor einer Stunde oder so gegangen!“

      „Vor fünf Stunden“, korrigierte sie ihn bissig lächelnd. „Robert hat das Studio heute früher dicht gemacht, weil sein Junge Geburtstag feiert. Hab ich dir gestern gesagt.“

      „Ach, sorry …“, seufzte er und rieb sich die Augen, „ich bin raus.“

      „Dann lass die Gnostik Gnostik sein und wir essen zusammen, okay?“, schlug sie vor und setzte gleich an: „Ich hab auch Neuigkeiten erfahren, die dich interessieren werden.“

      Jules hob eine dünne Braue. „So? Worum geht es?“

      „Ich erzähl es dir nach dem Essen.“

      „Mist.“

      3

       Lichtfänger

      Jules rieb sich die geschlagene Schulter. Nachdem er unachtsam Dani gestanden hatte, dass er in den fünf Stunden auch nichts getrunken hatte, ließ sie mehrere Treffer auf ihn landen.

      Seine junge Freundin war hart und manchmal sehr brutal, doch er wusste, sie war nur deshalb so grob zu ihm, weil sie ihn aufrichtig liebte und sich mehr als große Sorgen um ihn machte.

      Er sah ja auch vollkommen ein, dass sie recht hatte.

      Bevor er sie vor zwei Jahren kennengelernt hatte, brachte ihn seine damalige Freundin unter Wut und Tränen ins Krankenhaus, nachdem er über der Arbeit zusammengebrochen war und an Unterernährung litt, die schon als lebensbedrohlich galt. Kaum, dass er wieder stehen konnte und zu Stift und Zettel griff, verließ sie ihn und die Ärzte hielten es für ratsam, ihn weiter festzuhalten – in der psychiatrischen Abteilung.

      Wenn seine französische Mutter und sein englischer Erzeuger sich jemals ernsthaft für ihn interessiert hätten, statt quer durch die heile weite Welt zu irgendwelchen diplomatischen Seminarsitzungen und archäologischen Ausgrabungen zu reisen, wären sie vielleicht sogar enttäuscht gewesen, dass ihr einst vielversprechender Junge nicht an einer Hochschule lehrte, sondern in der Klapse gelandet war. Welch ein Glück, dass der Kontakt seit Jahren miserabel verlief …

      Bei einer albernen Gruppensitzung war ihm dort in der weißen Hölle dieser störrische Wirbelwind begegnet und ihr unbeugsames Temperament hatte ihn schlichtweg umgehauen. Von anderen Gemeinsamkeiten ganz zu schweigen, weswegen sie auch später noch miteinander sprachen und bald glücklich zusammenlebten.

       Na ja, mehr oder weniger …

      Ihre


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