LUME - Wo das Licht den Schnee berührt. Gabriella Gruber
zueinander sind, fühlt es sich an, als könne ich seinen Herzschlag spüren. Und auf mich wirkt es als würde es ihm genauso gehen. Doch er schleicht nur an mir vorbei, als wäre ich nichts anderes als eine Fremde, die an einer Bushaltestelle steht.
Lukas Ich sitze an meinem Schlagzeug. Ich muss über meine Gefühle sprechen, aber nicht mit Worten, nur mit Noten. Ich benutze die Becken, die Trommeln, dann alles zusammen und gleichzeitig. Erst nach Lust und Laune, dann nach einer durch Noten vorgegebenen Melodie.
Ich denke an sie und an ihre wunderschönen blauen Augen.
Ich denke an ihren Blick, als ich an ihr vorbei gegangen bin.
Ich spüre den Atem von Leon in meinem Nacken.
Ich spiele weiter, singe heute sogar dazu. Dabei ist es mir vollkommen egal, ob ich den Ton treffe oder nicht. Ich singe einfach das, was gerade aus mir herauskommt. Mit voller Leidenschaft. Als wäre ich auf einer Bühne mit einer jubelnden Menge. Ich lasse alles raus: Meine Wut, meinen Hass, meine Liebe. Ich spiele so lange, bis meine Arme schmerzen.
9. Kapitel
Melissa Am nächsten Tag sind wir alle aufgeregt. Ich habe meinen Freundinnen gestern Abend noch während des Busfahrens über im Chat erzählt, was passiert ist. Natürlich haben sie mich sofort getröstet. Ich bin so froh, dass ich sie habe. Heute sind wir allerdings nicht deswegen aufgeregt, sondern, weil unsere Lehrer verkünden wollen, wohin wir den Wandertag unternehmen werden. Auf diesen habe ich nur Lust, weil ich meine Freundinnen habe. Alleine wäre es langweilig. Und insgeheim wegen ihm. Trotz des Schmerzes, den er gestern bei mir ausgelöst hat.
„Also, da der Wetterbericht eher schlechtes Wetter vorausgesagt hat, werden wir ins Kino gehen“, sagt unsere Lehrerin Frau Wolf und ich kann meinen Ohren nicht trauen! „Der Wandertag ins Kino findet nächste Woche am Donnerstag statt. Am Freitag drauf bekommt ihr eure Praktikumsstellen zugewiesen.“
Als jemand aus der Klasse fragt, ob nur unsere Klasse ins Kino gehe, antwortet unsere Lehrerin, dass sie nicht wisse, wer noch mitkomme. Sie habe im Lehrerzimmer nur etwas von einer 13. Klasse aufgeschnappt. Insgeheim hoffe ich, dass es sich bei der 13 um die Klasse mit Lukas handelt.
Dann stimmen die Schüler noch über einen Film ab. Doch dieser ist mir vollkommen egal, solange eine kleine Chance besteht, dass ich ihn mir gemeinsam mit ihm ansehen kann.
Lukas Ein freudiges Raunen fährt durch die Klasse, als Herr Hofer bekannt gibt, dass wir dieses Jahr am Wandertag ins Kino gehen werden.
Ich schmunzle. Wäre schon irgendwie cool, wenn unsere Klasse gemeinsam mit der Klasse des Mädchens ins Kino gehen würde. Ich könnte mich unauffällig neben sie setzen und auch Leon würde davon nichts mitbekommen, falls wir einen spannenden Streifen anschauen. Aber sie wird mit Sicherheit von ihren Freundinnen umschwärmt sein. Es wird mir kaum möglich sein, während des Films, ein paar Reihen davor oder dahinter, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Eigentlich könnte mir Leon egal sein. Ich könnte sein billiges Getue ignorieren, aber dazu habe ich zu viel Respekt vor ihm. Beziehungsweise, vor seinem Vater. Herr Krause ist der beliebteste Polizist der Gegend und arbeitet direkt beim Hauptquartier von Flussberg. Dadurch genießt sein Sohn in etwa eine Art Diplomatenstatus. Mit seinem Vater will sich niemand anlegen und wenn er der Meinung ist, dass sein Sohn unschuldig ist, dann ist das auch so. Da gab es in der Vergangenheit schon genug Vorfälle, die dies beweisen. Wenn er also meiner Angebeteten etwas antun würde und ich Beweise dafür hätte, könnte man ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Aber ich würde sie niemals dafür opfern oder irgendwen anderen.
Melissa Während des Matheunterrichts bin ich offenbar die Einzige, die sich ausnahmsweise mal auf das Geschehen an der Tafel konzentriert. Alle anderen Mädchen, besonders Celina und Clarissa, sind wild am Tuscheln. Das hat schon angefangen, seit Frau Wolf vor ein paar Stunden die Ankündigung mit dem Kino ausgesprochen hat. Eigenartig. Nachdem ich ein paar Gesprächsschnipsel auffangen konnte, bin ich der festen Überzeugung, dass es um Jungs geht.
„Sie reden über die Jungs der 13er“, flüstert Eva Maria.
„Über die Jungs, die immer am Fenster stehen?“, wispert Helena.
„Ich glaube schon“, antwortet Eva Maria leise.
Insgeheim hoffe ich, dass sie recht haben. Wenn sich die Zicken unserer Klasse für andere Jungs als meinen Lukas interessieren, ist mir ihr Gesprächsthema egal.
Das Handy auf dem Lehrerpult vibriert und Frau Huber sieht sofort auf das Display. „Ich bin gleich zurück. Wir haben eine kurze Besprechung im Lehrerzimmer“, bevor sie sich auf den Weg begibt, blättert sie durch unser Mathebuch. „Schlagt mal bitte das Buch auf Seite 15 auf und macht bitte die Aufgaben 2a und 3b. Ich bin gleich zurück.“ Und schon ist sie verschwunden.
Lukas Kaum hat unser Lehrer das Zimmer verlassen, beherrscht wieder eine bestimmte Lautstärke das Klassenzimmer. Markus zeigt mir ständig süße Katzenbabys auf seinem Handy. Als er mir das Bild mit einer kleinen Katze auf dem Rücken eines Hundes zeigt, bebt sein Brustkorb aufgeregt. Er kann sich so über dieses Bild amüsieren, dass ich mich an seinem Verhalten erheitere und meine Sorgen für den Moment einfach mal vergesse. Ehe ich ihn fragen kann, woher er ständig diese Fotos bekommt, wird die Tür aufgerissen und alle verstummen augenblicklich.
„Entschuldigt bitte, dass ich so schnell weg war. Wir hatten eine Besprechung bezüglich des Wandertags ins Kino“, Herr Hofer setzt sich auf den Lehrerstuhl und sieht erwartungsvoll in die Klasse. Wir sehen ihn nur fragend an, gespannt auf die Informationen, die er uns gleich liefern wird.
„Es ist so, dass wir Lehrer aus den letzten Jahren lernen wollen. Es gab, trotz unseres hohen Bildungsstandes, viele Feindseligkeiten zwischen den vereinzelten Klassen. Ganz egal, welcher Jahrgangsstufe. Ihr habt das bestimmt mitbekommen.“
Ich erinnere mich düster daran. Der letzte Dreizehner-Jahrgang war sogar so unmöglich, dass sie Elftklässler auf den Toiletten eingesperrt hatten, die Lehrer beschimpft und Hetzgruppen in Social Media Netzwerken eröffnet haben. Unsere Lehrer waren fast machtlos. Ich bin froh, dass sich unser Lehrerkollegium jetzt Gedanken über so etwas macht und es nicht einfach unter den Teppich kehrt, um vor bestimmten Regierungsleuten in einem besseren Licht zu stehen.
„Deswegen sind wir uns einig, grundlegend etwas verändern zu wollen. Wir möchten nicht mehr nur in Jahrgangsstufen denken, sondern als eine gemeinsame Schule. Deswegen planen wir, dass die Elft-, Zwölft- und die Dreizehntklässler gemeinsam ins Kino gehen. Jeweils die Sozialklassen, die Wirtschaftsklassen, also wir, und die Technikerklassen sollen je einen Kinosaal besetzen und gemeinsam einen Film ansehen. Aus Übungszwecken sogar auf Englisch. Das ist alles schon mit dem Kino in Flussberg vereinbart. Vielleicht können wir auf diese Art den Zusammenhalt stärken, zumindest innerhalb der Zweige. Vielleicht trauen sich dann die schwächeren Schüler der elften Klasse auch mal jemanden, zum Beispiel, aus eurer Klasse bezüglich Nachhilfe anzureden. Das würde auch uns eine Menge Arbeit ersparen“, Herr Hofer lächelt zufrieden, als er den Vorschlag der Lehrer preisgibt.
Und ich lächle mit ihm, weil ich weiß, was das bedeutet. Schließlich hat Markus zufällig aus sicherer Quelle erfahren, dass sie auch eine Schülerin im Wirtschaftszweig ist.
Melissa „Melissa, du weißt, was das heißt, oder?“, fragt Eva Maria aufgeregt, nachdem uns Frau Huber die Neuigkeit bezüglich des Kinos verkündet hat.
„Ich glaube, sie weiß es nicht“, bemerkt Helena belustigt, als sie meine Unsicherheit bemerkt.
Eva Maria rempelt mich an und lacht. „Na Lukas! Er geht auch in die Wirtschaftsklasse“, klärt sie mich auf.
Ich starre sie an. „Woher weißt du das?“
„Erinnerst du dich an die Tür, wo ihr beide euch gegenseitig angesabbert habt? Im Schulgang? Auf dem Schild neben der Tür stand ‚W13‘.“
Mein