LUME - Wo das Licht den Schnee berührt. Gabriella Gruber
welcher Bereich bei BWR hat dich letztes Jahr am meisten beschäftigt?“
Ich grinse, als er mir plötzlich diese Frage stellt. Er weiß die Antwort doch selbst schon ganz genau. Schließlich hatte er alle meine offenen Fragen beantwortet und meine Prüfung als Zweitkorrektor geprüft. Es waren damals elf Punkte, die ich in der Abschlussprüfung ergattert hatte, entspricht also der Note Zwei.
„Die Abschreibungen waren sehr kompliziert“, antworte ich schließlich auf seine Frage.
Zufrieden über meine Antwort nickt Herr Hofer und wendet sich an den Rest der kleinen Klasse.
Wir bestehen hauptsächlich aus Jungs. Zehn Jungs, drei Mädchen. Für mehr Wirtschaftsbegeisterte, die ihr volles Abitur nachholen wollen, hat es nicht mehr gereicht. Schon Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass wir letztes Jahr über 30 Schüler waren.
Der Unterricht läuft schon seit gut einer halben Stunde, als es draußen plötzlich lauter wird. Mein Blick wandert aus dem Fenster, neben dem ich sitze. Als ich auf dem Hartplatz des Sportgeländes viele Mädchen laufen sehe, spüre ich, wie sich mein Puls beschleunigt.
Markus rammt mir erneut seinen Ellenbogen in die Rippen. „Sieh mal, da sind ja die heißen Schnittchen aus der Elften“, flüstert er mir zu. Kein Wunder, dass er wieder Single ist, wenn er so über junge Damen redet.
Mein Herz macht einen Satz, als ich das Mädchen meiner Träume ausmache. Dieses Mal, nachdem ich sie nochmal aus der Nähe gesehen hatte, erkenne ich sie sofort und ohne Verwechslungen. Ihre langen braunen Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sie trägt eine schwarz-weiße Sportkleidung.
Offenbar spielen sie jetzt Völkerball. Es haben sich zwei Teams auf dem Platz gebildet und die hintere Reihe wird jeweils von einem anderen Mädchen bewacht. Die junge Frau meiner Träume steht mit dem Rücken zu mir und starrt wie gebannt auf das Mädchen vor ihr, das bereits erfolgreich den Ball ergattert hat.
Melissa „Ich krieg ihn, ich krieg ihn!“, Celina, das blonde Mädchen vor mir, ist gerade damit beschäftigt, eifrig nach dem Ball zu springen und hätte mich deswegen beinahe umgerannt. Gut, dass sie in meinem Team ist, dann habe ich vor ihr wenigstens nichts zu befürchten. Außer eben, dass sie mich umläuft.
Zack!
Cool! Ich habe, ohne es zu bemerken, den Ball gefangen! Na warte, jetzt hole ich uns eine der Feindinnen in den Seitenkasten!
Gedacht, getan. Ich habe ein Mädchen, das gerade unaufmerksam war, abgeschossen. Ihr Blick war die ganze Zeit auf die großen Fenster hinter uns gerichtet. Als sie meinen Schlag spürte, protestierte sie zum Glück auch nicht, sondern ging gleich in ihren neuen Bereich auf dem Spielfeld. Ich rechne fest damit, dass sie sich dafür bei mir rächen wird. Also muss ich jetzt besondere Vorsicht walten lassen.
Lukas Ein Handy klingelt. Die Melodie ist die wohl größte Hymne von Queen. Da mein Smartphone eher Phil Collinsspielt, bin ich schon beruhigt, dass es nicht meins ist. Es ist sogar das von Herrn Hofer. Sein Musikgeschmack gefällt mir.
„Entschuldigt mich bitte“, er nimmt den Anruf an und verlässt augenblicklich das Klassenzimmer.
Das war das Stichwort für die Jungs unserer Klasse. Oder besser gesagt, all jene, die so denken wie Markus. Also alle, bis auf mich.
Sie beenden vorzeitig das Abschreiben von der Tafel, reißen die Fenster auf und setzen sich im angeberischen Stil auf das Fensterbrett. Sie beobachten die Mädels draußen und pfeifen den Mädchen nach, als ihnen eine davon den Hintern entgegenstreckt und mit ihm wackelt, als würde sie ihre tolle Figur zur Schau stellen wollen.
Ich verdrehe die Augen und linse unsicher hinter Markus‘ Rücken hervor, ob ich sie sehen kann.
Und tatsächlich: Ich erkenne sie, aber sie sieht mich nicht. Zum Glück! Schließlich will ich nicht, dass sie mich auch als Vollidioten abstempelt, so wie die Hampelmänner da neben mir.
Melissa „Schwing die Hüften, Süße!“, brüllt einer der Jungs von oben und meint damit die große Blondine Clarissa, die ihren Körper aufreizend zur Schau stellt. Was für eine Tussi!
Ich habe einen richtigen Schrecken bekommen, als plötzlich die Fenster aufgerissen worden sind. Warum machen die das? Sollten sie nicht lieber im Unterricht aufpassen?
Insgeheim suche ich die neugierigen Jungs nach ihm ab, aber ich kann ihn nirgends entdecken. Was mich natürlich etwas enttäuscht.
Zack!
Mist! Ich spüre den Ball an mir abprallen und ich bin nicht mehr in der Lage, ihn zu fangen, bevor er den Boden erreicht. Ich war Vorletzte. Jetzt muss ich wohl zum Freigeist wechseln. Ich wollte lieber die Letzte sein, die übrig bleibt, aber insgeheim bin ich froh, jetzt auf der anderen Seite zu stehen. Schließlich muss ich nun keine Angst mehr haben, abgeschmissen zu werden, und ich kann die Jungs uns gegenüber beobachten. Sie gieren gerade so nach unseren weiblichen Körpern. Wie ekelhaft! Tief in meinem Inneren bin ich allerdings froh, ihn doch nicht unter den wahnsinnigen Spannern zu entdecken.
„Das sind übrigens die Jungs aus der W13!“, klärt mich Eva Maria auf, die neben mir steht und auch Mitglied meines Teams ist. Jetzt bin ich noch erleichterter, dass ich ihn nicht sehe.
Lukas „Ach wie süß! Du versteckst dich ja voll!“, sagt Markus entzückt, als er mein Spähen hinter seinem Rücken bemerkt.
„Ja, aber bitte sag nichts!“, flehe ich ihn an.
„Hey Lukas, wir sind doch Freunde. Das würde ich nie tun.“
„Danke.“
„Nicht dafür.“ Er holt Luft. „Deine Kleine wurde aber gerade abgeschmissen und gehört jetzt zum Freigeistteam.“
Ich spähe erneut hinter seinem Rücken hervor. Er hat recht. Unsere Jungs am Fenster haben sie bestimmt erfolgreich abgelenkt.
Ich traue mich näher an die Fensterscheibe heran, um sie mir aus der Ferne genauer ansehen zu können. Sie hat eine normale Figur und wirkt auf mich sehr athletisch, obwohl sie nicht zu den dünnen Püppchen gehört. Ihr Zopf ist lang, fast bis zur Hüfte. Ihr Lächeln ist unverkennbar und sehr bezaubernd. Zumindest habe ich es so in Erinnerung. Sie könnte es wirklich sein, meine Auserwählte. Die optischen Kriterien passen auf jeden Fall. Jetzt muss ich nur noch ihre inneren Werte kennenlernen.
3. Kapitel
Melissa Zu Hause angekommen, lasse ich meine Schultasche in die Ecke meines Zimmers plumpsen. Ich bin müde und möchte am liebsten schlafen oder ein Buch lesen, aber trotz des Nachmittagsunterrichts haben wir den ersten Hausaufgabenberg bekommen.
Ich bin aufgeregt wegen morgen. Die Lehrer wollen uns in den komplexen Bereich der Praktika einweihen. Ich bin ja schon sehr gespannt, wie das alles ablaufen wird und vor allem, wo es mich hin verschlägt.
Lukas Schultasche in die Ecke, ein kurzes „Hallo“ an meine einsame Drei-Zimmer-Wohnung, und schon bin ich im Keller an meinem Schlagzeug.
Mein Onkel, der gleichzeitig auch mein Vermieter ist, hat mir sein Instrument geliehen. Es steht im Keller, damit ich den Nachbarn mit meinem lauten scheppernden Krach nicht auf die Nerven gehe.
Meine Eltern lieben mich zwar, haben aber beschlossen, dass ich – wie sie – selbstständig heranwachsen soll. Also wohne ich in einer Wohnung meines Onkels, zu einer ziemlich günstigen Monatsmiete, seit etwa zwei Jahren. Damals hieß es: „Lukas, ab deinem 18. Geburtstag wirst du dein eigenes Leben leben, denn da haben wir auch angefangen, uns zu einem erwachsenen Menschen zu entwickeln.“
Ich weiß nur leider nicht, ob es tatsächlich an der Lebenseinstellung meiner Eltern liegt oder mein Vater insgeheim immer noch sauer ist, dass ich seine Firma nicht übernehmen