Die Schiffe der Waidami. Klara Chilla

Die Schiffe der Waidami - Klara Chilla


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tut mir leid, aber irgendetwas in dir ist offensichtlich stärker verletzt worden als uns bewusst ist. Du solltest mit ihnen reden.“

      „Was soll das, Hong? Meinst du wirklich, dass sie Einzelheiten über das Leben ihres Sohnes wissen wollen, der nichts anderes als ein mordender Pirat geworden ist? Dass dies der Fall ist, habe ich ihnen bei unserer Landung ja deutlich vor Augen geführt.“

      Hong knurrte laut und vernehmlich und seine dunklen Augen blitzten seinen Captain voll unnachgiebiger Wut an. Er haderte kurz mit sich, doch dann ließ er seine geballte Wut heraus.

      „Als ich in die Sklaverei verkauft wurde, zwang man mich, meine Frau und meine beiden Töchter zurückzulassen. Ich weiß nicht, an wen sie verkauft wurden und was aus ihnen geworden ist. Aber …“ Hong holte tief Luft und rang um seine Fassung, „… aber ich würde alles dafür geben, sie noch einmal zu sehen, alles!“ Er sah bleich und vor Wut zitternd auf die beiden Männer und wandte sich dann wieder an Jess. „Sprich mit ihnen, bevor wir das Dorf verlassen. Sie können nichts dafür, was aus dir geworden ist, genauso wenig, wie du selbst. – Tu ihnen das nicht an.“ Mit einer unruhigen Geste wischte sich Hong durch das Gesicht und verließ übertrieben hastig und voller unterdrückter Gefühle den Raum.

      Jess Morgan sah ihm mit nachdenklicher Miene hinterher. Er ließ die Empfindungen von Wut und schmerzhaften Erinnerungen zurück. Hong würde niemals mehr die Gelegenheit erhalten, seine Familie noch einmal zu sehen. Ihm hatte man diese Möglichkeit förmlich vor die Füße geworfen. Aus welchem Grund auch immer konnte er jetzt einen Teil seiner Vergangenheit kennenlernen. Es waren seine Eltern. Das konnte Jess nicht nur sehen, das spürte er auch umso deutlicher, da die Strömungen von einer Gewaltigkeit waren, die sonst nur der Natur innewohnte. Es erinnerte ihn an die unerbittlichen Strömungen der Gezeiten. Keine Macht der Welt konnte das Wasser davon abhalten, sich dem unergründlichen Rhythmus der Natur zu unterwerfen. Die Strömungen der beiden waren faszinierend und doch quälten sie ihn; sie waren verlockend und doch ängstigten sie ihn.

      Er wollte ihnen nachgeben, doch fürchtete er damit eine Niederlage.

      Er wollte vor ihnen flüchten, doch fürchtete er damit einen Verlust.

      Jess lag in der Koje und starrte aufgewühlt an die Decke. Seine Hand tastete nach der Wand der Kajüte, und er empfing erleichtert die klaren Linien der Monsoon Treasure in seinen reizüberfluteten Empfindungen.

      Ruhig schob sie sich die Treasure zwischen den Wirrwarr in seinem Inneren und erklärte die Niederlage zum Sieg.

      Jede Welle, die gegen ihren Rumpf schlug, gab sie an Jess Morgan weiter. Eine Welle folgte der anderen in gleichbleibender Beharrlichkeit und doch glich keine der anderen, so wie kein Tag und keine Begegnung der anderen glichen. Alles brachte neue Erfahrungen mit sich, neue Möglichkeiten, und Jess traf eine Entscheidung.

      Langsam löste er seine Hand und brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass Cale immer noch geduldig in seiner Kajüte stand. Er räusperte sich verlegen, bevor er sich zögerlich an seinen Freund wandte: „Sag ihnen, dass ich sie aufsuchen werde, bevor wir das Dorf verlassen.“

      *

      Es hatte zwei weitere lange Tage gedauert, bis die Monsoon Treasure endlich wieder vollständig hergestellt war. Jess kämpfte mit seiner Ungeduld. Durch die schleppend vorangegangene Reparatur verzögerte sich die Heilung der Wunde. Missmutig musste Jess sich damit abfinden, dass er zwar bereits alleine die Kajüte verlassen konnte, aber doch noch recht schnell ermüdete.

      Heute früh hatte ihm sein Schiffszimmermann Patrick McPherson endlich mitgeteilt, dass sie die Reparaturarbeiten an der Treasure abgeschlossen hatten. Anschließend hatten sie den Dreimaster mit Hilfe der Fischer wieder ins Wasser geschleppt. Dem Verlassen der Insel stand damit nichts mehr im Wege. Unglückseligerweise war Hong dabei gewesen und hatte Jess nochmals unmissverständlich darauf hingewiesen, dass er den Fischern ein Versprechen gegeben hatte. Jess wunderte sich über sich selbst. Jetzt saß er hier in seiner Kajüte und schob diese Begegnung vor sich her. Ihm war nicht ganz klar, warum er sich damit so schwer tat, schließlich konnten ihm die beiden völlig gleichgültig sein. Aber zu seinem Erstaunen waren sie ihm nicht so gleichgültig, wie er es sich gewünscht hätte. Das kurze Aufblitzen der Bilder aus vergangenen Tagen war nicht zurückgekehrt; die vermeintlichen Erinnerungen verblasst, und doch hatte er das unsinnige Gefühl, ihnen etwas schuldig zu sein. Jess schnaubte ärgerlich, er wollte diesen Ort und diese Menschen so schnell wie möglich verlassen. Die Strömungen seiner Eltern waren unerträglich und erfüllten ihn mit ungeahnten Empfindungen. Jess atmete tief ein und erhob sich, um sich endlich diesen Menschen zu stellen.

      *

      Cale sah überrascht von seinem Gespräch mit Jintel auf, als Jess Morgan das Deck betrat und für einen Moment vor dem Schott verharrte, um die frische Luft in seine Lungen zu saugen. Als er den Blick seines Freundes bemerkte, ging er trotz einer leichten Schwerfälligkeit gelassen auf ihn zu.

      „Ich werde jetzt zu den Fischern gehen. Wenn ich wieder zurück bin, werden wir auslaufen. Lass alles klar machen.“

      Cale bemerkte die ungewöhnliche Unsicherheit in der Stimme seines Freundes, beschloss aber nicht darauf einzugehen.

      „Aye, Sir. – Und viel Erfolg, Captain.“

      Der innere Kampf, der in Jess tobte, war deutlich zu sehen, als er in das Beiboot abenterte und sich von Finnegan an den Strand rudern ließ. Cale hatte Jintel neben sich völlig vergessen und verfolgte mit seinen Blicken, wie Jess aus dem Boot stieg und dann mit schweren Schritten über den Strand auf die Hütte seiner Eltern zuging. Nur wer ihn genau kannte, konnte bemerken, dass seine Bewegungen leicht verkrampft wirkten. Jeder einzelne Schritt kostete ihn übermenschliche Überwindung. Es war offensichtlich, dass Jess am liebsten umgekehrt wäre, um ohne viel Aufhebens die Insel zu verlassen. Cale erinnerte sich an die Worte von Hong, der vermutetet hatte, dass hier eine viel tiefere Verletzung entstanden war, als ersichtlich. In all den Jahren hatte er seinen Captain nicht in solch einem verwirrten Zustand erlebt, und dies gab ihm ein wenig zu denken. Ausgerechnet jetzt, wo sie sich dazu entschlossen hatten, sich von den Waidami zu trennen, konnten sie es sich nicht leisten, dass sich die Entscheidungen von Jess Morgan durch Gefühle beeinflussen ließen.

      „Cale? Hörst du mir überhaupt noch zu?“ Die Stimme von Jintel riss Cale aus seinen Überlegungen, und er bemerkte, dass er immer noch Jess hinterher starrte, der inzwischen die halbe Distanz zur Hütte geschafft hatte. Als sich die Tür der Hütte öffnete und die Frau des Fischers heraustrat, konnte Cale nicht anders, als Jintel mit einer unwirschen Geste zum Verstummen zu bringen und das Geschehen weiter gebannt zu verfolgen.

      Als Jess die Frau erblickte, die ihm mit großen Augen entgegensah, blieb er abrupt stehen. Cale konnte sehen, wie er seinen Körper streckte, so wie er es oft tat, bevor er sich in einen Kampf stürzte, und dann entschlossen weiterging. Die Frau blickte ihn nur stumm an und trat dann einen Schritt zur Seite, um Jess Morgan an sich vorbei in das Innere der Hütte treten zu lassen.

      Sie folgte ihm, schloss die schmucklose Tür hinter sich und sperrte den enttäuschten Beobachter sanft, aber bestimmt aus dem weiteren Geschehen aus.

      *

      Jess stockte für einen Moment, als die Frau aus der Tür trat. Sie sah ihn stumm an, und er hatte den Eindruck, gegen eine verzweifelte Fülle von überwältigenden Gefühlen angehen zu müssen. Ihre Strömungen schrien ihm bereits die ganze Zeit, selbst über die Entfernung zwischen Hütte und Schiff, entgegen. Aus der unmittelbaren Nähe schnürten sie ihm den Atem ab und bedrängten ihn auf eine Weise, die ihm unheimlich war. Doch die Frau sagte kein Wort. Diesmal schien sie auch nicht in Tränen ausbrechen zu wollen. Als er weiter auf sie zuging, wich sie ein wenig zur Seite und ließ ihn vorbei, um in das Innere der Hütte treten zu können.

      Als er an ihr vorbeigeschritten war, schloss sie leise die Tür.

      „Willkommen“, sagte sie schlicht und deutete auf einen einfachen Tisch, der in der Nähe der Feuerstelle aufgestellt war.

      Jess ließ seinen Blick durch die Hütte wandern, die überraschend geräumig und großzügig ausgestattet war. Die Feuerstelle bestand aus einem ordentlich gemauerten Kamin, in dem ein kleines Feuer unter einem Topf brannte. Sein Vater lehnte lässig mit verschränkten


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