Die Schiffe der Waidami. Klara Chilla
die Angst der Passagiere an Bord des fremden Schiffes in seinen Kopf, doch Jess schob diese Empfindungen sofort beiseite. Sie hatten keinen Nutzen für ihn. Er kannte kein Mitleid für diese Menschen. Sie kamen in die neue Welt, um Reichtümer anzuhäufen und vertrieben dabei rücksichtslos die einheimische Bevölkerung von ihrem Land. Abneigung erfüllte ihn. Erneut tauchte er mit seinem Bewusstsein bis zum muschelbewachsenen Kiel der spanischen Galeone. In wenigen Augenblicken würde das Schiff vor ihnen im Nebel auftauchen.
Jess öffnete die Augen und seine Gedanken klarten sich auf. Cale Stewart stand mit verschränkten Armen neben ihm und sah ihn erwartungsvoll an.
„Wir gehen gleich längsseits. Klar machen zum Entern.“
Cale hatte bereits ein Entermesser in der Hand und seine dunklen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, damit sie im Kampf nicht störten. Die Crew stand an der Reling. Pistolen steckten in ihren Gürteln, Enterhaken ruhten wurfbereit in ihren Händen, während ihre Augen auf die Nebelwand gerichtet waren. Als sich endlich die Umrisse des Spaniers aus den wabernden Schwaden schälten, klang ein Schrei dumpf zu ihnen herüber. Die Spanier hatten ohne Zweifel bemerkt, dass die Monsoon Treasure sie fast völlig lautlos eingeholt hatte und bereits an ihrer Backbordseite längsseits ging. Jess lächelte und gab Cale einen Wink.
Enterhaken flogen daraufhin durch die Luft und verkeilten sich tief im Schanzkleid. Die spanische Galeone wurde wie ein störrisches Tier mit kräftigen Zügen an die Treasure herangezogen. Jintel drängte mit seiner massigen Gestalt vorwärts und enterte als Erster über; dicht gefolgt von Sam, Kadmi und dem ungeduldigen Rest der Crew, deren Entermesser im milchigen Licht des Nebels matt aufblitzten.
Als sie sich den Piraten so unvermittelt gegenübersahen, wichen die Spanier erschrocken zurück, doch der wütende Befehl eines älteren Mannes ließ sie innehalten.
„Wehrt euch, ihr verlausten Affen, oder wir werden alle nicht den nächsten Tag erleben!“ Die heisere Stimme bellte die einzelnen Worte heraus und rüttelte die Männer auf. Ihre Hände schlossen sich fester um die Griffe ihrer Messer, und sie stellten sich Jintel und den anderen verzweifelt entgegen.
Jess betrachtete ungerührt die Szene. Es war nicht nötig, in den Kampf einzugreifen. Ein einziger Blick reichte aus, um zu erkennen, dass die Seeleute völlig unbedarft im Umgang mit ihren Waffen waren. Sie waren keine ernst zu nehmenden Gegner und würden sich bald schon ergeben. Trotzdem entbrannte ein kurzer Kampf. Einer der Passagiere stürmte mutig auf Cale zu und ließ dabei sein Schwert drohend durch die Luft zischen. Die schlanke Gestalt seines Freundes wich leichtfüßig den Schlägen aus und begann, den Mann zu attackieren. Unter der schnellen Abfolge von Cales Hieben brach die Gegenwehr des Mannes zusammen. Schweratmend stand er ihm gegenüber, während seine Paraden immer langsamer erfolgten. Cale wartete und ließ seinen Gegner zu Atem kommen, bevor er erneut zum Angriff überging. Jess runzelte unwillig die Stirn und wandte sich ab. Diese ehrenwerte Eigenart Cales würde ihn irgendwann in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Nicht weit von ihm sanken die ersten Seeleute auf die Planken, und Cales Gegner brach mit einem erstickten Röcheln leblos zusammen. Von einem Augenblick auf den anderen erstarb das Geräusch von aufeinanderprallenden Klingen. Der Seemann, der gerade noch zur Gegenwehr aufgerufen hatte, ließ sein Schwert sinken. Die blassen Augen in seinem von Jahren auf See gezeichneten Gesicht wirkten mutlos und trübe.
„Wir ergeben uns“, sagte er mit tonloser Stimme.
Cale, der nicht weit von dem Mann stand, nickte kurz.
„Jintel, nimm dir ein paar Leute und durchsucht das Schiff. Der Rest treibt die Gefangenen zusammen!“ Cales Ruf gellte laut und vernehmlich über das Schiff.
Jintel gab augenblicklich Dan, Bill und Rachid einen Wink, die daraufhin mit ihm unter Deck verschwanden. Der Rest der Männer trieb die Spanier auf dem Hauptdeck zusammen, die sich wie ein Haufen verängstigter Schafe aneinanderdrängten. Einige der Männer bekreuzigten sich und verfielen in wimmernde Gebete, während andere voller Furcht auf die Piraten starrten und bereits im Geiste mit ihrem Leben abgeschlossen hatten.
Als Jess über die Laufplanke auf das Schiff schlenderte, richteten sich ihre Gesichter flehend auf ihn. Beiläufig ließ er seinen Blick über die Leute wandern. Dann blieb er stehen und sah sich suchend um. Von dem Kapitän war weit und breit nichts zu entdecken, aber aus dem Heckkastell strömte mühsam unterdrückte Panik auf ihn ein. Jess schnaubte ungehalten und wandte sich an Cale, der unmittelbar neben ihm stand.
„Cale, ich denke, unser spanischer Kapitän scheint noch etwas Wichtiges erledigen zu müssen. Ich werde mal nachsehen, ob ich ihm in seiner Kajüte meine Aufwartung machen kann.“
„Aye, Captain.“ Cale nickte zustimmend und gab Finnegan einen Wink, der sofort zu Jess aufschloss.
*
Capitan Juan Ramirez y Conzellon war in seine Kajüte geflüchtet, als die ersten Piraten das Schiff enterten. Er musste die Derroterro, die Sammlung der spanischen Seekarten, über Bord werfen. Die Seekarten enthielten detaillierte Angaben über die spanische Silberflotte und wann diese aus den Kolonien nach Spanien zurückkehren würden. Die Derroterro war für alle Piraten eine heiß begehrte Beute und durfte diesem elenden Pack nicht in die Hände fallen.
Der Capitan schlug gehetzt die Tür hinter sich zu und schloss sie ab. Dann flog sein Blick zu seinem Schreibtisch. Gedämpfte Kampfgeräusche drangen an sein Ohr, und zu seiner eigenen Schande musste er sich eingestehen, dass er vor Angst zitterte. Er hatte das Schiff in dem Augenblick erkannt, als es wie ein Geisterschiff aus dem Nebel aufgetaucht war und an der Backbordseite der Nuestra Senora di Hispaniola aufschloss. Es war die gefürchtete Monsoon Treasure mit Captain Jess Morgan, der im Ruf stand, mit dem Teufel im Bund zu stehen. Er versenkte die überfallenen Schiffe stets gnadenlos mit der gesamten Besatzung, niemand überlebte ein Zusammentreffen mit ihm.
Conzellon hörte die Schreie seiner Männer und der wenigen Passagiere, die sich an Bord befanden. Die plötzliche Stille, die darauf folgte, jagte ihm einen Schauer über den Körper. Fieberhaft kramte er in einer Schublade seines Kartentisches auf der Suche nach dem Schlüssel für den Schrank, in dem er die kostbare Derroterro verwahrte. Er musste sich beeilen. Jeden Moment konnten sie vor seiner Tür erscheinen. Mit Bedauern dachte er an seine Frau und seine Kinder in Spanien, während er den Schrank aufschloss und die lederne Mappe mit zitternden Fingern an sich nahm. Er wollte auf das Fenster zueilen, als er in seiner Bewegung erstarrte. Jemand hatte gerade versucht, die Tür zu öffnen. Unendlich langsam verfolgte der Spanier mit seinen Augen die Entfernung von der Tür bis zu seiner Position und weiter zu den Fenstern, durch die fahles Licht in die Kajüte fiel. Die Luft war plötzlich unerträglich stickig. Conzellon rang schwer nach Atem und öffnete mit einer hektischen Bewegung seinen Hemdkragen. Er brauchte dringend frische Luft. Entschlossen brachte er sich mit zwei Sätzen an das Fenster, als die Tür krachend aus ihrer Verankerung gerissen wurde. Seine Hand, die gerade das Fenster hatte öffnen wollen, sackte kraftlos herab. Ein eisiges Prickeln lief über seine Kopfhaut und wanderte den Rücken hinunter. Steif drehte er sich um, als würde er von unsichtbaren Fäden gezogen. Sein Blick fiel zuerst auf eine große kantige Gestalt, die ihn finster anstarrte. Der Pirat hielt sein Schwert kampfbereit in den Händen und trat nun, ihn nicht aus den Augen lassend, zur Seite und gab den Blick auf den Eingang frei.
Hinter ihm löste sich aus dem Schatten eine schlanke Gestalt, die mit der Geschmeidigkeit eines Raubtieres in die Kajüte glitt. Conzellon schluckte schwer und presste die Lippen aufeinander. Sein verräterisches Herz raste, als könnte es so aus der Gefangenschaft seines Körpers flüchten und dadurch dem unausweichlichen Tod entkommen. Der Mann war groß und vollständig in Schwarz gekleidet. Er hatte lediglich ein blutrotes Tuch um seine Hüften geschlungen, in denen zwei edle Steinschlosspistolen und ein Entermesser steckten. Sein Hemd war bis zur Mitte lässig geöffnet und offenbarte auf seiner linken Brust eine große und detailgetreue Tätowierung eines schmal gebauten Segelschiffes. Seine weizenblonden Haare hatte der Pirat zu einem Zopf zusammengebunden. Zu des Spaniers Erstaunen hielt der Pirat keine Waffe in den Händen. Entweder erwartete er keine Gegenwehr oder wusste, dass diese angesichts der brutalen Gestalt in seiner unmittelbaren Nähe vollkommen aussichtslos war.
Conzellon prägte sich jede Einzelheit ein, während der Pirat langsam und provokant durch die Kajüte auf ihn zuschritt und dabei beiläufig den Raum betrachtete. Das feingeschnittene