Die Schiffe der Waidami. Klara Chilla
nehmen, ob er es wollte oder nicht. Er konnte nur versuchen, dass alles so geschehen würde, wie er es in seinen Visionen gesehen hatte. Bairani ahnte offensichtlich nicht, welche Rolle Lanea dabei spielen würde … Allerdings machte ihm die Intensität der Visionen, die Torek empfing, Sorgen. Der Junge hatte noch mehr Visionen gehabt, doch Bairani hatte sie bewusst zurückgehalten, als würde er ahnen, dass sie für ihn noch von Wert sein konnten.
Tamaka war froh, als der Dschungel sich lichtete und die ersten Hütten zwischen den Pflanzen zu sehen waren. In der Bucht hinter dem Dorf lagen zwei Segelschiffe. Das eine war klein und wenig auffällig, da es sich auch nur um einen Handelsfahrer handelte. Ein Stück dahinter ragten die Masten der riesigen Darkness in den Himmel. Der majestätische Dreimaster von Captain Stephen Stout ließ keinen Zweifel daran, für welchen Zweck er gebaut worden war. Tod und Zerstörung lauerten zwischen jeder einzelnen Planke und hingen wie eine unausgesprochene Drohung über der trügerisch ruhigen See. Sie war bisher das größte und mächtigste Schiff der Waidami, und ihr Captain schreckte vor keiner grausamen Tat zurück.
Tamaka schauderte leicht. Die Zeit lag im Wandel, und es würde in nächster Zeit viel geschehen. Als er die Mitte des kleinen Dorfes erreichte, sah er bereits, wie fast sämtliche Bewohner dort im Kreis versammelt waren.
Im Zentrum der Gruppe konnte er Merka ausmachen. Sie war die älteste Frau, die er jemals gesehen hatte, und war schon alt gewesen, als sein eigener Vater auf die Welt gekommen war. Sie erzählte gerne die Legenden der Göttin Thethepel. Stets gelang es ihr aufs Neue, ihre Zuhörer in einen Bann zu schlagen, der es unmöglich machte, diese Geschichten nicht hören zu wollen.
Merka schien gerade mit ihren Erzählungen fertig geworden zu sein, und Tamaka entdeckte direkt neben ihrer im Laufe der Jahre verkrümmten Gestalt Lanea, die zusammen mit ihrer Freundin Tahuna mit der einzigartigen Faszination von jungen Menschen ihren Worten lauschte.
„… aber die Göttin spricht nicht mehr mit uns“, sagte die alte Frau gerade mit ihrer knarrenden Stimme. Tamaka vernahm die unterschwellige Aufforderung darin und sah sie interessiert an.
„Warum spricht sie nicht mehr?“ Seine Tochter brannte vor Neugierde, und Tahuna nickte neben ihr beifällig mit dem Kopf, sodass ihre langen schwarzen Haare aufschwangen und der Bewegung voller Lebenslust folgten.
„Sie ist verschwunden …!“ Echtes Bedauern lag in den Worten, und Merka ließ ihren Blick an den grün überwucherten Hängen des Vulkans hochwandern.
Die Umsitzenden sahen sie eine Weile schweigend an, gefangen von der plötzlich entstandenen düsteren Atmosphäre. Abwartendes Schweigen herrschte, das von Lanea unterbrochen wurde.
„Wieso ist sie verschwunden – und wohin?“
Tamaka erstarrte, als er den Ausdruck in den Augen der alten Merka sah, mit denen sie ausgiebig seine Tochter musterte. Ein Wissen lag darin, das ihn zutiefst erschreckte.
„Sie und Pa’uman sind bestraft worden.“ Ihre Worte tropften in die Stille. Nur das gleichmäßige Geräusch der Wellen, die gegen den Strand rollten, unterbrachen diese, als weigerten sie sich, sich von den Worten aufhalten zu lassen. „Der Vater Thethepels war sehr erzürnt über ihre Leichtlebigkeit. Über ihre Liebe zu Pa‘uman vergaß sie die Verantwortung, die sie übernommen hatte, als sie die Waidami erschaffen hatte. Sie kümmerte sich nicht mehr darum, was für ein Leid die Piraten, die ihr Volk aussandte, über die Menschen brachten. Thethepel sah nur noch Pa’uman, und Pa’uman richtete ebenfalls sein ganzes Dasein auf die Göttin. Da beschloss ihr Vater Mako’un, sie zu bestrafen, und raubte ihnen ihre unsterblichen Seelen …“ Merka machte eine Pause, und ihre Worte hingen in all ihrer Unvollständigkeit wie eine Wolke über den Köpfen der Zuhörer. „Niemand weiß genau, wo sie jetzt sind, und ob sie je wiederkehren werden.“
Die Stille war ungebrochen. Tamaka konnte seinen Blick nicht von der alten Merka wenden, die ihrerseits Lanea anstarrte. Doch plötzlich richteten sich ihre Augen gezielt auf Tamaka und durchbohrten ihn mit den feinen Nadelspitzen der Weisheit.
Der Seher versuchte, gelassen dem Blick standzuhalten, doch innerlich brodelte er. Erleichtert verlief sich seine Erregung, als sie ihren Blick wieder von ihm löste und dann lächelnd über die Runde gleiten ließ. Mit dem Lächeln wurde der Bann aufgehoben. Das Leben kehrte in die Zuhörer zurück, und schnell entwickelten sich lebhafte Unterhaltungen unter den Dorfbewohnern. Tamaka beschränkte sich darauf, sein Augenmerk wieder auf seine Tochter zu richten.
Lanea kicherte unbeschwert, während Tahuna ihr etwas ins Ohr flüsterte und mit geschickten Fingern das rote Haar von seinem Zopf erlöste. Die Flut der Haare flatterte kurz auf, als Tahuna sie mit beiden Händen hochhielt und dann über die Schultern der Freundin fallen ließ, als wäre es flüssiges Feuer.
Der Anblick versetzte Tamaka einen Stich. Lanea sah aus wie das vollkommene Abbild ihrer Mutter Nahila, die nicht weit von ihr zwischen den anderen Frauen saß und sich angeregt unterhielt. Als sie seinen Blick auf sich spürte, hob sie ihr Gesicht, und Tamaka sah, wie sich ihre dunkelbraunen Augen – der einzige Unterschied zu Lanea - für einen Wimpernschlag weiteten. Von einem Augenblick auf den anderen war sie ernst geworden. Mit einer geschmeidigen Bewegung stand sie auf, glättete beiläufig ihren langen Rock und ging dann auf ihn zu. Ihre ebenfalls flammend roten Haare hatte sie locker an ihrem Hinterkopf zusammengesteckt. Tamaka stellte mit einem leichten Schaudern fest, dass sie ihm immer noch mit ihrer Erscheinung den Atem zu rauben vermochte. In ihrem Gesicht aber lag die Furcht vor dem Unausweichlichen, als sie mit fragendem Blick vor ihrem Mann stehen blieb.
Tamaka schloss für einen Moment die Augen. Das innige Gefühl für diese beiden Frauen drohte ihn zu überwältigen.
„Es ist so weit!“ Er öffnete die Augen und sah sie fest und unumwunden an.
Nahilas Blick flatterte wie ein verschreckter Vogel zu Lanea und kehrte dann zu ihm zurück. Sie zitterte, und Tamaka schloss seine Arme um sie, froh noch den Trost ihrer Nähe spüren zu können.
„Ich hatte gehofft, dass dieser Tag nie kommen würde …“ Nahila seufzte voller Schmerz und legte ihren Kopf an seine Brust.
„Ich weiß, aber es ist ihre Bestimmung – und sie muss ihr folgen.“ Tamaka sprach gepresst.
Nahila löste sich aus seinen Armen und sah traurig zu ihrer Tochter hinüber.
„Die ruhigen Jahre sind also vorüber. Wann wird sie uns verlassen?“
„Noch heute Abend wird sie an Bord der Tsunami gehen und morgen Waidami verlassen. Es ist besser, wenn sie das Dorf so schnell wie möglich verlässt.“ Er zögerte kurz, bevor er weitersprach, und sah sich unauffällig um, ob ihnen jemand zuhören konnte. „Und du auch! Bereits heute wird er damit beginnen, vermeintliche Verräter zu beseitigen. Ich werde dich von hier fortbringen und dann Lanea hinterher segeln, damit ich sie und Jess auf den richtigen Weg bringen kann.“
Nahila lächelte, obwohl sie mit den Tränen kämpfte.
„Dann werde auch ich mit den Vorbereitungen beginnen.“ Sie gab ihm einen Kuss voller Liebe und Verzweiflung, dann schlug sie den Weg zu ihrer Hütte ein.
Tamaka sah ihr nach. Das Gefühl, die Trennung von ihr nicht verkraften zu können, raubte ihm für einen schmerzvollen Augenblick den Verstand. Er atmete mehrmals tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Lanea.
Sie folgte gerade dem Blick ihrer Freundin Tahuna zu Kamun, einem jungen Krieger, dessen Aufgabe es war, die Seher zu beschützen. Er stand aufrecht und stolz zwischen den anderen jungen Männern und betrachtete voll verliebter Gutmütigkeit Tahuna. Tamaka vermutete, dass Tahuna ihrer Freundin wohl gerade eröffnet hatte, dass Kamun bei ihrem Vater vorgesprochen hatte, um sie zur Frau zu nehmen. Ronam hatte ihm davon erzählt.
Gerade fielen sich die beiden jungen Frauen wieder lachend in die Arme. Er lächelte bitter, würde doch dieser Tag für viele einen Abschied bereithalten, von dem sie noch nichts ahnten.
Tamaka straffte seine Schultern und ging dann um die Leute herum, bis er sich seiner Tochter von der Seite her näherte. Als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, bemerkte sie ihn und sah ihn voller Wärme an. Eine Hand huschte schuldbewusst zu ihren offenen Haaren, da sie wusste, wie sehr er es missbilligte,