Die Sternenschnüffler. Thomas Manderley
Kjomme kam nach vorn auf den zweiten Pilotensitz geeilt. Auch ihm tropfte bereits der kalte Schweiß von der Schläfe herab auf den Boden. Das Aufschlagen der Tropfen durchschnitt die gespenstische Ruhe wie das langsame Ticken einer Uhr und dröhnte in Olivers Ohren wie ein Dampfhammer.
Nach etwa einer, schier endlosen Minute verlor Kjomme die Nerven: „Gib Gas, Mann! Gib Gas, die kaufen uns das nicht ab! Gib Gas, los!“, aber Oliver sah einfach weiter geradeaus.
Plötzlich sagte er mit ruhiger Stimme: „Sitz gerade und guck entspannt!“ Kjomme sah zunächst mit gerunzelter Stirn zu Oliver herüber, doch dann bemerkte auch er, dass das Wachschiff langsam von rechts in sehr kurzer Distanz genau vor das Cockpitfenster flog. Es war so nah, dass man den Piloten auf der anderen Seite deutlich erkennen konnte. Kjommes Atem wurde lauter und lauter und seine Muskeln verkrampften sich. Der Pilot des Wachschiffs schaltete demonstrativ auf Kampfmodus um und so sahen Kjomme und Oliver wie die Bordkanonen langsam seitlich am Rumpf des Wachschiffs ausgefahren wurden. Der Angriffsdetektor des Steuerungscomputers schaltete sofort auf Alarm und flutete das Cockpit mit seinem penetrant piepsenden Warnsignal.
Kjomme schob seine rechte Hand Stück für Stück weiter in Richtung des Schalters für die Schutzschilde, doch Oliver zischte aus dem Mundwinkel: „Stopp, lass es, Mann. Das ist bestimmt Standardverhaltensregel bei Raumschiffkontrollen.“
Kjomme zog seine Hand ebenso langsam wieder zurück. Doch ein Blick auf den Scanner ließ Kjomme erneut zusammenzucken, denn er erkannte die Signatur eines zweiten Wachschiffs, das sich von hinten nährte. Er sah hinüber zu Oliver, doch der sagte mit ruhiger Stimme: „Hab’s schon gesehen.“, wandte dabei aber seinen Blick nicht vom Schiff gegenüber ab. Jedoch bemerkte Kjomme schnell, dass Oliver wohl gar nicht so abgeklärt war, denn der Zeigefinger seiner rechten Hand lag bereits auf dem Feuerknopf am Steuerhebel.
Oliver beobachtete jede der ständigen Auf- und Ab-, Hin- und Her-Bewegungen des Wachschiffs, mit dem dessen Pilot wohl Überlegenheit demonstrieren wollte. Er wagte es nicht einmal, zu blinzeln, und immer wieder zuckte sein rechter Zeigefinger, während sich das akustische Warnsignal des Angriffsdetektors immer tiefer in sein Nervenkostüm bohrte.
Dann plötzlich wieder eine Nachricht vom Wachschiff: „Alles klar! Genehmigt für zwei Stunden. Melden Sie sich bitte vor dem erneuten Durchflug des Netzes wieder an. Viel Spaß beim Gas geben!“ Oliver schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Das Wachschiff drehte ab und Oliver beschleunigte in den freien Raum hinaus, weg von Rawadian, weg vom Krieg.
Auch Kjomme Anspannung entlud sich: Er übergab sich direkt neben seinen Sitz. Ein leises „Sorry!“, war das Einzige, was er danach noch herausbrachte, während er wieder nach hinten ging und sich seitlich zusammengekauert auf seine Pritsche legte. Oliver zuckte nur ein kurzes Grinsen übers Gesicht, aber innerlich tanzte er vor Freude. Er war frei. Sein Blick streifte über die Steuerkonsole vor ihm: Von der Einhundert-Prozent-Leistungsanzeige der Triebwerke über die grün leuchtenden Kontrolllampen der Hilfssysteme, bis hin zum Navigationscomputer. Die Anzeige der vielen Sternensysteme und deren Entfernungen ließ Oliver aufblickten. Durch das große Cockpitfenster hindurch funkelten die Sterne der Milchstraße, deren Zahl man nicht einmal erahnen konnte. Und irgendwo da draußen war die Erde, unendlich weit weg und doch nur ein paar wenige Steuerungsbefehle und ein paar Flugstunden entfernt. Oliver konnte sich eine Glücksträne nicht verkneifen, auch wenn er wusste, dass in spätestens zwei Stunden eine Sondereinheit der Armee hinter ihm her sein würde.
Er begann sich auszumalen, was er alles anstellen könnte. Er sah sich am berühmten türkisfarbenen Strand von Sirius 7 liegen mit einem Cocktail in der Hand, oder im altehrwürdigen Spielkasino von Monte Carlo sitzen und er fühlte schon den Geschmack einer frischen, echt italienischen Pizza auf seiner Zunge, wie sie man sie nur auf der Erde finden konnte.
Ein paar Minuten später begann Oliver dann wieder mit rationaleren Denkprozessen. Er schaltete auf Überlichtgeschwindigkeit und sah zu, wie die herunterfahrenden Schutzblenden des Cockpitfensters die Aussicht auf die Sterne Stück für Stück verdeckten.
Oliver flog in Richtung Erde, obwohl er wusste, dass er dort nie ankommen würde, ohne verhaftet zu werden. Aber er änderte die Einstellung des Navigationssystems nicht.
Er war jetzt ein Flüchtiger und es war für ihn sehr schwierig, all diese Dinge, die er sich ausmalte, Realität werden zu lassen. Sobald man ihn erkennen würde, wäre Alles aus. Und so begann Oliver vor sich hin zu grübeln und sah hinab auf die rot blinkende Anzeige für die fällige Triebwerkswartung, ganz rechts auf der Steuerkonsole, aber er quittierte sie nicht. Er starrte einfach darauf und ließ die grellroten Lichter vor seinen Augen verschwimmen.
Erst nach einer knappen halben Stunde gab Oliver den Versuch auf, alle nur erdenklichen Szenarien durchzuspielen. Er ging nach hinten, wo Kjomme auf seiner Pritsche eingeschlafen war und leise vor sich hin schnarchte.
„Kjomme wach auf!“ Oliver rüttelte ihn an der Schulter: „KJOMME!“ Oliver schrie fast, aber erst ein Schlag mit der flachen Hand auf die Pritsche, direkt neben Kjommes Ohr brachte Erfolg: Kjomme saß im nächsten Augenblick senkrecht.
„Kjomme, ich hab‘ zwei Fragen: Erstens: Wohin sollen wir fliegen? Zweitens: Wie kommen wir von diesem Schiff runter? Sobald wir in den Sensorbereich eines anderen Schiffes, einer Station, einer Stadt oder was weiß ich was fliegen, wird dieses Schiff hier vermutlich als gestohlen angezeigt werden. Dann war es das!“
Kjomme sah ihn wie versteinert an.
„Ach und noch eine Frage.“, setzte Oliver fort: „Wann räumst Du Deine Mittagessen-Bier-Mischung da vorne weg? Das stinkt erbärmlich!“
„Oh, Sorry! Ich mach‘ das gleich weg.“ Kjomme hielt einen Moment inne und dachte nach: „Also, ich kenne die Gegend hier nicht so gut. Es gibt wohl keine große Station, außer der Bell-Station in der Nähe und da können wir auf keinen Fall hin. Aber da gibt es noch eine kleine Station deren Namen ich vergessen habe, aber das ist so eine alte, systemneutrale Versorgungsstation mitten im Nirgendwo. Ist mehr so ein Schmuggler- und Dealertreff. Vielleicht sollten wir dorthin fliegen und uns ein neues Schiff besorgen. Da haben wir keine großen Kontrollen zu erwarten.“
„Gute Idee!“, sagte Oliver, setzte sich schnell wieder auf den Pilotensitz und stöberte in der Datenbank des Navigationscomputers. Kjomme stand auf und ging nach hinten zum kleinen Abstellraum, um etwas Putzzeug zu suchen.
Plötzlich ging der Annäherungsalarm los. Kjomme kam nach vorne geeilt: „Komm, lass mich fliegen!“, rief er und drängelte Oliver regelrecht vom Pilotensitz. Wieder kehrte Totenstille ins Cockpit ein. Auf der taktischen Konsole erschien dann aber nur ein Frachtschiff, das wohl zufällig den Weg des Shuttles kreuzte.
„Alles klar!“ Kjomme gab Entwarnung und auch Oliver atmete durch.
„Ich hab es!“, rief Kjomme plötzlich. „Ich denke, es ist besser, wenn wir uns hier trennen. Dann ist es viel schwerer, uns zu erwischen. Ich fliege mit dem Shuttle weiter und Du nimmst eine der Rettungskapseln. Du schießt Dich zu dem Frachter rüber und erzählst denen, dass das Shuttle manövrierunfähig sei. Ich fliege dann ein bisschen seltsam, so dass es aussieht, als ob der Steuerungscomputer kaputt wäre. Was hältst Du davon?“
„Soweit ganz gut.“, antwortete Oliver und setzte sich auf den Copilotensessel: „Und Du? wohin willst Du?“
„Mach‘ Dir keine Sorgen! Ich komme schon durch. Du brauchst aber einen anderen Namen. Wie wäre es mit Oliver Lundquist? Ich finde Dich dann schon und lasse Dir ‘ne Nachricht zukommen, OK?“
Oliver sah Kjomme einen kurzen Moment mit festem Blick an, erkannte aber sofort die Entschlossenheit in seinem Gesicht: „OK!“, rief er und rannte nach hinten zu den Rettungskapseln. Aber auf halben Weg hielt er inne und schaute sich noch einmal um: „Und wenn die nach Rawadian zurückfliegen?“, fragte er in der Hoffnung, eine für ihn zufrieden stellende Antwort zu erhalten.
„Na, wollen wir es mal nicht hoffen!“, sagte Kjomme und grinste übers ganze Gesicht.
„Halt die Ohren steif, Alter!“, sagte Oliver, rannte zur Rettungskapsel, stieg ein und betätigte den Abschussmechanismus.