Schein und Schuld. Anna Katharine Green

Schein und Schuld - Anna Katharine Green


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in Verbindung stehen könne. Nach Marys Wissen hatte sie niemals einen Liebhaber besessen, noch Besuche empfangen. Als sie zum Schluß gefragt wurde, wann sie zum letztenmal Herrn Leavenworths Pistol gesehen habe, erwiderte sie, daß es ihr nur einmal zu Gesicht gekommen sei, und zwar an dem Tage, an welchem der Verstorbene es gekauft habe. Uebrigens sei Eleonore und nicht sie mit der Oberaufsicht über die Gemächer des Onkels betraut gewesen.

      Bei dieser letzten Behauptung fiel mir auf, daß Eleonore einen scharfen, prüfenden Blick auf die Sprecherin warf.

      Jetzt richtete einer der Geschworenen an die junge Dame eine Frage. »Hat Ihr Oheim jemals ein Testament aufgesetzt?«

      Sofort horchte jeder der Anwesenden auf, und auch Mary konnte ein leichtes Erröten beleidigten Stolzes nicht unterdrücken. Doch ihre Antwort war fest und ohne ein Zeichen des Gekränktseins. »Ja, mein Herr,« erwiderte sie einfach.

      »Mehr als eins?«

      »Ich habe stets nur von einem einzigen gehört.«

      »Sind Sie mit dem Wortlaut dieser letztwilligen Verfügung bekannt?«

      »Er machte aus seinen Absichten gegen niemand ein Geheimnis.«

      »Vielleicht können Sie mir dann sagen, wer von seinem Tode den größten Vorteil hat?« forschte der Geschworene, sie durch sein Augenglas betrachtend.

      Die Roheit dieser Frage war so verletzend, daß sie nicht ungeahndet bleiben durfte; es war kein Mensch im ganzen Saale, der seine Mißbilligung darüber nicht offen gezeigt hätte.

      Doch Mary Leavenworth richtete sich stolz auf, sah dem unverschämten Inquirenten ruhig ins Gesicht und beschränkte sich darauf, zu entgegnen: »Wer am meisten dadurch verliert, das will ich Ihnen sagen: es sind die beiden Kinder, die er aus Hilflosigkeit und Not rettete, die jungen Mädchen, die er mit seiner Liebe und seinem Schutz umgab, so oft ihre Unselbständigkeit der Liebe und des Schutzes bedurfte, und die, selbst als die Kindheit weit hinter ihnen lag, sich stets auf seine Leitung und seinen Rat verließen. Für sie ist sein Tod ein Verlust, mit dem verglichen alle übrigen Verluste unbedeutend sind.«

      Es war dies eine edle Antwort auf eine Frage, wie sie nur einer niedrigen Gesinnung entspringen konnte, und der Geschworene zog sich beschämt und gedemütigt zurück.

      Jetzt erhob sich ein anderes Mitglied der Jury, das einen ungleich würdigeren Eindruck machte, und fragte mit ernster, eindringlicher Stimme: »Fräulein Leavenworth, der Menschenverstand kann nun einmal nicht umhin, sich Vermutungen zu bilden und Schlüsse zu ziehen. Hegen Sie irgend einen, wenn auch unbestimmten Verdacht bezüglich der Persönlichkeit des Mörders Ihres Oheims?«

      Es war ein entsetzlicher Moment nicht nur für mich, sondern auch für eine andere Person. Würde ihr der Mut sinken, würde sie ihrem Entschluß, die Cousine zu schützen, auch trotz der Mahnung von Pflicht und Recht treu bleiben? Ich wagte nicht, es zu hoffen.

      Mary Leavenworth erhob sich, schaute dem Richter und der Jury ruhig ins Angesicht und erwiderte mit klarer und scharfer Betonung: »Nein! Ich hege keinen Verdacht, noch habe ich Grund zu einem solchen. Der Mörder meines Onkels ist mir nicht nur gänzlich unbekannt, sondern ich habe auch nicht die leiseste Ahnung davon, wer der Thäter sein mag.«

      Es war als ob eine drückende Schwüle aus dem Saal wich. Während alles aufatmete, trat Mary Leavenworth beiseite, und Eleonore wurde auf den Zeugenstand gerufen.

      Achtes Kapitel.

       Der Indizien-Beweis.

      Jetzt hatte die Spannung ihren Höhepunkt erreicht; der Schleier, welcher das schreckliche Trauerspiel in Dunkel hüllte, schien sich alsbald zu lüften, wenn nicht ganz zu heben, und ich fühlte das Verlangen, die Szene zu fliehen, den Ort zu verlassen, und nichts mehr zu erfahren.

      Nicht, daß ich eine besondere Furcht hegte, Eleonore könne sich selbst verraten; die kalte Ruhe ihres Gesichtes, die Regungslosigkeit ihrer Züge boten mir eine genügende Sicherheit gegen die Möglichkeit einer solchen Katastrophe. Wenn aber der Verdacht ihrer Cousine nicht aus Haß entsprang, sondern auf Thatsachen beruhte, wenn ihr schönes Antlitz wirklich nur eine Maske war, was sich nach den Worten ihrer Cousine und ihrem eigenen Benehmen hinterher kaum anders annehmen ließ: wie konnte ich es da über das Herz bringen, noch länger hier zu sitzen und mit anzusehen, wie die tückische Schlange der Lüge und der Sünde aus dem Kelch dieser weißen Rose hervorkroch?

      Und doch ist der Bann der Ungewißheit so mächtig, daß, obwohl die Mienen vieler der Anwesenden meine eigenen Gefühle wiederspiegelten, kein einziger aus der ganzen Versammlung die Absicht verriet, sich zu entfernen, am allerwenigsten ich.

      Der Coroner, auf welchen die Anmut Marys zu Eleonorens offenbarem Nachteil einen so guten Eindruck hervorgebracht hatte, war der einzige im ganzen Saal, der sich in diesem Moment unbewegt zeigte; er wandte sich der Zeugin mit einem Blicke zu, der zwar achtungsvoll war, aber doch etwas Strenges hatte, und begann: »Sie sind von Ihrer Kindheit an ein Mitglied der Familie Leavenworth gewesen?«

      »Von meinem zehnten Jahre an,« lautete die Antwort.

      Es war das erste Mal, daß ich ihre Stimme hörte, und es überraschte mich, daß dieselbe derjenigen ihrer Cousine so ähnlich und doch auch wieder so unähnlich klang; gleich im Ton, fehlte ihr, sozusagen, das Modulationsfähige, sie traf das Ohr ohne Vibration und verklang ohne Widerhall.

      »Seit jener Zeit sind Sie wie eine Tochter behandelt worden?«

      »Jawohl, mein Herr, wie eine Tochter; kein Vater hätte mehr für uns thun können.«

      »Sie und Fräulein Mary Leavenworth sind Cousinen, glaube ich. Wann ist letztere in die Familie eingetreten?«

      »Zu derselben Zeit als ich, unsere beiderseitigen Eltern waren Opfer des nämlichen Unglücks; hätte sich der Onkel nicht unserer angenommen, so wären wir als Kinder in eine fremde Welt geschleudert worden. Aber er –« hier hielt sie inne, und ihre feinen Lippen zitterten merklich, – »er nahm uns in der Güte seines Herzens in seine Familie auf und gab uns, was wir beide verloren hatten, – einen Vater und eine Heimat.«

      »Sie sagen, er sei Ihnen sowohl als auch Ihrer Cousine ein Vater gewesen, er habe Sie beide adoptiert; wollen Sie damit andeuten, daß er Sie nicht nur mit dem gegenwärtigen Luxus umgab, sondern daß er Ihnen dasselbe auch für die Zukunft in Aussicht stellte, mit einem Wort, daß er beabsichtigte, Ihnen einen Teil seines Vermögens zu hinterlassen?«

      »Nein, mein Herr! Er gab mir von Anfang an zu verstehen, daß sein Besitztum dereinst auf meine Cousine übergehen würde.«

      »Ihre Cousine war ihm nicht näher verwandt als Sie selbst, Fräulein Leavenworth. Hat er nicht einmal einen Grund für diese Parteilichkeit angegeben?«

      »Nur seine Vorliebe, mein Herr.«

      Ihre Antworten über diesen Punkt waren so kurz und befriedigend gewesen, daß an Stelle der unbehaglichen Zweifel, welche von Anfang an den Namen und die Person dieses Mädchens umschwebt hatten, ein allmählich wachsendes Zutrauen trat. Bei dieser Aussage zumal, die mit so ruhiger leidenschaftsloser Stimme abgegeben wurde, fühlte die Jury sowohl wie ich, der ich doch mehr Grund zum Argwohn hatte, daß der bisher gehegte Verdacht bei einem so gänzlichen Fehlen eines Motives zur That, wie jene Aeußerung bekundete, sehr stark erschüttert werden mußte.

      Mittlerweile fuhr der Coroner fort: »Wenn Ihr Oheim alles das für Sie that, was Sie mir erzählt haben, so empfanden Sie wohl eine große Zuneigung zu ihm?«

      »Jawohl,« entgegnete sie, und um ihren Mund lagerte sich ein Zug großer Entschiedenheit.

      »Sein Tod muß also ein schwerer Schlag für Sie sein?«

      »So ist es.«

      »Schwer genug, um Sie beim ersten Anblick der Leiche in Ohnmacht sinken zu lassen.«

      Eleonore nickte stumm mit dem Kopf.

      »Und doch schienen Sie darauf gefaßt zu sein.«

      »Gefaßt?«


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