Schein und Schuld. Anna Katharine Green

Schein und Schuld - Anna Katharine Green


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Kerze nahm, so muß dieselbe doch irgendwo im Hause liegen geblieben sein; hat jemand eine solche gefunden?«

      »Ich erinnere mich nicht.«

      »Ist es diese?« rief eine Stimme über meine Schultern hinweg.

      Es war Gryce, der eine halbverbrannte Paraffin-Kerze emporhielt.

      »Gewiß; aber mein Gott, wo haben Sie den Stumpf gefunden?«

      »Auf dem Rasen des Hofes, auf dem halben Wege von der Küche nach der Straße,« antwortete er ruhig.

      Unter den Anwesenden entstand eine allgemeine Aufregung. Endlich hatte man doch eine Spur, etwas, das jenen geheimnisvollen Mord mit der Außenwelt zu verbinden schien. Sofort wurde die Hinterthür der Hauptgegenstand des Interesses; die im Hof aufgefundene Kerze lieferte den Beweis, daß Hannah, bald nachdem sie aus dem Zimmer gegangen, das Haus verlassen haben mußte, und zwar durch die Hinterthür, welche nur wenige Schritte von dem auf die Querstraße gehenden Eisengitter entfernt war.

      Als Thomas indessen wieder aufgerufen ward, wiederholte er seine Versicherung, daß nicht nur die Hinterthür, sondern auch alle unteren Fenster des Hauses, als er sie um 6 Uhr des Morgens besichtigt habe, fest verschlossen gewesen seien. Hieraus ergab sich der zwingende Schluß, daß jemand sie hinter dem Mädchen zugemacht und verriegelt hatte.

      Wer war aber dieser Jemand? das drängte sich jetzt als ernste, brennende Frage in den Vordergrund.

      Fünftes Kapitel.

       Die Aussage des Sachverständigen.

      Inmitten der allgemeinen Spannung, welche sich der Anwesenden bemächtigt hatte, erklang der helle Ton der Hausglocke. Sofort richteten sich aller Augen auf die Thür, diese öffnete sich langsam, und der Polizist, der vor etwa einer Stunde in so geheimnisvoller Weise vom Coroner fortgesandt worden war, trat in Begleitung eines jungen Mannes ein, dessen schlanke Gestalt, intelligentes Auge und Vertrauen erweckendes Aussehen ihn als das erscheinen ließen, was er auch in der That war, den Vertrauensmann und Sachverständigen eines bedeutenden kaufmännischen Geschäftes.

      Ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit, obwohl jedes Auge im Saal mit lebhafter Neugierde auf ihn geheftet war, trat er auf den Coroner zu und machte ihm eine leichte Verbeugung. »Sie haben nach Bohn und Comp. geschickt, mein Herr,« begann er.

      Sofort gab sich unter den Versammelten eine starke Aufregung kund; Bohn und Comp. war ein wohlbekanntes Pistolen- und Munitionsgeschäft am Broadway.

      »Jawohl, mein Herr,« antwortete der Coroner; »hier ist eine Kugel, die wir gern von Ihnen untersucht haben möchten. Sie sind mit allem, was Ihr Warenlager betrifft, vollständig bekannt?«

      Der junge Mann warf ihm nur einen bedeutsamen Blick zu, nahm die ihm dargereichte Kugel und wog sie nachlässig in der Hand.

      »Können Sie uns wohl sagen, welcher Fabrik das Pistol entstammt, aus dem jene Kugel abgeschossen worden ist?«

      Der junge Mann rollte das Geschoß langsam zwischen Daumen und Zeigefinger und legte es dann wieder auf den Tisch. »Es ist eine Kugel Nummer 30,« erklärte er, »und wird gewöhnlich mit dem kleinen Revolver zusammen in der Fabrik von Smith und Wesson verkauft.«

      »Ein kleiner Revolver!« erwiderte der Hausmeister, von seinem Sitz aufspringend; »der Herr pflegt in seinem Bureau ein kleines Pistol aufzubewahren; ich habe es oft genug gesehen, und wir alle kennen es.«

      Wieder entstand eine allgemeine Aufregung, besonders unter dem Dienstpersonal. »So ist es!« hörte ich eine Stimme rufen, »ich hab' es selbst einmal gesehen, als der Herr es reinigte.« Es war die Köchin, welche diese Worte sprach.

      »In seinem Bureau?« fragte der Coroner.

      »Jawohl, am Kopfende seines Bettes.«

      Sogleich wurde ein Polizist zur Untersuchung des Bureaus abgeschickt. Nach wenigen Minuten kehrte er mit einem kleinen Revolver zurück, den er auf den Tisch des Coroners niederlegte.

      Sofort war jedermann auf den Füßen, um die Schußwaffe zu betrachten; doch der Coroner überreichte dieselbe dem Sachverständigen mit der Frage, ob der Revolver aus der von ihm bezeichnten Fabrik stamme.

      »Gewiß, er ist von Smith und Wesson!« antwortete dieser ohne Zögern, »Sie können sich selbst davon überzeugen.«

      »Wo fanden Sie den Revolver?« fragte der Coroner den Polizisten.

      »In der obersten Schublade eines Toilettentisches am Kopfende von Herrn Leavenworths Bett; der Revolver lag in einem mit Sammet ausgeschlagenen Kasten zugleich mit einer Schachtel Patronen, von denen ich hier eine Probe mitgebracht habe,« erwiderte der Mann und legte die letztere neben die Kugel.

      »War das Schubfach verschlossen?«

      »Jawohl; aber den Schlüssel hatte man nicht herausgezogen.«

      Die Spannung erreichte jetzt ihren Höhepunkt, und von allen Lippen erklang es durch das Gemach: »Ist der Revolver geladen?«

      Der Coroner runzelte die Stirn und bemerkte mit Würde: »Ich selbst wollte diese Frage thun; aber zuvörderst muß ich dringend um Ruhe bitten.«

      Sogleich trat eine allgemeine Stille ein, jedermann interessierte sich zu sehr für die Frage, als daß er seine Neugier nicht so bald als möglich hätte befriedigen wollen.

      »Nun, mein Herr,« rief der Coroner.

      Der Sachverständige nahm den Cylinder heraus und hielt ihn empor. »Die Waffe hat sieben Kammern und alle sind geladen,« versetzte er.

      Ein Murmeln der Enttäuschung folgte dieser Versicherung.

      »Aber,« fügte der junge Mann nach kurzer Prüfung des Cylinders hinzu, »nicht alle sind gleich lange geladen gewesen. Eine Kugel ist vor kurzem aus einer der Kammern abgeschossen worden.«

      »Woher wissen Sie das?« fragte einer der Geschworenen.

      »Woher ich das weiß?« entgegnete er, »wollen Sie die Güte haben, den Zustand des Revolvers zu untersuchen,« fügte er hinzu, indem er jenem Herrn die Waffe übergab. »Blicken Sie zuerst in den Lauf, er ist rein und glänzend, und Sie finden keine Spur davon, daß ihn vor kurzem eine Kugel durchflogen hätte; das kommt aber daher, weil er seitdem gereinigt worden ist. Nun prüfen Sie jedoch den Cylinder. Was sehen Sie dort?«

      »Ich bemerke einen schwachen Schmutzstreifen an einer der Kammern.«

      »Jener schwache Schmutzstreifen am Rande einer der Kammern ist das verräterische Zeichen, meine Herren; eine abgeschossene Kugel läßt immer etwas Schmutz hinter sich zurück. Derjenige, welcher aus diesem Rohr gefeuert hat, wußte das; er reinigte den Lauf, vergaß aber den Cylinder.« Nach diesen Worten trat der junge Mann zur Seite und kreuzte die Arme.

      »Der Tausend!« ließ sich eine derbe, kräftige Stimme vernehmen, »das ist wirklich wunderbar!« Sie gehörte einem Landmann an, der soeben von der Straße her eingetreten war und staunend in der Thür stand.

      Es war eine ungeschickte, aber nicht unwillkommene Unterbrechung; ein flüsterndes Lachen ging durch den Saal, und jedermann schien freier zu atmen.

      Nachdem die Ruhe wieder hergestellt war, wurde der Polizist aufgefordert, die Stellung des Toilettentisches und seine Entfernung vom Tisch im Bibliothekzimmer genau anzugeben.

      »Der Bibliothektisch steht in dem einen Zimmer, der Toilettentisch in einem andern. Um ersteres von letzterem aus zu erreichen, wäre man gezwungen, Herrn Leavenworths Schlafgemach in diagonaler Richtung zu durchschreiten, dann durch den Korridor, welcher die beiden Stuben trennt, zu gehen, und –«

      »Warten Sie einen Augenblick. Wie steht dieser Tisch zu der Thür, die vom Schlafzimmer in die Halle führt?«

      »Man könnte durch jene Thür gehen, direkt um das Fußende des Bettes auf den Toilettentisch zuschreiten, sich in den Besitz des Revolvers setzen und die Hälfte des Weges bis zum Gange zurücklegen, ohne von einer Person gesehen zu werden, die im Bibliothekzimmer


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