Schein und Schuld. Anna Katharine Green
es war eines jener Alltagsgesichter mit glatt gestrichenem, sorgfältig gepflegtem, dunklem Haar und Backenbart; nur war über sein ganzes Wesen eine gewisse Düsterheit ausgegossen, wie sie einem Manne eigen ist, der in seiner ganzen Vergangenheit mehr Kummer als Freude, mehr Entbehrungen als Wohlleben erfahren hat.
Ohne sich weiter bei der Musterung der äußeren Erscheinung des Sekretärs aufzuhalten, begann der Coroner sein Verhör. »Ihr Name?«
»James Trueman Harwell.«
»Ihr Geschäft?«
»Ich habe bei Herrn Leavenworth während der letzten acht Monate das Amt eines Privat-Sekretärs bekleidet.«
»Sie sind der letzte gewesen, der den Ermordeten noch am Leben gesehen hat?«
Der junge Mann erhob den Kopf mit einer hochmütigen Bewegung. »Keineswegs!« antwortete er, »bin ich doch nicht der Mann, der ihn getötet hat.«
Diese Entgegnung, welche eine Untersuchung, deren hohen Ernst wir alle begriffen, wie eine Posse behandelte, erschien der Versammlung so anstößig, angesichts der bereits enthüllten und noch zu enthüllenden Thatsachen, daß sich die anfänglich günstige Gesinnung gegen diesen Mann in ihr Gegenteil verkehrte. Ein Gemurmel der Mißbilligung lief durch den Saal, und durch diese eine Bemerkung verlor James Harwell alles, was er vorher durch sein sicheres Auftreten gewonnen hatte. Er schien das auch selbst einzusehen; denn er reckte den Kopf noch höher.
»Ich meinte,« rief der Coroner, den es offenbar empört hatte, daß der junge Mann ihm eine solche Erwiderung geben konnte, »Sie seien der letzte gewesen, der Herrn Leavenworth vor seiner Ermordung durch eine bis jetzt unbekannte Persönlichkeit gesehen hat.«
Der Sekretär kreuzte die Arme über die Brust. Ich vermochte nicht zu unterscheiden, ob er damit ein Zittern, das ihn ergriffen hatte, verbergen oder nur einen Augenblick zur Ueberlegung gewinnen wollte.
»Mein Herr,« entgegnete er endlich, »ich kann Ihnen darauf keine ganz bestimmte Antwort geben. Aller Wahrscheinlichkeit nach war ich der letzte, der ihn lebend gesehen hat; aber in einem so großen Hause, wie dieses ist, kann ich nicht einmal solche einfache Thatsache mit voller Ueberzeugung behaupten.« Als er nach diesen Worten die unbefriedigten Mienen der Anwesenden bemerkte, fügte er langsam hinzu: »Meine Stellung brachte es mit sich, daß ich ihn noch zu später Stunde sah.«
»Ihre Stellung als Sekretär, nicht wahr?«
Der Gefragte nickte ernst mit dem Haupte.
»Herr Harwell,« fuhr der Coroner fort, »das Amt eines Privat-Sekretärs ist kein begrenztes; wollen Sie uns auseinandersetzen, welches Ihre Pflichten in dieser Eigenschaft waren, – kurz, wie Herr Leavenworth Sie beschäftigte?«
»Sehr gern. Der Verstorbene besaß, wie Ihnen wohl bekannt sein wird, großen Reichtum; da er mit vielen Gesellschaften, Klubs und Instituten in Verbindung stand, da er ferner weit und breit den Ruf eines freigebigen und wohlthätigen Mannes genoß, so empfing er täglich zahlreiche Briefe und Bittschriften, die ich öffnen und beantworten mußte. Seine Privat-Korrespondenz war stets mit einem Zeichen versehen, welches sie von den übrigen unterschied.
»Das war indes nicht alles, was mir zu thun oblag. Da mein Chef früher den Theehandel betrieben und aus diesem Grunde mehrere Reisen nach China gemacht hatte, so interessierte er sich sehr für die Verkehrsfrage zwischen jenem Lande und dem unsrigen. Um den Amerikanern ein besseres Verständnis des chinesischen Volkes, seiner Eigentümlichkeiten und des vorteilhaftesten Handelsbetriebes mit dem Reich der Mitte beizubringen, war er seit einiger Zeit beschäftigt, ein Buch über diesen Gegenstand zu schreiben. Bei der Abfassung dieses Buches leistete ich ihm insofern Beistand, als ich täglich drei Stunden lang nach seinem Diktat schrieb. Die letzte Stunde war von halb zehn bis halb elf des Abends angesetzt. Herr Leavenworth war ein sehr methodischer Mann, der sein Leben und das seiner Umgebung mit fast mathematischer Genauigkeit einhielt.«
»Sie sagten, daß Sie allabendlich nach seinem Diktat geschrieben hätten, – thaten Sie das auch am verflossenen Abend?«
»Wie gewöhnlich.«
»Was können Sie uns von seinem Aussehen und Benehmen während jener Zeit erzählen, war es in irgend einer Weise auffallend?«
Des Sekretärs Stirn runzelte sich. »Da er wahrscheinlich keine Vorahnung seines Todes hatte, wie hätte da in seinem Benehmen eine Aenderung eintreten können?«
Der Coroner ergriff die Gelegenheit, sich für das Betragen des Zeugen von vorhin schadlos zu halten, und sagte in strengem Ton: »Es ist Sache des Zeugen, Fragen zu beantworten, aber nicht solche zu stellen.«
Der Sekretär errötete vor Aerger, und die Rechnung war ausgeglichen.
»Sehr wohl. Also, wenn Herr Leavenworth irgendwelche Todesahnungen fühlte, so hat er sie mir nicht offenbart, im Gegenteil schien er mehr als sonst in seine Arbeit vertieft zu sein. Eines seiner letzten Worte, die er zu mir sprach, war: »Bevor ein Monat vergangen ist, werden wir das Buch in der Presse haben, nicht wahr, James?« Ich erinnerte mich gerade dieser Einzelheit, weil er dabei sein Weinglas füllte; er trank regelmäßig ein Glas Wein, ehe er sich in sein Schlafgemach zurückzog. Ich hatte soeben die Hand auf der Thürklinke und antwortete auf seine Bemerkung: »Ich hoffe es auch, Herr Leavenworth.« »Dann lassen Sie uns darauf anstoßen,« sagte er und schenkte mir ein. Ich trank mein Glas auf einen Zug ans, wogegen Herr Leavenworth das seinige nur halb leerte. Es war noch halb voll, als wir ihn heute morgen tot fanden.«
Die Schilderung dieses letzten Auftritts mußte James doch in hohem Grade erregt haben, denn er zog sein Taschentuch hervor und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn. »Das ist das letzte, was ich den Verstorbenen thun sah; denn als er das Glas niedersetzte, wünschte ich ihm ›Gute Nacht‹ und verließ das Zimmer.«
Der Coroner blieb der Erregtheit des jungen Mannes gegenüber durchaus gleichgültig; er lehnte sich auf seinen Sitz zurück und maß den Zeugen mit prüfendem Blick. »Und wohin verfügten Sie sich dann?« fragte er.
»Auf mein Zimmer.«
»Sind Sie unterwegs niemandem begegnet?«
»Keinem Menschen.«
»Hörten oder sahen Sie nicht etwas Ungewöhnliches?«
Des Sekretärs Stimme sank ein wenig, als er antwortete: »Nein, mein Herr.«
»Besinnen Sie sich noch einmal, Herr Harwell; können Sie es mit gutem Gewissen beschwören, daß Sie weder jemand trafen, noch etwas Auffälliges hörten oder sahen?«
Das Gesicht des Zeugen wurde ängstlich, zweimal öffnete er die Lippen, um zu sprechen, und ebenso oft schloß er sie wieder, um zu schweigen. Endlich entgegnete er mit Anstrengung: »Allerdings bemerkte ich etwas, das zu unbedeutend schien, um erwähnt zu werden; aber außergewöhnlich war es, und ich mußte unwillkürlich daran denken, als Sie mich zum Nachsinnen aufforderten.«
»Was war es?«
»Eine Thür stand halb offen.«
»Wessen Thür?«
»Fräulein Eleonore Leavenworths.« Die Stimme des Sekretärs war bei dieser Antwort fast nur ein Flüstern.
»Wo befanden Sie sich, als Sie das gewahrten?«
»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen; wahrscheinlich an meiner eigenen Thür, da ich mich nicht entsinne, unterwegs stehen geblieben zu sein. Wäre das gräßliche Ereignis nicht eingetreten, so würde ich an einen so geringfügigen Umstand überhaupt nicht wieder gedacht haben.«
»Schlossen Sie beim Betreten Ihres Zimmers die Thür ab?«
»Gewiß, mein Herr.«
»Wann gingen Sie zu Bett?«
»Sofort.«
»Hörten Sie gar nichts, bevor Sie einschliefen?«
Wieder jenes unerklärliche Zögern. »Wirklich gar nichts,« sagte er endlich.
»Vernahmen Sie keinen Fußtritt auf dem Korridor?«