Schein und Schuld. Anna Katharine Green
Vision nicht sehen. »Hannah hätte so etwas niemals thun können.«
Doch Gryce legte seine schwere Hand auf die Frau und drückte sie auf ihren Sitz zurück, sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit zugleich tadelnd und beruhigend.
»Ich bitte um Verzeihung,« entschuldigte sich die Köchin den Anwesenden gegenüber; »aber Hannah hat das ganz gewiß nicht gethan, – ganz gewiß nicht!«
Nachdem der Gehilfe aus der Bohnschen Waffenhandlung entlassen worden war, nahmen die Versammelten die Gelegenheit wahr, ihre Plätze und Stellungen ein wenig zu wechseln, dann wurde Harwell wieder aufgerufen. Derselbe erhob sich mit offenbarem Widerstreben; die soeben erfolgte Aussage mußte entweder seine Ansicht von dem Verbrechen geändert oder einen ihm unangenehmen Verdacht bestätigt haben.
»Herr Harwell,« hob der Coroner an, »man hat uns von dem Vorhandensein eines, Herrn Leavenworth gehörigen Revolvers erzählt, und als wir darnach suchten, haben wir ihn in seinem Zimmer entdeckt; wußten Sie etwas von dem Besitz dieser Waffe?«
»Gewiß.«
»War diese Thatsache im Hause allgemein bekannt?«
»Es scheint so.«
»Wie kommt das? Hatte der Verstorbene die Angewohnheit, den Revolver umherliegen zu lassen, daß jedermann die Waffe sehen konnte?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen; ich vermag Ihnen nur mitzuteilen, auf welche Weise ich selbst davon Kenntnis erhielt.«
»Gut, so erzählen Sie.«
»Wir hatten einst ein Gespräch über Feuerwaffen. Ich verstehe etwas davon und habe immer ein Taschenpistol bei mir geführt; als ich dies meinem Prinzipal gegenüber äußerte, stand er auf, holte das seinige aus dem Schubfach und zeigte es mir.«
»Wie lange ist das her?«
»Einige Monate.«
»Er besaß das Pistol also längere Zeit?«
»Jawohl!«
»War dies die einzige Gelegenheit, bei der Sie die Waffe gesehen haben?«
»Nein,« antwortete der Sekretär zögernd, »ich habe sie seitdem noch einmal gesehen.«
»Wann?«
»Vor etwa drei Wochen.«
»Unter welchen Umständen?«
Der Sekretär ließ den Kopf sinken, und ein seltsamer Ausdruck machte sich plötzlich auf seinem Gesicht bemerkbar; er preßte die Hände zusammen, indem er dem Coroner fest ins Antlitz schaute, und sein halb geschlossener Blick hatte etwas wie eine Bitte. »Meine Herren,« fragte er nach kurzem Zaudern, »wollen Sie mir nicht die Antwort hierauf erlassen?«
»Es ist unmöglich,« versetzte der Coroner.
Harwells Miene wurde noch blasser und flehender. »Ich muß den Namen einer Dame nennen,« sagte er stockend.
»Wir sind sehr gespannt darauf,« erwiderte der Coroner.
Der junge Mann richtete sich entschlossen auf und rief: »Fräulein Eleonore Leavenworth!«
Bei diesem auf solche Weise ausgestoßenen Namen zuckte jedermann zusammen, nur Gryce nicht, der ruhig seine Fingerspitzen mit einander berührte, als ginge ihn die ganze Sache gar nichts an.
»Sicherlich ist es gegen die Regeln des Anstandes und der Achtung, welche wir alle für jene Dame empfinden, wenn wir ihren Namen in diese Verhandlung hineinziehen,« fuhr Harwell eifrig fort; als aber der Coroner darauf bestand, daß er seine Aussage vervollständige, kreuzte er die Arme, – was bei ihm das Zeichen eines endgültigen Entschlusses zu sein schien, – und begann in leisem gezwungenem Ton: »Es ist weiter nichts als dies, meine Herren: Vor drei Wochen hatte ich eines Nachmittags Gelegenheit, zu ungewöhnlicher Stunde das Bibliothekzimmer zu betreten. Als ich von dem Kaminsims mir ein Federmesser nehmen wollte, das ich aus Vergeßlichkeit am Morgen dort hatte liegen lassen, vernahm ich in dem anstoßenden Gemach ein Geräusch. Da ich wußte, daß Herr Leavenworth nicht zu Hause war, und glaubte, die Damen seien mit ihm gegangen, nahm ich mir die Freiheit, einmal nachzuschauen, und erblickte zu meinem Erstaunen Fräulein Eleonore neben dem Bette ihres Onkels, diesen Revolver in der Hand haltend. Bestürzt über meinen Vorwitz, wollte ich mich unbemerkt zurückziehen; als ich jedoch den Fuß auf die Thürschwelle setzte, wandte sich die Dame um, bemerkte mich und rief mich bei Namen. Ich trat auf sie zu, und sie bat mich, ihr den Revolver zu erklären. Um dies zu thun, meine Herren, war ich genötigt, die Waffe in die Hand zu nehmen, und das war die zweite und letzte Gelegenheit, bei welcher ich Herrn Leavenworths Revolver sah und berührte.« Nach diesen Worten ließ der Zeuge das Haupt sinken und wartete in unbeschreiblicher Aufregung auf die nächste Frage.
»Sie bat Sie, ihr die Waffe zu erklären; was wollte sie damit sagen?«
»Ich meine,« entgegnete er zögernd und sich mühsam zu anscheinender Ruhe zwingend, »wie man sie laden, wie man zielen und abfeuern müsse.«
Ein Schein wie das Aufleuchten eines plötzlichen Blitzes zuckte über die Gesichter aller Anwesenden, selbst der Coroner verriet Zeichen der Bewegung und starrte auf die gebeugte Gestalt und das blasse Antlitz des vor ihm stehenden Mannes mit einem eigentümlichen Blick bestürzten Mitleids, der seine Wirkung nicht verfehlen konnte, weder auf den jungen Mann selbst, noch auf alle, die ihn sahen.
»Herr Harwell,« fragte er endlich, »haben Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzuzufügen?«
Der Sekretär schüttelte traurig den Kopf.
»Gryce,« flüsterte ich, indem ich ihn beim Arm ergriff und zu mir niederzog, »versichern Sie mir, ich bitte Sie darum,« – aber er ließ mich nicht ausreden. »Der Coroner ist im Begriff, die jungen Damen vorzuladen,« unterbrach er mich schnell, »wenn Sie Ihre Pflicht gegen dieselben erfüllen wollen, so halten Sie sich bereit; – das ist alles.«
Meine Pflicht erfüllen! Diese einfachen Worte brachten mich schnell zur Besinnung. Woran hatte ich nur in aller Welt gedacht? Sofort schwand vor meinen Augen die Gegenwart mit ihrem Zweifel und ihrem Entsetzen wie ein düsterer Schleier, und ich sah nur das rührende Bild der lieblichen Nichten, die sich in tiefem Schmerz zu den irdischen Ueberresten desjenigen hinabbeugten, der ihnen so teuer wie ein Vater gewesen war.
Als darauf nach Eleonore und Mary Leavenworth verlangt wurde, trat ich vor, erklärte, daß ich als Freund der Familie, – eine Lüge, die man mir hoffentlich verzeihen wird, – um die Erlaubnis bitten möchte, die jungen Damen aufsuchen und sie herunterbegleiten zu dürfen.
Sofort richteten sich ein Dutzend Augen auf mich, und ich fühlte eine Verlegenheit wie sie jemand überkommt, der durch eine unerwartete Aeußerung oder Handlung die Aufmerksamkeit einer ganzen Versammlung auf sich gelenkt hat.
Mein Wunsch wurde indessen ohne weiteres gewährt; eine Sekunde später befand ich mich, vor Aufregung glühend und mit klopfendem Herzen, in der Halle, während mir Gryces Worte in die Ohren klangen: »Dritte Etage, Hinterzimmer, erste Thür am Kopf der Treppe; die jungen Damen erwarten Sie.«
Sechstes Kapitel.
Streiflichter.
Ich stieg die erste Treppe empor und schauderte beim Anblick der Wand des Bibliothekzimmers, die mir über und über mit rätselhaften Zeichen beschrieben schien; dann ging ich langsam weiter hinauf und dachte während dessen über so manches nach, ganz besonders über eine Warnung meiner Mutter, die sie mir vor langer Zeit gegeben hatte: »Mein Sohn, denke daran, daß eine Frau mit einem Geheimnis auf dem Herzen wohl ein sehr anziehendes Studium sein mag; aber eine getreue, eine befriedigende Lebensgefährtin kann sie niemals werden.«
Ohne Zweifel war dies ein sehr weiser Ausspruch, paßte jedoch gar nicht auf die augenblicklichen Verhältnisse; denn ich hegte ganz gewiß nicht die Absicht, mich für eine jener beiden Frauen zu interessieren. Aber trotz aller Anstrengung, den Gedanken an die mütterliche Warnung zu verscheuchen, verfolgte mich dieselbe, bis ich vor der Thüre stand, die mir bezeichnet worden war.
Ich