Schein und Schuld. Anna Katharine Green

Schein und Schuld - Anna Katharine Green


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schien ihr am Gaumen zu kleben; sie war kaum im stande zu sprechen.

      »Als Sie aus dem Bibliothekzimmer zurückkehrten, sollen Sie sehr blaß gewesen sein.«

      Begann sie es zu ahnen, daß in dem Geiste des Mannes, der sie mit solchen Fragen angriff, ein Zweifel über sie oder gar ein wirklicher Verdacht bestand? So aufgeregt hatte ich sie seit jenem denkwürdigen Moment im oberen Zimmer nicht gesehen; doch ihr Mißtrauen, wenn sie überhaupt ein derartiges Gefühl hegte, konnte von keiner langen Dauer sein. Mit sichtbarer Anstrengung beherrschte sie sich und antwortete mit ruhiger Handbewegung: »Das ist nichts Auffallendes, mein Oheim war ein sehr methodischer Mann, die geringste Veränderung in seinen Gewohnheiten würde bei uns sicherlich Befürchtungen hervorgerufen haben.«

      »Sie waren also beunruhigt?«

      »Bis zu einem gewissen Grade – ja.«

      »Wer hat die Oberaufsicht über die Gemächer Ihres Onkels, Fräulein Leavenworth?«

      »Ich, mein Herr.«

      »Dann kennen Sie auch ohne Zweifel einen gewissen Toilettentisch, der in seinem Schlafzimmer steht und ein Schubfach enthält?«

      »Gewiß.«

      »Wie lange ist es her, daß Sie an jenes Schubfach gegangen sind?«

      »Gestern.« Sie zitterte merklich bei diesem Geständnis.

      »Um welche Zeit?«

      »Um die Mittagsstunde – soviel ich weiß.«

      »Lag der Revolver, welchen er besaß, zu jener Zeit an seiner gewohnten Stelle?«

      »Ich glaube wohl, beachtet habe ich es nicht.«

      »Drehten Sie den Schlüssel um, als Sie das Schubfach öffneten?«

      »Jawohl.«

      »Zogen Sie den Schlüssel heraus?«

      »Nein, mein Herr.«

      »Fräulein Leavenworth, der Revolver, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben werden, liegt vor Ihnen auf dem Tisch; wollen Sie ihn gefälligst einmal ansehen?« Er nahm die Waffe auf und reichte sie ihr hin.

      Wenn er die Absicht gehegt hatte, sie durch diese plötzliche Aufforderung zu erschrecken, so hatte er seinen Zweck vollkommen erreicht. Beim ersten Anblick der mörderischen Waffe schrak sie zurück, und ein entsetzter, aber schnell unterdrückter Aufschrei entfuhr ihren Lippen. »O nein! nein!« stöhnte sie, mit den Händen abwehrend.

      »Ich muß darauf bestehen, daß Sie sich den Revolver ansehen, Fräulein Leavenworth,« beharrte der Coroner; »als man ihn fand, waren alle Kammern geladen.«

      Sofort wich der Ausdruck des Schreckens von ihrem Antlitz. »O dann –« Sie sprach nicht weiter, sondern streckte die Hand nach der Waffe aus.

      Der Coroner jedoch, sie fest ansehend, fuhr fort: »Trotzdem ist vor kurzer Zeit aus demselben gefeuert worden. Die Hand, welche den Lauf reinigte, vergaß die Patronenkammer, Fräulein Leavenworth.«

      Sie schrak nicht wieder zurück; aber ein hoffnungs- und hilfloser Ausdruck legte sich über ihr Antlitz, und sie schien dem Umsinken nahe. Doch schnell kam die Reaktion, und sie erhob das Haupt mit einer Kraftanstrengung, wie ich sie noch niemals bei einem Weibe beobachtet hatte; dann rief sie aus: »Nun – und was soll das?«

      Der Coroner legte den Revolver hin; Männer und Frauen schauten einander an, und alles schien vor dem zu bangen, was jetzt folgen würde.

      Ich hörte einen zitternden Seufzer an meiner Seite, und als ich mich umwandte, sah ich, wie Mary mit heißem Erröten nach ihrer Cousine hinstarrte, als würde sie sich jetzt erst der Thatsache bewußt, daß außer ihr noch andere fühlten, wie ein gewisses Etwas Eleonore umschwebte.

      Endlich fand der Coroner den Mut fortzufahren: »Sie fragen mich. Fräulein Leavenworth, was das soll? Darauf muß ich Ihnen erwidern, daß kein Einbrecher, kein gedungener Meuchelmörder sich dieses Revolvers zu seiner That bedient und sich dann die Mühe genommen haben würde, denselben nicht nur zu reinigen, sondern auch von neuem zu laden und ihn wieder in das Schubfach zu schließen, aus welchem er ihn genommen hatte.«

      Sie gab darauf keine Antwort; aber ich sah, wie Gryce sich mit einem bedeutsamen Nicken des Kopfes eine Notiz machte.

      »Auch würde es,« fügte der Coroner noch ernster hinzu, »für jemanden, der nicht daran gewöhnt war, zu allen Stunden in Herrn Leavenworths Zimmer aus- und einzugehen, unmöglich gewesen sein, so spät in der Nacht in das Zimmer des Verstorbenen zu gelangen, sich den Revolver von dem Aufbewahrungsorte zu nehmen, das Gemach zu durchschreiten und Herrn Leavenworth so nahe zu schleichen, wie dies laut Feststellung des Thatbestandes geschehen sein muß, ohne ihn zu veranlassen, wenigstens den Kopf nach einer Seite zu wenden. Das kann er nach der Erklärung des Doktors nicht gethan haben.«

      Es war ein furchtbarer Verdacht, und alles blickte auf Eleonore.

      Doch das Aufwallen äußerster Entrüstung that sich nicht bei ihr kund, sondern bei ihrer Cousine; Mary fuhr empört von ihrem Sitze auf, warf einen raschen Blick um sich und öffnete die Lippen, um zu sprechen.

      Eleonore dagegen kehrte sich ihr halb zu, winkte ihr, sich in Geduld zu fassen, und entgegnete mit kalter, berechnender Stimme: »Sie können nicht so unbedingt gewiß sein, daß sich alles zutrug, wie Sie behaupten. Hätte mein Onkel selbst aus irgend einem Anlaß, sagen wir gestern, den Revolver abgefeuert, – was doch sicher möglich, wenn nicht wahrscheinlich ist, – so würden Sie dieselben Resultate beobachtet und dieselben Schlüsse gezogen haben.«

      »Fräulein Leavenworth,« fuhr der Coroner fort, »die Kugel ist aus dem Haupte ihres Oheims entfernt worden!«

      »Ah –«

      »Sie entspricht den im Toilettentisch aufgefundenen Patronen und trägt die Nummer derjenigen, die man bei diesem Pistol gebraucht.«

      Nach diesen Worten ließ sie den Kopf sinken; ihre Augen suchten den Boden, und ihre ganze Haltung drückte die äußerste Entmutigung aus.

      Als der Coroner dies sah, wurde er noch ernster. »Fräulein Leavenworth,« fuhr er fort, »ich habe Ihnen noch einige Fragen bezüglich des vergangenen Abends vorzulegen. Wo haben Sie denselben verbracht?«

      »Allein auf meinem Zimmer.«

      »Sie haben Ihren Onkel und Ihre Cousine noch im Laufe des Abends gesehen?«

      »Nein, mein Herr. Nachdem ich vom Tische aufgestanden war, habe ich niemand mehr gesehen – Thomas ausgenommen,« fügte sie nach kurzer Pause hinzu.

      »Und wie kam es, daß Sie ihn sahen?«

      »Er brachte mir die Karte eines Herrn.«

      »Darf ich nach seinem Namen fragen?«

      »Auf der Karte stand der Name ›Le Roy Robbins.‹«

      Die Sache schien bedeutungslos; aber das plötzliche Zusammenzucken der neben mir sitzenden Dame bewirkte, daß sie mir in Erinnerung blieb.

      »Wenn Sie auf Ihrem Zimmer sind, Fräulein Leavenworth,« fragte der Coroner weiter, »pflegen Sie da Ihre Thür offen zu lassen?«

      Eleonore erschrak, faßte sich aber schnell wieder. »Das ist nicht meine Gewohnheit, mein Herr.«

      »Warum ließen Sie die Thür in der vergangenen Nacht offen?«

      »Es war mir zu warm.«

      »Aus keinem andern Grunde?«

      »Ich bin außer stande, einen anderen anzuführen.«

      »Wann schlossen Sie dieselbe?«

      »Als ich mich zur Ruhe begab.«

      »War das ehe die Dienstboten hinaufgingen oder nachher?«

      »Nachher.«

      »Hörten Sie es, als Herr Harwell das Bibliothekzimmer verließ und sich auf sein Zimmer begab?«

      »Allerdings.«


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