Die Rebellenprinzessin. Anna Rawe
denn bloß machen, wenn du nicht mehr da bist?“, hatte Maggie gefragt, „Physik wird sterbenslangweilig sein ohne dich. Und mit wem soll ich in der kleinen Nische in der Cafeteria sitzen und Hot or not spielen?“ Ich hörte sie neben mir schniefen. In meinen Augen brannten Tränen. „Gott, ich werde dich so vermissen, Ell.“
Ich griff nach ihrer Hand. Fest verschlang ich meine Finger mit ihren. „Ich werde dich auch vermissen, Mags“, flüsterte ich mit zitternder Stimme.
Am nächsten Morgen hatte uns das Taxi zum Flughafen gebracht. „Versprich mir, dass du einmal die Woche anrufst“, hatte ich ihr zugeflüstert, während sie mich umarmte.
„Mindestens“, kam Mags‘ Antwort direkt an meinem Ohr, „Und außerdem sehen wir uns zu Weihnachten schon wieder. Es sind nur vier Monate bis dahin.“
Ich nickte und rang mir ein schiefes Lächeln ab.
„Irgendwie werden wir das schon schaffen“, meinte Maggie so optimistisch wie eh und je.
„Eline? Eline!“ Eine Hand fuchtelte vor meinem Gesicht herum und katapultierte mich zurück an den Tisch. „Hm?“
„Ich wollte bloß wissen, ob du Nachtisch willst?“, fragte Mom, während sie die Teller stapelte, „Wir haben noch etwas Schokoladeneis und Blaubeeren von gestern.“ Wie auf Kommando riss Ced seine Arme in die Luft. „Ich will, ich will, ich will.“
Mom lachte. „Ist ja gut, Ced, du bekommst gleich was. Eline?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein danke, ich bin satt.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln stand ich auf.
„Ich muss noch lernen“, erklärte ich, „Aber Mario’s war eine fantastische Idee. Ihr seid echt die Besten.“
Ced grinste. „Klar sind wir das.“
Kapitel 2
Da war er wieder.
Strahlend blondes Haar und funkelnd blaue Augen, deren Blick sich direkt in mich bohrte. Der Blick, der mir seit Tagen folgte.
Zuerst dachte ich, mein Verstand würde mir Streiche spielen, als ich ihn am Montag nach unserer ersten Begegnung wiedersah. Lässig lehnte er an der Glaswand der Bushaltestelle vor meiner neuen Schule, dieselbe Jeans und denselben durchdringenden Blick. Noch bevor ich realisieren konnte, dass er tatsächlich dort stand, nur einen Steinwurf entfernt, riss ein vorbeifahrender Lastwagen die Haltestelle aus meinem Blickfeld.
Sekunden später waren beide verschwunden. Den Lastwagen erkannte ich ein Stück die Straße hinunter, doch den Typ mit den blauen Augen hatte der Erdboden verschluckt, genau wie an dem Tag im Café.
Ich sah ihn danach noch einige Male – vor meiner Schule, vor dem Café, an einem Samstag in der Mall und ein einziges Mal sogar in der Nähe unseres Hauses. Keine einzige dieser Begegnungen konnte man wirklich als „Begegnung“ bezeichnen. Vielmehr war es ein kurzes Aufblitzen, ein sekundenlanges Erscheinen und das darauffolgende Verschwinden, kaum, dass ich ihn wahrgenommen hatte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt existierte, denn bevor ich jemanden auf ihn ansprechen konnte, hatte er sich wieder in Luft aufgelöst.
Als ich ihn an diesem Nachmittag im Café erneut dort stehen sah, fackelte ich nicht lang. Wenn ich wirklich verrückt wurde, wollte ich jetzt sofort die Bestätigung. Ich ließ alles stehen und liegen und stürmte aus dem Café. Dank der großen Glasfront musste ich ihn dabei nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen lassen.
Jemand schrie meinen Namen, als ich rücksichtslos quer über die Straße rannte. „Evangeline!“
Es war nur ein kurzer Laut, vier Silben, doch aus einem Impuls heraus drehte ich mich um. Carly stand vor dem Café, kreidebleich und fassungslos. „Was um Himmels willen machst du denn da?“
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ihn aus den Augen gelassen hatte, nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Ich wirbelte herum.
Niemand. Er war weg. Die Straße hinauf und abwärts keine Spur von ihm. Ich hatte ihn schon wieder verloren.
„Verdammt.“
Wie konnte ein einzelner Mensch sich so schnell bewegen?
Wurde ich denn tatsächlich verrückt? Halluzinationen gingen doch mehr als weit über meine bisherigen Tagträumereien hinaus.
Aber wie konnte dieser Typ sonst einfach so auftauchen und wieder verschwinden, innerhalb von einem Augenblick?
„Evangeline!“ Atemlos kam Carly neben mir zum Stehen. „Was in aller Welt ist denn passiert? Du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet.“
Stumm schüttelte ich den Kopf. Dann fiel mir ein, dass sie Recht haben könnte. Ich wurde verrückt. Ich begann, Geister zu sehen.
„Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt, weißt du das?“, plapperte Carly inzwischen weiter, „In einem Augenblick sitzt du seelenruhig am Fenster und dann – bam – springst du auf und rennst mitten über die Straße. Dir hätte sonstwas passieren können!“
Ich sah sie an. Carly, die vollkommen echte, sich um mich sorgende Bedienung. Und ich beschloss, dass es reichte, wenn ich allein von diesen seltsamen Begegnungen wusste.
„Es geht mir gut“, sagte ich, „Ehrlich. Es ist … ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen. Eine Verwechslung.“ Mit gehobenen Augenbrauen sah sie mich an. Sie glaubte mir nicht. Zeit für den Rückzug.
„Ach, eigentlich ist es ja auch egal.“ Schulterzuckend drehte ich mich um und wollte gerade die Straße überqueren, als Carly meinen Arm packte.
„Du hast was verloren“, sagte sie und streckte mir einen winzigen Brief entgegen.
Ich schüttelte den Kopf. „Der gehört mir nicht. Lass ihn liegen.“
Doch Carly dachte gar nicht daran. „Natürlich gehört er dir“, protestierte sie, „Es steht schließlich dein Name drauf. Schau.“ Mit einer Handbewegung hatte sie ihn umgedreht und hielt ihn mir so dicht unter die Nase, dass die geschwungenen Buchstaben mich vom Papier aus ansprangen wie wütende Tiger. Evangeline MacKay. Carly hatte recht.
„Ich weiß ja nicht, was du wirklich hier drüben wolltest …“, murmelte sie, „… aber du solltest ihn nehmen. Und wenn du reden möchtest, egal worüber …“ Ihre letzten Worte gingen im Straßenlärm unter.
„Schon okay“, sagte ich und nahm den Brief schließlich doch.
Er brannte auf meiner Haut, ungeöffnet, voller Antworten, die herauswollten, herausmussten. Dieses kleine Stück Papier hatte etwas mit ihm zu tun, da war ich mir sicher. Es bewies, dass ich nicht verrückt war.
Plötzlich war jede Sekunde, die ich hier draußen stand, eine Sekunde zu viel. „Lass uns zurück nach drinnen gehen“, drängte ich ungeduldig. Der Brief brannte und brannte lichterloh in meiner Hand.
Carly kam meinem Vorschlag nur zu gern nach. Die neugierigen Blicke der Gäste und Mitarbeiter des Cafés verfolgten mich, klebten auch Minuten nachdem ich wieder auf meinem Platz am Fenster saß, noch an meinem Rücken. „Eigenartiges Mädchen“, hörte ich sie reden, „Vielleicht geistig verwirrt. Ein Trauma. Hätte draufgehen können. Bei dem Verkehr. Was sie da drüben wollte? Ist einfach so aufgesprungen. Wirklich eigenartig.“
Der Brief lag direkt vor mir. Vorsichtig berührte ich die geschwungenen Buchstaben meines Namens. Alles in mir schrie danach, das Papier zu öffnen, auseinanderzufalten und die Antworten wie eine Landkarte vor mir auszubreiten. Wer war dieser blonde Kerl und woher wusste er, wer ich war? Was wollte er von mir? Wie schaffte er es, innerhalb von Sekunden zu verschwinden?
„Was steht drin?“ Ich hatte nicht bemerkt, dass Carly auf den Hocker neben mir gerutscht war. Erschrocken riss ich den Kopf hoch, fast, als hätte sie mich bei etwas Unerlaubtem ertappt.
Dabei war es nur der Brief, der geheimnisvolle Brief, der meinen Namen trug.