Die Rebellenprinzessin. Anna Rawe
die Nase gegen das kühle Glas gepresst, bis meine Gedanken sich beruhigten.
Es war völlig unmöglich, dass dieser Junge tatsächlich hier gewesen war. Niemand konnte einfach so auftauchen und wieder verschwinden, ohne auch nur den Hauch einer Spur zu hinterlassen. Ich musste halluziniert haben. Gut möglich, dass ich mir in all der Müdigkeit nur etwas eingebildet hatte. Ich seufzte und war bereits dabei, zurück in mein Bett zu kriechen, als mein Blick auf den Brief in meiner Hand fiel. Ich zögerte noch einen Moment, doch die Neugier war überwältigend. Mit einem flauen Gefühl im Magen zerriss ich den Umschlag und faltete den Zettel auseinander. Die wenigen Worte, die in säuberlicher Handschrift das weiße Papier bedeckten, warfen jedoch mehr Fragen auf, als sie beantworteten.
Range Road 35.
Überquere das Feld auf der linken Seite.
Folge dem Weg bis zum Ende.
Dort wirst du Antworten erhalten.
Komm in zwei Tagen. 4 Uhr. Allein.
Frustriert knüllte ich den Zettel zusammen. Ich würde ganz sicher nicht den Anweisungen einer Halluzination folgen. Ich hätte den blöden Brief verbrennen sollen, als ich noch die Gelegenheit dazu hatte. Aber jetzt war es zu spät. Selbst Feuer würde die Worte nicht aus meinen Gedanken treiben können. Wütend stopfte ich den Papierball in die unterste Ecke meines Mülleimers, bevor ich zurück unter die Decke kroch und mir schwor, nie wieder über die Halluzination oder den Brief nachzudenken.
Doch die Stimme des Zweifels sang unbeeindruckt weiter.
Eine Halluzination konnte keine Briefe schreiben. Ein fremder Junge konnte meinen Namen nicht kennen. Kein normaler Mensch konnte sich in Luft auflösen, wann immer es ihm gefiel.
Stöhnend wälzte ich mich auf die andere Seite. Ich wollte nichts weiter, als dass es ein Ende hatte. Wer immer dieser Kerl auch war, ich wollte ihn nie wiedersehen. Ich wollte, dass er mich in Ruhe ließ – egal, ob er nun eine Ausgeburt meiner Fantasie war oder nicht.
Doch meine verfluchte Neugier, die mich schon dazu getrieben hatte, den Brief zu lesen, blieb auch jetzt nicht still. Ich wollte wissen, wer dieser Junge war. Warum er Dinge konnte, die jeder Vernunft widersprachen. Ich wollte Antworten – und dann wollte ich ihm sagen, dass er mich allein lassen sollte. Dass ich ihn kein weiteres Mal irgendwo am Straßenrand sehen wollte – ganz zu schweigen davon, dass er einfach nachts in meinem Zimmer erschien. Nein, damit war er zu weit gegangen.
Was immer diese Sache war, ich würde sie beenden.
*****
Hier war ich also. Die Wipfel der Bäume bewegten sich im Wind, während sie ein schauriges Rauschen von sich gaben. Holz knackte und ab und zu durchdrang der schrille Ruf eines Vogels die Stille. Jedes dieser Geräusche ließ mich zusammenzucken, einen Herzschlag lang den Atem anhalten und mich umsehen. Doch egal, wie oft mein Blick durch die Umgebung schweifte, ich blieb allein zwischen den dunklen Stämmen und Kronen, die über meinem Kopf zusammenwuchsen und den Himmel verdunkelten. Dieser Ort war so verlassen, dass es einem Angst bereiten konnte.
Langsam begann ich mich zu fragen, warum ich überhaupt gekommen war.
Vielleicht war es mir gestern Nacht noch wie eine gute Idee erschienen, die Sache zu beenden, doch mittlerweile war ich nicht mehr so sicher.
Als ich daheim mein Fahrrad aus unserer vollgestellten Garage befreit hatte, hatte ich ihn ein weiteres Mal gesehen. Er hatte auf der anderen Straßenseite am Zaun gelehnt und mich beobachtet, fast so, als wolle er sicherstellen, dass ich den Anweisungen auf dem Zettel folgte. Seitdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich mich in seine Kontrolle begab. Dass ich mich selbst zum Teil eines Plans gemacht hatte, den ich nicht durchblickte
Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste ja nicht einmal, wer er war – ganz zu schweigen davon, was er mit mir vorhatte. Und je länger ich hier stand und wartete, desto mehr machte ich mich zur Zielscheibe – oder etwa nicht?
Erneut warf ich einen Blick auf mein Smartphone. Halb fünf. Ich wartete bereits seit fast einer Stunde und noch immer keine Spur von ihm. Das flaue Gefühl in meinem Magen drängte mich, zu gehen. Was immer all das zu bedeuten hatte, der Junge würde nicht mehr auftauchen. Das hier würde zu nichts mehr führen.
Ein letztes Mal sah ich mich um, ließ meinen Blick über die gesamte Lichtung schweifen. Ich war noch immer allein zwischen den hohen Stämmen. In einem plötzlichen Moment der Wut zerknüllte ich den Brief in meiner Faust.
„Verdammter Dreck“, fluchte ich und warf ihn in den Wald. Dann stapfte ich zurück zu meinem Fahrrad, das an einem der Stämme am Wegesrand lehnte, während mein Fluch noch immer zwischen den Wipfeln der Bäume hallte.
Einige Meter, bevor ich mein Rad erreichte, traf mich der erste Tropfen. Skeptisch wandte ich den Blick zum Himmel. Weitere nasse Perlen benetzen mein Gesicht.
„Na klasse“, schimpfte ich und holte das Rad, „Das hat mir ja gerade noch gefehlt.“
Während ich das Rad den schlammigen Waldweg entlang schob, frischte der Wind merklich auf und aus dem anfänglichen Nieseln wurde ein ausgewachsener Regenguss. Meine dünne Jacke hielt nur einen Bruchteil der Nässe ab, sodass ich mich einmal mehr beeilte, den Wald zu verlassen und nach Hause zu kommen, bevor das Gewitter richtig begann. Der Himmel hatte mittlerweile ein dreckiges Graublau angenommen und Wolken türmten sich über dem Feld am Horizont, als der Weg endlich wieder befahrbar wurde. In der Ferne grollte leise der Donner, während der Schotter unter meinen Rädern spritzte.
Gerade so kriegte ich die Kurve und näherte mich auf der Range Road den ersten Häusern. Es mussten noch anderthalb Kilometer sein, vielleicht auch zwei. Von Weitem erkannte ich das Licht in den Fenstern, irgendwo bellte ein Hund und Schafe blökten. Der Wind frischte auf und riss an meinem offenen Haar, an meiner Jacke. Die dicken Tropfen klatschten mir mitten ins Gesicht, durchweichten meine Jeans innerhalb von Sekunden. Vielleicht würde ich doch irgendwo anhalten müssen, bis das Gewitter vorbei war. Suchend sah ich mich um und entdeckte tatsächlich in einigen hundert Metern Entfernung einen alten Schuppen, etwas abseits auf dem Feld. Wenn ich noch bis dorthin … Eine starke Böe preschte seitlich gegen mein Rad und ich musste alle Kraft aufwenden, damit ich nicht von der Straße abkam. Mein Haar hing in nassen Strähnen in meinen Augen und meine Oberschenkel brannten vor Anstrengung. Ein markerschütterndes Krachen ließ mich zusammenzucken. Das Gewitter kam viel zu schnell näher. Wie konnte … Als ich mich umdrehte, schnappte ich nach Luft. „Heilige …!“
Unter den schwarzen Wolkenbergen bewegte sich etwas auf mich zu. Ich fuhr herum und krallte die Hände noch fester um den Lenker. Mein Atem ging stoßweise, mein Herz schlug mit einem Mal doppelt so schnell. Im Blinzeln zwischen den Tropfen sah ich nur die menschenleere Straße, zu beiden Seiten Felder, kein Baum und kein Strauch, nichts.
„Oh Scheiße! Scheiße, scheiße, scheiße.“ Nach Luft schnappend stieß ich mehr Flüche aus, als in allen siebzehn Jahren meines Lebens zusammen. Als ob das etwas ändern würde. Der Wind riss an mir, heulte und fauchte in meinen Ohren, prallte gegen das Rad und brachte mich zum Schlingern. Ich trat noch heftiger in die Pedale, schaltete in den höchsten Gang, begann, vor Anstrengung zu keuchen. Ich wusste, er war irgendwo hinter mir. Ein wirbelnder, dunkler Trichter aus Wind und Staub und Kraft. Ich trieb mich weiter an. Schneller. Bloß nicht umsehen. Da vorn war die Scheune. Ein kleiner schwarzer Punkt auf dem Feld. Nur noch ein paar hundert Meter. Ein paar Minuten. Meine Muskeln schmerzten, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Aber ich durfte nicht anhalten. Nicht jetzt. Regentropfen hagelten wie Geschosse auf mich nieder, Grashalme schnitten über meine Haut. Ein Blick nach vorn. Noch zweihundert Meter. Der Zweig kam wie aus dem Nichts. Ich hörte nur noch ein Klappern, ein Knacken, als das Holz brach und das Rad mit einem Schlag zum Stehen kam. Ich spürte, wie das Hinterrad in die Luft stieg und hörte mich schreien, streckte die Arme instinktiv nach vorn, verlor den Halt. Mein Körper prallte auf den Asphalt. Blieb liegen. Scharfer Schmerz durchzuckte mich und ich riss die Augen auf, drehte den Kopf, sah mich um, sah ihn, sah die Scheune, das Tor … Mit aller Kraft stand ich auf. Adrenalin jagte durch meine Adern wie knisternder, blitzender Strom und ich begann zu laufen. Meine Füße sanken in den Schlamm, klebten